26 February 2010

Zensursula: Cry wolf, Kollege Stadler

Das  Zugangserschwerungsgesetz aka ZENSURSULA ist in Kraft getreten, soll aber nach dem Willen der Bundesregierung bis auf weiteres nicht angewandt werden. Das BKA hat nach dem Gesetz Sperrlisten zu erstellen, tut es aber auf Anweisung der Regierung nicht.

Nun könnte man, wenn man sowieso gegen das Gesetz ist, sagen: Ist doch prima.

Sehr viele sind gegen das Gesetz, mit guten Gründen. Aber sie regen sich nur noch mehr auf, so beispielsweise der Kollege Stadler: Dass das Gesetz ins Leere läuft, ist in seinen Augen

der eklatanteste Verfassungsbruch den dieses Land bisher gesehen hat. Denn eine Regierung, die sich weigert Gesetze anzuwenden, stellt die parlamentarische Demokratie als solche in Frage.

Huiuiui. Der ruft da nichts weniger als den Verfassungsnotstand aus. Weil das BKA nicht tut, was Zensursula ihm befiehlt.

Jetzt mal langsam und der Reihe nach. Die vollziehende Gewalt ist an Gesetz und Recht gebunden, heißt es in Art. 20 III GG. Das heißt, die vollziehende Gewalt darf nichts tun, was nicht kraft Parlamentsgesetz in ihren Aufgabenbereich fällt und wozu sie nicht kraft Parlamentsgesetz die Befugnis hat. Im Regelfall vollzieht die vollziehende Gewalt, deswegen heißt sie ja vollziehende Gewalt. Sie vollzieht und greift dabei in unsere Freiheits- und Teilhaberechte ein, und deshalb muss dieser Vollzug an die demokratisch legitimierte Gesetzgebung zurückgebunden bleiben.

Aber wenn sie gerade nicht vollzieht? Sondern vielmehr unterlässt, zu vollziehen?

Wer genau wird in seinen Freiheits- oder Teilhaberechten verletzt, wenn das BKA von seiner Befugnis, Sperrlisten zu erstellen, keinen Gebrauch macht?

Mit anderen Worten: Wer klagt?

Niemand klagt. Nicht, dass es nicht ginge. Wenn hier tatsächlich eine Verletzung der Rechte des Parlaments im Raum stünde, dann könnte jeder einzelne Abgeordnete in Karlsruhe einen Organstreit mit der Regierung vom Zaun brechen. Wohlgemerkt: Man müsste die Nichtanwendung des Gesetzes angreifen, also das Unterlassen der Erstellung von Sperrlisten. Wer soll das denn machen? Peter Gauweiler vielleicht?

Dass die Regierung ihre obskuren politischen Gründe hat, die Nichtanwendung des Gesetzes dessen Aufhebung vorzuziehen, weiß ich auch, ich bin ja nicht naiv. Aber das ist ein Skandal von einer anderen Preisklasse als der von Stadler beschrieene Verfassungsbruch und Angriff auf die parlamentarische Demokratie.

Nur der Vollständigkeit halber: Mit Nichtanwendungserlässen, wie wir sie aus dem Steuerrecht kennen, hat das übrigens nichts zu tun. Da geht es darum, die Finanzverwaltung anzuweisen, keine abstrakten Schlüsse aus BFH-Urteilen zu ziehen, die ohnehin nur inter partes (zwischen den am Prozess konkret beteiligten Parteien) gelten. Das ist auch nicht besonders schön, aber ein komplett anderes Thema.


14 Comments

  1. Stadler Fri 26 Feb 2010 at 14:44 - Reply

    Lieber Herr Kollege Steinbeis,

    vielleicht verstehe ich Ihre Ausführungen einfach auch nicht, aber was haben Sie an meinem Beitrag inhaltlich auszusetzen? Ist die Verwaltungsanweisung der Bundesregierung, ein Gesetz nicht anzuwenden, Ihrer Meinung nach rechtlich nicht zu beanstanden? Steht es der vollziehenden Gewalt also frei, die Gesetze anzuwenden?

