Wolken über Karlsruhe
“Wir sind das Bundesverfassungsgericht!” An diesen Spruch muss sich jede neue Richter_in gewöhnen, die im Karlsruher Schlossbezirk ihr Amt antritt. Das institutionelle Selbstbewusstsein ist habituell enorm, gepäppelt von jahrzehntelanger, geradezu kanonischer Verehrung der Bevölkerung und gestählt in vielen gewonnenen Konflikten mit verschiedenen Regierungsmehrheiten. Dem Verfassungsgericht kann niemand. Wer sich mit ihm anlegt, der legt sich mit dem Grundgesetz an, und den Kampf kann niemand gewinnen.
Wirklich?
Beim Jahrespresseempfang des Bundesverfassungsgerichts heute war eine deutlich andere Stimmung zu erleben: nachdenklich, besorgt, regelrecht verunsichert. “Manches, an das wir uns gewöhnt haben, ist nicht mehr selbstverständlich”, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. “Der Firnis der Zivilisation ist dünn geworden.”
Die Sorge gilt zunächst der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit generell in Europa. Die Entwicklung in Polen haben die Bundesverfassungsrichter_innen genau verfolgt. Im Oktober waren drei von ihnen bei einer Tagung in Warschau eingeladen, offenbar eine gespenstische Erfahrung. Polen, Ungarn, Tschechien, Türkei, Bulgarien, Rumänien, auch Spanien: Wir könnten “am Anfang einer Entwicklung” stehen, so Voßkuhle, in der die “Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt in Frage steht”. Die Zeiten, da sich das Gericht auf das Abarbeiten der anfallenden Verfahren konzentrieren konnte, sind vorbei: Allzu viel könne man zwar nicht tun, um den Kolleg_innen in Polen und anderswo zu helfen, heißt es, aber was man tun könne, wolle man tun: Vorträge halten, Interviews geben, informelle Kontakte pflegen, um das Bewusstsein für die Notwendigkeit verfassungsgerichtlicher Kontrolle zu stärken und Präsenz zu zeigen.
Benimm-Kodex für Ausgeschiedene
Die Sorge gilt indessen nicht nur dem Schicksal anderer Verfassungsgerichte, sondern durchaus auch der eigenen Zukunft. Verfassungsgerichte können Urteile fällen, aber Gehorsam erzwingen, das können sie nicht. Sie sind abhängig davon, respektiert zu werden in der Politik und in der Gesellschaft. Wie kontingent und vergänglich dieser Respekt ist, wie schnell er verloren gehen kann, dessen ist man sich in Karlsruhe so bewusst wie nie. Die turbulenten Zeiten, da in Berlin die Unionsfraktion, der Finanzminister und der Bundestagspräsident mit vereinten Kräften auf das Bundesverfassungsgericht und seinen Präsidenten Voßkuhle einprügelten, sind zwar vorbei, aber nicht vergessen. Dass der Gesetzgeber in Berlin mit gezielten Änderungen am Bundesverfassungsgerichtsgesetz dem Karlsruher Gericht das Leben richtig schwer machen könnte, weiß man sehr genau. Was eine andere Mehrheit dereinst mal anzurichten bereit sein könnte, ebenfalls. Polen ist nicht so weit weg.
Eine Neuigkeit, die Voßkuhle zu verkünden hatte, war der Plan, einen Ethik-Kodex zu formulieren – eine Selbstverpflichtung des Gerichts, die regelt, wie sich Richter_innen insbesondere nach ihrem Ausscheiden zu verhalten haben. Konkrete Anlässe nannte Voßkuhle nicht, doch die waren nicht schwer zu erraten: die gut bezahlte Gutachtertätigkeit, mit der so mancher Ex-Richter sein am Gericht erworbenes Renommee in bare Münze umwandelt und politische Präferenzen seiner Auftraggeber mit dem Firnis quasi-verfassungsrichterlicher Autorität versieht, beispielsweise. Der Fall der Ex-Richterin Christine Hohmann-Dennhardt mit ihrem VW-Vorstandsmandat samt goldenem Fallschirm in achtstelliger Höhe war zwar nicht Anlass für die Ethik-Pläne, da bei seinem Bekanntwerden die vierköpfige Arbeitsgruppe am Gericht schon zu tagen begonnen hatte, eignet sich aber natürlich ebenfalls gut als Diskussionsmaterial.
Wann diese Arbeitsgruppe mit dem Kodex fertig sein wird, ist noch offen – ebenso, was drinstehen wird. Es wird nicht nur um das Verhalten nach dem Ausscheiden gehen, sondern auch um Nebentätigkeiten während der Amtszeit. Nicht allen Richter_innen dürfte es leicht fallen, sich ihre gewohnten richterlichen Unabhängigkeiten auf diese Weise beschneiden zu lassen – auch wenn es sich mehr um einen Orientierungsrahmen als um durchsetzbare Regulierung handeln wird: Es gibt keine Dienstaufsicht über das Bundesverfassungsgericht und wird auch künftig keine geben.
