23 December 2014

Zellhaufen, Embryo, Mensch? Die jüngste Entscheidung des EuGH zu Stammzell-Patenten

Manipulierte menschliche Eizellen, aus denen nach einigen Tagen der Entwicklung Stammzellen gewonnen werden, sind nicht patentierbar. Dies schien die Linie des Europäischen Gerichtshof seit der richtungsweisenden Entscheidung Brüstle v. Greenpeace von 2011 zu sein. Doch jetzt hat der Gerichtshof in Luxemburg seine Rechtsprechung in einem wichtigen Punkt präzisiert, wenn nicht gar korrigiert. So genannte Parthenoten, so der EuGH in seinem jüngsten Urteil International Stem Cell Corporation, sind (doch) keine menschlichen Embryonen! Deshalb können biotechnologische Erfindungen, welche die Verwendung von Parthenoten zum Gegenstand haben, patentiert werden.

Parthenoten sind unbefruchtete Eizellen, welche durch chemisch-elektrische Aktivierung in einen Prozess embryonalähnlicher Entwicklung eintreten. Der Begriff des Parthenots leitet sich vom griechischen parthenos (Jungfrau) ab. Seine Verwendung verweist darauf, dass die aktivierte weibliche Eizelle, der Parthenot, nicht durch männliche Samenzellen befruchtet wird. Sie beginnt sich also gleichsam „jungfräulich“ zu teilen und weiter zu entwickeln.

Wären Parthenoten menschliche Embryonen i.S. des EU-Biopatentrechts, dürften biotechnologische Erfindungen, welche die Verwendung menschlicher Parthenoten zum Gegenstand haben, nicht patentiert werden. Denn nach Art. 6 Abs. 2 lit. c Richtlinie 98/44/EG „gelten unter anderem als nicht patentierbar: … die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken“. Auf Vorlage des BGH im Verfahren Brüstle v. Greenpeace setzte der EuGH Parthenoten in der Tat mit „menschlichen Embryonen“ i.S. von Art. 6 Abs. 2 lit. c Richtlinie 98/44/EG explizit gleich (Urt. v. 18.10.2011, Rs. C- 34/10 – Brüstle).

Im vorliegenden Urteil ging es um zwei von der International Stem Cell Corporation (ISCO) angemeldete Patente. Beansprucht wurden zum einen Verfahren zur Herstellung von Stammzellen aus Parthenoten und gemäß diesen Verfahren hergestellte Stammzellen, zum anderen Verfahren zur Erzeugung von Hornhaut aus Stammzellen, die wiederum aus Parthenoten gewonnen wurden, und gemäß diesen Verfahren hergestellte Hornhaut. Mit Rücksicht auf das Brüstle-Urteil des EuGH aus dem Jahr 2011 lehnte das britische Patentamt 2012 beide Patentanmeldungen ab. Hiergegen richtete sich die Klage von ISCO vor dem englischen High Court of Justice. Jenes Gericht legte dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren die Auslegungsfrage vor, ob Parthenoten, weil und soweit sie gerade nicht fähig sind, sich zu einem Menschen zu entwickeln, „menschliche Embryonen“ gemäß Art. 6 Abs. 2 lit. c Richtlinie 98/44/EG darstellen.

Abweichend vom Brüstle-Urteil verneint der EuGH nunmehr diese Frage: Parthenoten seien keine „menschlichen Embryonen“ nach Art. 6 Abs. 2 lit. c Richtlinie 98/44/EG, freilich nur unter der Bedingung, dass „sie als solche im Lichte der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht die inhärente Fähigkeit [haben], sich zu einem Menschen zu entwickeln“.

An dieser Antwort sind gleich mehrere Punkte bemerkenswert.