    Schöne Grüße
    Thomas Stadler

  2. St. Ivo Fri 26 Feb 2010 at 15:11 - Reply

    Nach dem Gesetz hat das BKA aber erst einmal nur zu prüfen, ob “zulässige Maßnahmen, die auf die Löschung des Telemedienangebots abzielen, nicht oder nicht in angemessener Zeit erfolgversprechend sind” (§ 1 II S. 1 ZugErschwG). Man wird das Gesetz dahin auslegen müssen, dass dafür auch eine angemessene Prüfungsfrist zur Verfügung steht. Allenfalls danach könnte eine “Verpflichtung” zur Erstellung der Sperrliste eingreifen.

  3. Peter Lohhammer Fri 26 Feb 2010 at 15:51 - Reply

    “Weil das BKA nicht tut, was Zensursula ihm befiehlt.”

    Das ist eben gerade nicht der Punkt. Statt den Unsinn einfach aufzuheben, was ja problemlso ginge, befiehlt vielmehr die Regierung dem BKA, nicht das zu tun, was es nach bestehender Gesetzeslage tun müsste. Und das, da stimme ich Kollege Stadler zu, ist nun wirklich nicht gerade eine rechtsstaatliche Nummer.

  4. Max Steinbeis Fri 26 Feb 2010 at 16:27 - Reply

    SOLLTE die Regierung darauf hinwirken, das Gesetz aufzuheben, anstatt es nur unangewendet zu lassen? Unbedingt. Wäre viel sauberer so.

    MUSS die Regierung darauf hinwirken, das Gesetz aufzuheben, anstatt es nur unangewendet zu lassen? Nö.

    Der Unterschied zwischen beidem ist der Unterschied zwischen einer faulen politischen Nummer und einer Verfassungskrise. Ich bin nicht dafür, zweitere auszurufen, wenn man es nur mit ersterer zu tun hat.

  5. Dietrich Herrmann Fri 26 Feb 2010 at 23:01 - Reply

    Mir als Politikwissenschaftler sei mal erlaubt, vom Rechtsdogmatischen mal weg zum Praktischen zu kommen: Die Nichtanwendung von Gesetzen hat doch eine lange Geschichte. Relevant für den dauerhaften Rechtsfrieden (wenn ich das mal als zentrale Kategorie benennen darf) sind ohnehin nur wirklich für die breite Öffentlichkeit sichtbare und nicht nur punktuelle Verstöße bzw. Nichtanwendungen.

    Und es ist natürlich auch immer wieder eine Frage der Bewertung: Wenn das mehr oder minder ein Dauerzustand werden sollte, dass es eine (praktisch für jedermann – nicht nur für den Spezialisten, darauf kommt es an) deutlich sichtbare Diskrepanz zwischen Norm und Rechtswirklichkeit besteht, dann wird es zu einem Problem für den Normgeber – der würde sich auf die Dauer lächerlich machen (aber im konkreten Fall besteht ja Hoffnung, dass es sich nur um einen temporären Zustand handelt.

    Weitaus gravierender wäre der Fall, wenn – was ich hier nicht erkennen kann – durch die Nichtanwendung eines Gesetzes irgendjemand benachteiligt würde. Insofern – ohne irgendetwas bagatellisieren zu wollen -, würde ich die Episode entspannt betrachten wollen. Nach meinem Eindruck schadet sie den verantwortlichen Akteuren mehr als dem Rechtsfrieden.