Personalkarussell am Ersten Senat
Für Verunsicherung sorgt auch, dass im Ersten Senat drei der acht Richterposten bis Mitte nächsten Jahres neu besetzt werden müssen. Richter Wilhelm Schluckebier wird Ende des Jahres aus Altersgründen ausscheiden, im Frühjahr 2018 läuft die Amtszeit von Richter Michael Eichberger aus, und im Juni erreicht Vizepräsident Ferdinand Kirchhof die Altersgrenze.
Die letzte Personalie ist besonders wichtig, weil Kirchhofs Nachfolger 2020 nach Voßkuhles Ausscheiden der nächste Präsident des Bundesverfassungsgerichts sein wird. Aber auch die anderen beiden werden interessant. Der neu gewählte Bundestag wird es kaum schaffen, Schluckebiers Nachfolger rechtzeitig zu wählen, so dass dieser wohl besser keine Kreuzfahrt buchen sollte als Start in den wohl verdienten Ruhestand – es könnte gut sein, dass er noch eine Weile länger arbeiten muss.
Generell kommt es im ohnehin als eher liberal geltenden Ersten Senat darauf an, die Balance nicht noch weiter nach links zu schieben. Nichts fürchtet man in Karlsruhe mehr, als wie der US Supreme Court als politisch gelabelt wahrgenommen zu werden – ein sichereres Rezept für den Autoritätsverlust. Eichbergers Nachfolger wird vom Bundesrat gewählt, und dort werden sich wohl die Grünen mit ihrer Sperrminorität ausbedingen, bei der Auswahl ein Wörtchen mit zu reden. Kirchhofs Posten wird dagegen von der Union besetzt. Ob deren Rechtspolitiker im Bundestag (ein Bier für jeden, der ohne Google auch nur einen von ihnen beim Namen zu nennen weiß) in der Lage sein werden, eine hinreichend kompetente, durchsetzungsstarke und leidensfähige Staatsrechtsprofessor_in ausfindig zu machen, die obendrein zum Präsidentenamt taugt und – besonders wichtig – sich nach ihrer Wahl von ihren politischen Verpflichtungen gegenüber denen, die ihr zu ihrem Amt verholfen haben, freizumachen weiß? Wir werden sehen.
Natürlich ist der Fall Hohmann-Denhardt problematisch, aber auf ihn, wie oben angedeutet, mit Beschränkungen für Richter im Ruhestand zu reagieren wäre grundfalsch, würde das Gehaltsgefälle von öffentlichem Dienst und Führungspositionen in der Wirtschaft noch vertiefen.
Welch garstiger Seitenhieb auf die aktuellen Rechtspolitiker_innen ;-)
“Ob deren Rechtspolitiker im Bundestag (ein Bier für jeden, der ohne Google auch nur einen von ihnen beim Namen zu nennen weiß)”
Stell schon mal ein Augustiner kalt oder gilt das Angebot nicht für Insider?
Ein solcher Kodex wäre auch aus umweltpolitischer Sicht eine gute Sache, dürfte er doch u.a. die rohstoffintensive Papier-Produktion eindämmen.
“eine hinreichend kompetente, durchsetzungsstarke und leidensfähige Staatsrechtsprofessor_in” – Es gab auch am BVerfG Zeiten, in denen hinreichend kompetente, durchsetzungsstarke und leidensfähige Zivilrechtsprofessoren tätig waren und das hat dem Gericht nicht geschadet. Wäre es angesichts der durchgehenden Konstitutionalisierung der Rechtsordnung nicht an der Zeit, eine hinreichend kompetente, durchsetzungsstarke und leidensfähige Zivilrechtsprofessor_in zu wählen und die – Verzeihung – staatsrechtliche Binnenperspektive mit etwas mehr Diversität aufzulockern? Das würde dem Gericht vielleicht gut tun
@Michael Grünberger: spricht nichts dagegen im Prinzip, aber wen haben Sie da im Auge? Brox?
@MS: *räusper* Jutta Limbach?
@Schorsch: point taken. Hatte ich ganz vergessen, aber stimmt natürlich. Leuchtenden Gedenkens.
@MS: “Die letzte Personalie ist besonders wichtig, weil Kirchhofs Nachfolger 2020 nach Voßkuhles Ausscheiden der nächste Präsident des Bundesverfassungsgerichts sein wird.”
Öhm. Da gibt es noch ein Wahlverfahren dazwischen, vgl. § 9 BVerfGG.