Der EuGH stellt ausdrücklich auf die „inhärente Fähigkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln“ ab. Im Brüstle-Urteil reichte seinerzeit noch, dass die jeweilige Zelle bzw. der jeweilige Organismus „geeignet ist, den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen“. Damit schien es dem EuGH lediglich darauf anzukommen, dass die betreffende Zelle bzw. der betreffende Organismus wenigstens erste Entwicklungsschritte – parallel jenen einer befruchteten Eizelle – gehen kann. Auf die Fähigkeit, dabei ein bestimmtes Entwicklungsstadium zu erreichen, kam es dem EuGH offenbar nicht an. An dieser Stelle präzisiert der EuGH nun seine Rechtsprechung: Der (patentrechtliche) Begriff des „menschlichen Embryos“ setzt die „inhärente Fähigkeit“ voraus, ein bestimmtes Entwicklungsstadium, nämlich das des „Menschen“ zu erreichen.

Mit dieser Präzisierung geht eine Korrektur des Brüstle-Urteils einher. Nach Darstellung des EuGH lag schon dem Brüstle-Urteil – freilich unausgesprochen – die Vorstellung zugrunde, dass eine Zelle bzw. ein Organismus, um den Tatbestand des „menschlichen Embryos“ zu erfüllen, „zwingend die inhärente Fähigkeit haben muss, sich zu einem Menschen zu entwickeln“. Diese Entwicklungsfähigkeit bejahte der EuGH seinerzeit im Brüstle-Urteil aufgrund der „beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen“ ausdrücklich (auch) für Parthenoten. Jetzt verweist der EuGH dagegen auf die dem englischen Gericht vorliegenden „wissenschaftlichen Erkenntnisse[..]“, welche „von allen Beteiligten geteilt [würden], die beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht haben“. Danach seien Parthenoten „nicht geeignet …, den Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, der zur Entstehung eines Menschen führe“. Diese für den EuGH offenbar neue Erkenntnis darf das vorlegende Gericht seiner Entscheidung zugrunde legen.

Wissenschaftsgläubigkeit des EuGH

Denn in Zukunft will nicht mehr der EuGH selbst, vielmehr sollen die nationalen Gerichte beurteilen, ob Zellen bzw. Organismen die „inhärente Fähigkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln“, haben. Dazu müssen die nationalen Gerichte „im Lichte der [jeweils] gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ prüfen, ob eine solche Entwicklungsfähigkeit vorliegt. Damit klammert sich der EuGH an wissenschaftliche Erkenntnis, die sich gerade auf den Gebieten der Entwicklungsbiologie und der stammzellbasierten Medizin aber rasant fortentwickelt. Das Risiko dieser Anknüpfung des (Patent-)Rechtsbegriffs des „menschlichen Embryos“ an den Stand der biologischen und medizinischen Wissenschaften besteht darin, dass wissenschaftliche Erkenntnisfortschritte zu Korrekturen bei der (patentrechtlichen) Statusbestimmung von Zellen bzw. Organismen als unverfügbare „menschliche Embryonen“ zwingen können. Dieser Status wird vom EuGH in einen Ableitungszusammenhang mit der Menschenwürde gestellt, also mit einem normativen Fundamentalkonzept, dem jederzeitige Korrekturen je nach momentanem Erkenntnisstand der Wissenschaft eher zuwiderlaufen.

Mit dem Kriterium der „inhärenten Fähigkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln“, verbinden sich neue Fragen, welche der EuGH offen lassen konnte, aber nationale Gerichte zu weiteren Vorlagen veranlassen könnten. Offenbar muss die Entwicklungsfähigkeit auf ein bestimmtes zu erreichendes Ziel gerichtet sein: den „Menschen“. Deshalb stellt sich die Frage, ab wann ein Organismus bereits ein „Mensch“ ist. Da Parthenoten sich noch in die Gebärmutter einnisten können, beginnt das Sein als „Mensch“ nach Auffassung des EuGH offenbar nicht schon mit der Nidation. Sonst käme ihnen gerade die Fähigkeit zu, sich zu einem „Menschen“ zu entwickeln. Aus Sicht des EuGH dürfte vom „Menschen“ wohl erst ab Geburt die Rede sein. Denn für den EuGH ist bei der Auslegung des Begriffs des „menschlichen Embryos“ die Entwicklungsfähigkeit der „befruchteten menschlichen Eizelle“ leitend. Die spezifische Finalität der Entwicklungsfähigkeit jener Entität aber ist, sich bis zur (Lebend-)Geburt eines Menschen zu entwickeln.

