18 February 2022

Zickzackkurs in Südwest

Sind Gottesdienste und kulturelle Veranstaltungen vergleichbar?

In einem selbst für Corona-Verhältnisse recht außergewöhnlichen Fall von Hin-und-Her-Regulierung hat die baden-württembergische Landesregierung Ende Januar 2022 infektionsschutzrechtliche Vorgaben zur Teilnahme an Gottesdiensten erst deutlich verschärft, um sie dann wenige Tage später und noch vor dem geplanten Inkrafttreten Mitte Februar wieder abzuschaffen. Die über Baden-Württemberg hinausweisende Frage hinter diesem Verordnungswirrwarr lautet: Wie schwer wiegt die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz in pandemischen Zeiten?

Die grün-schwarze Landesregierung befürchtete offenbar zunächst, dass der VGH Mannheim aufgrund von gleichheitsrechtlichen Bedenken große Teile der in der Corona-Verordnung vorgesehenen Testnachweispflichten und Zutrittsbeschränkungen für rechtswidrig erklären könnte. Kurz darauf entschied sich die Regierung allerdings zu Lockerungen in verschiedenen Bereichen vor dem Hintergrund eines konzertierten Vorgehens der Länderexekutiven.

Der VGH Mannheim lässt die Alarmglocken klingeln

Um den Jahreswechsel 2021/22 hat die baden-württembergische Landesregierung einige Rückschläge gegen ihre Corona-Politik einstecken müssen. So erklärte der Mannheimer VGH etwa die mit Blick auf die Omikron-Welle vorgenommene fixe Verlängerung der „Alarmstufe II“ ohne Berücksichtigung der Sieben-Tage-Hospitalisierungs-Inzidenz für rechtswidrig (hier und hier). Außerdem hatte der VGH bereits am 17. Dezember 2021 einen Beschluss gefasst, der zwar im Ergebnis den umfangreichen Antrag einer Impfgegnerin ablehnte, in Stuttgarter Regierungskreisen aber wohl die Alarmglocken klingeln ließ.

In dieser Entscheidung erkannte der Verwaltungsgerichtshof in „rein infektionsschutzrechtlicher Hinsicht“ keinen relevanten Unterschied zwischen „Veranstaltungen von Kirchen sowie Religions- und Glaubensgemeinschaften zur Religionsausübung“ und etwa kulturellen Veranstaltungen. In beiden Fällen sei „eine größere Anzahl von einander unbekannten Personen auch in geschlossenen Räumen versammelt“ (Rn. 163). Aufgrund gleichheitsrechtlicher Überlegungen forderte der VGH:

„Der Verordnungsgeber wird, je länger diese Schieflage in zeitlicher Hinsicht bestehen bleibt, zu prüfen haben, ob die […religiösen] Veranstaltungen nicht zumindest unter der Prämisse einer Testpflicht für Nicht-Immunisierte an die angefochtenen Regelungen angepasst werden oder gar [sonstige] Veranstaltungen […] an die Regelungen [… für Kirchen und Glaubensgemeinschaften] angeglichen werden müssen“ (Rn. 164).

Die Landesregierung musste somit befürchten, dass der VGH bei nächster Gelegenheit zentrale Teile ihrer Corona-Verordnung – insbesondere das hospitalisierungsinzidenzbasierte Stufenkonzept mit Kontaktbeschränkungen und Zutrittsverboten vor allem für Nicht-Immunisierte – für rechtswidrig erklären würde. Vor diesem Hintergrund beschloss sie am 27. Januar 2022 mit ihrer neunten Verordnung zur Änderung der geltenden Corona-Verordnung erstmals seit Pandemiebeginn eine obligatorische 3G-Regelung für Gottesdienste und vergleichbare Zusammenkünfte von Religionsgemeinschaften. Vorher hatte die baden-württembergische Regierung wie andere Landesregierungen auch mit Blick auf die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit keine verpflichtenden „geimpft, getestet oder genesen“-Vorgaben für religiöse Versammlungen erlassen. Dass der genannte VGH-Beschluss der entscheidende Auslöser für diese Neuregelung war, lässt sich leicht daraus ersehen, dass die Regierung in der Begründung zur Änderungsverordnung und in einem erläuternden Schreiben an die überraschten Kirchen und Religionsgemeinschaften explizit auf die Entscheidung des Mannheimer Verwaltungsgerichtshofs verweist.