***gelöscht, d.Red.***
@Populist: Das sind schwere Anschuldigungen, die Sie da gegenüber Herrn Voßkuhle formulieren. Sie sprechen von Rechtsbeugung, und das ist, wie Sie sicher wissen, ein Verbrechen. Ich fordere Sie auf, Ihren Klarnamen zu nennen und diese Anschuldigung zu substantiieren, damit wir uns hier mit Ihnen als jemandem, der für seine Positionen gerade steht, juristisch auseinandersetzen können. Wenn Sie das nicht wollen oder können, werde ich Sie sperren.
Update 24.2., 14:00 Da Sie auf meine Aufforderung nicht reagiert haben, habe ich Ihren Kommentar gelöscht und sperre Sie als Kommentator auf dem Verfassungsblog.
Ad Ethik-Kodex:
Ich finde das schwierig, ausgesprochen schwierig, weil damit etwas festgeschrieben werden soll, was “Anstand” ist. Aber Anstand zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er NICHT kodifiziert ist. Diese Initiative könnte zum Eigentor werden, fürchte ich.
Ich denke mir “Hm, der Artikel könnte interessant sein”, beginne zu lesen, stoße mich im Lesefluß und mental am bescheuerten Genderquatsch und habe spontan schlicht keine Lust mehr auf den weiteren Textkonsum. Nur mal so als Feedback
Eine Regelung von Tätigkeiten neben oder nach dem Amt als Richter kann sinnvoll sein. Nur ist meines Erachtens das BVerfG selbst keinesfalls dazu berufen, eine solche Regelung aufzustellen. Und das gilt unabhängig davon, ob dieser der Charakter einer Empfehlung oder eines Rechtssatzes gegeben wird. Für die Aufstellung eines Rechtssatzes fehlt die Normsetzungskompetenz. Aber auch eine Empfehlung beeinträchtigt die richterliche Unabhängigkeit.
Der Gesetzgeber ist hier gefragt. Und er wird die Last des Regelungsauftrags auch nicht durch eine “Empfehlung” der Richter des BVerfG los.
Bin seit langem ein großer Fan des Bundesverfassungsgericht (“Fan” hört sich hier seltsam an, ich weiß, trifft es aber). Ich bin sicher, der größte Feind der neorechten und totalitären Bewegung ist nicht der Linke sondern der Verfassungspatriot.
Wie Herr Grünberger ja schon angedeutet hat, sollte man für mehr Diversität am BVerfG sorgen. Neue Richter werden heute in den allermeisten Fällen aus einem kleinen und relativ homogenen Kreis rekrutiert, namentlich aus dem renommierter Staatsrechtsprofessoren.
Die Professoren, die für diesen Job in Frage kommen, wissen idR um ihre mögliche Chance. Das wiederrum beeinflusst ihr Verhalten als Wissenschaftler. Ein Staatsrechtsprof, für den die Ernennung zum BVerfG-Richter die höchste Ehre darstellt, wird sein wissenschaftliches Handeln nicht selten (zumindest unbewusst) daran ausrichten, sich seine Chance auf Richterernennung ja nicht zu verderben. Gerichts- und insbesondere Politikkritik wird man da nur in Maßen erwarten dürfen.
Die Herrschaft der Staatsrechtslehrer beeinflusst nicht nur das Verhalten der alteingesessen Professoren, sondern auch das der Nachwuchswissenschaftler. Die BVerfG-Richter und Professoren in Personalunion sitzen in den Berufungskommissionen der Unis und entscheiden so darüber, welcher Nachwuchswissenschaftler denn auch mal in den Genuss kommen darf, Professor zu werden. Da die Ernennung auf eine Professur für den Nachwuchs nichts weniger als eine Frage existentiellen Ausmaßes ist, wird sich dieser daher mit Kritik am BVerfG zurückhalten; man kritisiert schließlich mittelbar auch deren Richter und somit die möglichen Mitglieder zukünftiger Berufungskommissionen.
Alles in allem sollte man also den Kreis der möglichen Kandidaten erheblich vergrößern. Professoren aus anderen Fachgebieten, mehr Instanzrichter, ebenso wie Anwälte sollten als Bewerber in Frage kommen.
Neben Brox wäre u.a. auch Dieterich zu nennen. Gerade Arbeitsrechtler sind aufgrund der besonderen Nähe des Arbeits- zum Verfassungsrecht prädestiniert dafür, mehr zivilrechtliche Kompetenz in Karlsruhe zu verankern.
Dieterich war freilich Richter-Richter (und Honorarprofessor). Zivilrechtliche Praktiker sind ja keine Seltenheit (Hermanns, Kessal-Wulf, bis vor Kurzem Gaier) – und vermutlich für eine aufgabengerechte Besetzung des Gerichts auch viel plausibler als Zivilrechtswissenschaftler.