  6. […] ob der sogenannte Nichtanwendungsbeschluss der Bundesregierung des Zugangserschwerungsgesetz nun verfassungskonform oder verfassungswidrig […]

  7. Sebastian Sat 27 Feb 2010 at 13:08 - Reply

    Die Regierung MUSS zwar nicht auf die Aufhebung hinwirken. WENN sie es aber nicht aufhebt, dann MUSS die es anwenden. Das sehe ich wie Herr Stadler.
    Ermessen im Bezug auf eine Rechtsfolge ist verwaltungsrechtlich alltäglich, aber Ermessen im Bezug auf die Anwendbarkeit eines Gesetzes ist mir neu (und es geht hier nicht um die Frage ob ein Tatbestand in den Anwendungsberich fällt oder wer die Auslegungshoheit über einen offenen Rechtsbegriff hat sondern um eine politische (richtige) Entscheidung!).
    Darin sehe ich sehr wohl einen Verfassungsverstoß. Alle Staatsgewalt ist and Rcht und Gesetz gebunden, Art. 1 III GG. Deswegen müssen sie, sofern der entsprechenden Staatsgewalt kein Ermessen eingeräumt wird das Gesetz auch anwenden. Es kommt ja auch keiner auf die Idee, z.B. das StGB für ein paar Fälle mal nicht anzuwenden…
    Ich danke Herrn Köhler dafür, dass er die Unehrlichkeit der Politik durch seiner Unterschrift offengelegt hat!

  8. egal Sat 27 Feb 2010 at 14:41 - Reply

    Ich hab jetzt den genauen Wortlaut dieses ominösen “Nichtanwendungserlass” gelesen, aber wenn man sich die Regelung im Zugangserschwerungsgesetz anschaut, dann wird doch klar, dass das Draufsetzen eines “Telemedienangebots” auf die Liste ein sehr stark bewertender Vorgang ist.

    Wenn das BKA also eine Sperrliste einführt, aber dort auf Grund dieser Verwaltungsvorschrift noch kein Angebot draufgesetzt hat, dann halte ich das nicht für verfassungswidrig oder rechtstaatlich bedenklich.

    Die Entscheidung, ob aufgenommen wird, sollte nach der Formulierung in § 1 offenbar ein Ermessen sein. Beim Ermessen ist schließlich auch die Verhältnismäßigkeit zu beachten.

    Gerade wegen der anhaltenden politischen und juristischen Kontroverse ist das Ausüben des Ermessens im Sinne einer vorläufigen Nichtanwendung doch sehr – gemessen am Grundrechtsschutz – sehr behutsam; die Vermeidung von möglicherweise verfassungswidrigen Grundrechtseingriffen zu begrüßen.

    Wenn sich die Regierung mit ihrer Verwaltungsvorschrift darauf beruft, erst das Urteil des BVerfG in dieser Sache zu hören, sehe ich auch den Rechtstaat nicht in Gefahr oder gar die Verfassung verletzt.

    Es wäre wohl eher so, dass es rechtstaatlich bedenklich wäre, wenn die Regierung das Gesetz trotz dieser Kontroverse ohne Bedenken anwendete.

  9. egal Sat 27 Feb 2010 at 14:42 - Reply

    “Ich hab jetzt den genauen Wortlaut dieses ominösen “Nichtanwendungserlass” gelesen, ”

    da fehlt wohl ein “nicht” ;-)

  10. Malte S. Sat 27 Feb 2010 at 18:14 - Reply

    Die vollziehende Gewalt bedarf nicht nur eines Gesetzes, um in die Rechte anderer einzugreifen. Sie ist auch verpflichtet, die ihr kraft Gesetz übertragenen Aufgaben auszuführen. Hier aber verweigert die Administrative dem gesetzlichen Auftrag eklatant die Gefolgschaft.
    Sie nimmt sich das Recht heraus, selbst darüber zu entscheiden, ob sie dem parlamentarischen Vollzugsbefehl folgen will oder nicht. Das ist nicht einfach eine Option des normalen Verwaltungshandelns. Es ist die Berühmung parlamentarischer Rechte durch die Exekutivorgane. Die Exekutive versagt dem Parlament damit die Gefolgschaft.

    mE handelt es sich bei einem solchen Nichtanwendungserlass um eine Amtsanmaßung des Anweisenden.