Zugleich verdeutlicht der vom EuGH gewählte Wortlaut des Kriteriums der „inhärenten Fähigkeit, sich zu [sic!] einem Menschen zu entwickeln“, dass der Gerichtshof offenbar zwischen „menschlichen Embryonen“ einerseits und „Menschen“ andererseits unterscheiden möchte: Embryonen entwickeln sich nicht „als“ Menschen, sondern „zu“ einem Menschen.

Innere und äußere Bedingungen der Entwicklungsfähigkeit?

Ferner wirft das Kriterium der „inhärenten Fähigkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln“, die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen die „Fähigkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln“, einer Zelle bzw. einem Organismus „inhärent“ ist. Selbst eine befruchtete Eizelle, welche für den EuGH den Auslegungsmaßstab für den (patentrechtlichen) Begriff des „menschlichen Embryos“ bildet, bedarf gewisser äußerer Bedingungen, um sich zu einem Menschen zu entwickeln. Die Entwicklung einer Zelle bzw. eines Organismus zum Menschen setzt also gewisse innere, der Zelle bzw. dem Organismus innewohnende Bedingungen sowie bestimmte äußere, als Umwelt- bzw. Umgebungsvoraussetzungen hinzutretende Bedingungen voraus. Damit stellt sich die Frage, welche äußeren Bedingungen zu den inneren Bedingungen hinzugedacht werden dürfen, damit noch eine als „inhärent“ verstandene Entwicklungsfähigkeit angenommen werden kann.

Mit dem Kriterium der „inhärenten Fähigkeit, sich zu einem Menschen zu entwickeln“, kehrt der EuGH in gewohnte Denkmuster der Statusdiskussion um den menschlichen Embryo zurück. Entscheidende Fragen der in Ethik und Recht geführten Debatte um den Embryobegriff schneidet der EuGH aber nicht an. Für die patentrechtliche Praxis und die Stammzellforschung gilt: Erfindungen, deren Ausführung die Verwendung von Parthenoten voraussetzt, bleiben jedenfalls bis auf weiteres patentierbar. Das gibt der Stammzellforschung wichtige extrinsische Anreize und nährt die Hoffnung, dass vor allem schwere, bislang unheilbare Krankheit eines Tages doch behandelt werden können.


2 Comments

  1. Peter Camenzind Tue 23 Dec 2014 at 18:57 - Reply

    Ohne genaue Urteilskenntnisse oder medizinische Kenntnisse:
    In Deutschland darf man eine Schwangerschaft mit einem selbstständig nicht lebensfähigen Embryo, meiner Kenntnis nach, grds. rechtens ohne weitere Verwendung des Embros abbrechen.
    Warum sollte man einen solchen Embryo dann nicht eventuell sogar besser noch lebenserhaltend etc. rechtens zu medizinischen Zwecken verwenden dürfen?
    Warum dies dann nicht ebenso entsprechend eventuell mit einem (doch grds. unbefruchteten und daher kaum selbstständig lebensfähigen) Parthenoten?
    Warum sollte eine solche Verwendung, bei mangelnder selsbständiger Lebensfähigkeit, dann nicht grds. patentierbar sein können?

  2. Peter Camenzind Wed 24 Dec 2014 at 05:04 - Reply

    Gemeint war, dass man eine Schwangerschaft mit einem nicht entwicklungsmöglich selbstständig lebensfähigen (“behinderten”) Embryo rechtens abbrechen könnte o.ä

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