Dass eine höhere Diversifizierung der Besetzung des Gerichts einfach auf mehr Zivilrechts- und weniger Staatsrechtsprofs hinauslaufen soll, ist ohnehin merkwürdig. Zwar waren die letzten Präsident_innen Hochschullehrer, aber das war nicht immer so und ist auch nicht besonders naheliegend. Diejenigen von ihnen, die den Spagat zwischen Repräsentation eines Verfassungsorgans und richterlicher Zurückhaltung nach meinem Eindruck am besten hinbekommen haben, hatten jedenfalls auch Erfahrung mit politischen Ämtern.
Richtig, Dieterich war Richter-Richter. Aber einen Zivilrechtswissenschaftler gab es noch am Verfassungsgericht: Konrad Zweigert. Ob Prakiker “plausibler” sind, würde ich nicht allgemein beantworten. Das kommt doch sehr auf die Persönlichkeit an. Ein wissenschaftlich fundiert arbeitender Praktiker ist da genauso gut geeignet wie ein Wissenschaftler, dessen Forschungstätigkeit Praxisbezug aufweist.
Ah, Zweigert hatte ich nicht auf dem Schirm. Zivilrechtspraktiker kennen eben den Zivilprozess als Teilnehmer und die kontrollierten Institutionen von innen. Dass es sie gibt (und dass das durch die Richterquote in § 2 III BVerfGG einigermaßen sichergestellt wird), ist von kaum zu überschätzender Bedeutung. Und selbstverständlich muss das Bundesverfassungsgericht auch die seinen Fällen zugrundeliegende zivilrechtliche Dogmatik verstehen. Aber das Gericht ist eben nicht mit der Entwicklung zivilrechtlicher Dogmatik betraut, sondern betreibt selbst nur verfassungsgerichtliche Dogmatik. Aber Sie haben Recht: “Allgemein beantworten” will ich überhaupt nichts.
Für ein deutliches Mehr an Diversität hielte ich ja doch mal einen Anwalt (oder eine Anwältin). Muss ja nicht gleich der Vizepräsidentenposten sein. Gab es da außer Henschel eigentlich schon mal jemanden?
Es gab einige, die zumindest irgendwann zuvor (wenn auch nicht unmittelbar vor Ernennung) als Anwalt gearbeitet hatten. Bei den Rechtsanwälten bin ich skeptisch. Erstens ist es wohl schwierig, die wirklich guten Anwälte ans BVerfG zu locken, da dies mit massiven Vergütungseinbußen verbunden ist. Zweitens bin ich mir gar nicht sicher, ob die rechtsanwaltliche Perspektive am BVerfG überhaupt eine große Rolle in den Beratungen und Entscheidungen einnehmen könnte. Wissenschaftlichkeit und Erfahrungen in der Justiz scheinen mir da wesentlich wichtiger zu sein.
Vergütungseinbußen?! Ach was, Frau Hohmann-Dennhardt hat doch vorgemacht, wie man anschließend den Nimbus des öffentlichen Amtes in privaten Wohlstand ummünzen kann…
Sollten wir vor der Frage, ob mehr fachliche Diversität auf der Richterbank angebracht ist oder/und ein Rechtsanwalt nach Karlsruhe gelotst werden könnte, nicht zunächst eine Vorfrage klären: Wie stellen wir uns die idealtypische Richterpersönlichkeit am BVerfG vor? Über welche Eigenschaften sollte der Kandidat (m/w) verfügen (wichtig: nicht vom Sein auf das Sollen schließen!)?
Das ist wohl aus der Funktion des Richters und damit auch der Funktion des Bundesverfassungsgerichts selbst zu ermitteln. Das BVerfG ist als höchste Instanz der Rechtsfindung nicht bloßes Gericht, sondern auch (und in höherem Maße als der BGH) politisches Organ.
Die Eignung des Richters bemisst sich deshalb wohl nicht nur nach juristischer Exzellenz, sondern auch nach der Fähigkeit zu Kommunikation und Meinungsmoderation nach innen wie nach außen. Oder gilt Letzteres vielleicht nur für den Vorsitzenden?
Eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu liefern erfordert wohl mehr als einige Zeilen Geschreibsel. Ich traue mir das an dieser Stelle in kurzer Zeit auch nicht zu.
Um dennoch einen Impuls zu geben: Ich halte unter den Staatsrechtslehrern Friedrich Schoch für eine Person, die sich durch ein nicht ideologisch geprägtes Denkmuster bei gleichzeitiger Lebensnähe auszeichnet. Das halte ich für eine gute Mischung!