  11. Sebastian Sat 27 Feb 2010 at 21:52 - Reply

    Dabei sollten wir aber 2 Stufen von einander unterscheiden:
    1. Anwendung des Gesetzes: Hier bin ich mit Herrn Stadler der Meinung, dass das Gesetz angewendet werden MUSS. Ein Bundesminister kann nicht einfach per Anweisung ein Gesetz nicht zur Anwendung bringen.
    2. Sperren von Websites: Hier besteht (ich habe den Text auch noch nicht gelesen) wahrscheinlich Ermessen, ein ist also eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Und dort kann das BKA dann auch den Grundrechten endlich zur Geltung verhelfen. Das setzt aber voraus dass das Gesetz angewendet wird. Und solange das nicht passiert sehe ich darin einen Verfassungsverstoß.

  12. Stadler Sat 27 Feb 2010 at 22:52 - Reply

    Wir können seit Jahren eine Krise der parlamentarischen Demokratie beobachten, die sich zunehmend verschärft. Das ist auch der Grund dafür, dass das BVerfG immer öfter korrigierend eingreift. Die gewählten Abgeordneten erfüllen ihre verfassungsgemäße Aufgabe nach meiner Wahrnehmung nicht mehr wirklich. Sie sind vielmehr nur noch Wasserträger von Parteien und Regierungen. Man kann das durchaus eine Verfassungskrise nennen.

  13. Max Steinbeis Sun 28 Feb 2010 at 00:35 - Reply

    @Malte: “Berühmung parlamentarischer Rechte”. Deutsche Juristen, echt. Love it.
    Aber zur Sache: Was heißt hier Vollzugsbefehl? Das Gesetz ist Polizeirecht, also Gefahrenabwehr. Das ist eine Befugnisnorm, die eine Rechtsgrundlage für einen Eingriff in die Grundrechte von Providern und Teilnehmern schafft. Ist das fehlerhafte Ermessensausübung, wenn sie, nachdenklich geworden durch unsere ganzen super Argumente, zu dem Schluss kommt, dass es im Sinne der Gefahrenabwehr andere und bessere Wege gibt, als von dieser Befugnis jetzt Gebrauch zu machen? Ich glaube nicht.

    @Sebastian: Die Anwendung des Gesetzes wäre doch das Sperren von Websites, oder was sonst?

    @Stadler: Dass das Parlament die Regierung wählt und deshalb die Parlamentsmehrheit die Regierung stützt und deshalb die Regierung sagt, wo’s langgeht, und das Parlament in der Regel folgt, das ist keine Krise und keine Gemeinheit, sondern das steht so im Grundgesetz. Deshalb waren schon zu Konrad Adenauers Zeiten die Abgeordneten in ihrer Mehrheit immer die Wasserträger der Regierung, weit mehr noch als – sagen wir – zu Gerhard Schröders Zeiten. Wenn das ein Krisensymptom ist, dann stecken wir seit 60 Jahren in einer Krise. Und dass das BVerfG in den letzten Jahren immer wieder mal dazwischen gehen musste, hat in meinen Augen auch zu allerletzt mit einem gewandelten Verhalten der Bundestagsabgeordneten zu tun.
    Ich meine, vielleicht kriegen wir mal eine echte Verfassungskrise. Wie nennen wir das denn dann, wenn wir das Wort mit sowas hier schon kaputtinflationiert haben?

  14. egal Sun 28 Feb 2010 at 19:54 - Reply

    Die Frage ist ja auch, ob die Bundes-Exekutive so einfach Gesetze ausführen darf, wenn die Regierung bemerkt, dass das jeweilige Gesetz vielleicht doch nicht so ganz grundgesetzkonform zustande (Stichwort Gefahrenabwehr) gekommen ist.

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