Allerdings erließ die Landesregierung bereits am 8. Februar 2022 eine neue Änderungsverordnung, in der sie die 3G-Regelung für Gottesdienste und ähnliche religiöse Veranstaltungen kurzerhand wieder abschaffte. Diese sollte eigentlich am 14. Februar 2022 in Kraft treten und kam so gar nicht erst zur Anwendung. Hintergrund war diesmal ein Beschluss der Konferenz der Chefinnen und Chefs der Staatskanzleien zur bundesweiten Vereinheitlichung der infektionsschutzrechtlichen Bestimmungen für Veranstaltungen. Viele Kirchengemeinden und Glaubensgemeinschaften hatten umsonst kurzfristig Vorkehrungen zur erstmaligen Kontrolle von 3G-Zertifikaten getroffen (andere hatten in den letzten Wochen und Monaten freilich von sich aus einschlägige Zugangsbeschränkungen eingeführt). In der Begründung für den regulatorischen Rückzieher führt die Landesregierung aus, man sehe unter anderem aufgrund „der sehr dynamischen Situation […] bei besonders grundrechtsgeschützten Bereichen aktuell von erstmals einzuführenden einschränkenden Schutzmaßnahmen ab“ (S. 12).

Unterschiedliche Ansätze von Bundesverfassungsgericht und VGH Mannheim

Ein Blick zurück: Im Frühjahr 2020 waren in ganz Deutschland wochenlang religiöse Versammlungen in Kirchen, Moscheen und Synagogen untersagt (zustimmend etwa Heinig, ablehnend Lepsius). Das Bundesverfassungsgericht billigte die Gottesdienstverbote selbst über Ostern, mahnte aber engmaschige Verhältnismäßigkeitsüberprüfungen an (hier und hier). Ende April 2020 verwarf es in einer Entscheidung Bestimmungen der niedersächsischen Corona-Verordnung, weil diese keinerlei Möglichkeit vorsah, religiöse Zusammenkünfte ausnahmsweise zu genehmigen. Schon dieser Beschluss machte deutlich, welch große Bedeutung das Karlsruher Gericht der Glaubens- und Religionsfreiheit auch in pandemischen Zeiten beimisst.

Im Mai 2020 wurden Gottesdienste in allen Bundesländern unter seuchenpräventiven Auflagen wieder zugelassen. Einschlägige Verbote religiöser Zusammenkünfte gab es seitdem nur noch in lokalen oder regionalen Ausnahmefällen (kritisch zum bayerischen „Christmetten-Verbot“ etwa Edenharter). Grundsätzlich sind die infektionsschutzrechtlichen Vorgaben und Beschränkungen der Länder für Gottesdienste und ähnliche religiöse Versammlungen vor dem Hintergrund von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG seitdem deutlich weniger streng als für Veranstaltungen in anderen Bereichen der Gesellschaft.

Allerdings kamen Vorwürfe einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung insbesondere während der zweiten und dritten Corona-Wellen auf, als viele Kulturveranstaltungen erneut untersagt wurden. Das Bundesverfassungsgericht billigte in dieser Phase der Pandemie die spezifischen Regelungen für religiöse Zusammenkünfte im Verhältnis zu den restriktiveren Maßnahmen für andere Gesellschaftsbereiche. In einem Nichtannahmebeschluss (kritisch dazu aus der Perspektive der Kulturschaffenden etwa Hohnerlein) argumentierte es im Mai 2021:

„Bereits die Prämisse der Verfassungsbeschwerde, Gottesdienste und Kulturveranstaltungen seien in tatsächlicher Hinsicht wesentlich gleich, ist nicht tragfähig. Die faktischen Unterschiede zwischen einem dem Schutz der Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG unterstehenden Gottesdienst und einer Kulturveranstaltung ‒ etwa einem Konzert ‒ lässt sich nicht darauf reduzieren, dass bei beiden Anlässen Personen zu einem gemeinsamen Zweck zusammenkämen und innerhalb geschlossener Räume miteinander agierten. Gottesdienste folgen einem liturgischen Konzept, das sich von demjenigen, welches typischerweise musikalischen Veranstaltungen zugrundeliegt, deutlich unterscheidet. Die Teilnehmer eines Gottesdienstes sind zudem selbst Träger der Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG […], während Teilnehmer einer Kulturveranstaltung regelmäßig nicht selbst Träger der Kunstfreiheit sein dürften“ (Rn. 35).

Das Bundesverfassungsgericht und der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof zeigen zumindest teilweise unterschiedliche Herangehensweisen bei der Abwägung von Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und allgemeinem Gleichheitssatz in Bezug auf sektorspezifische Pandemieregelungen für religiöse Zusammenkünfte. So verfolgt der VGH in dem oben zitierten Beschluss einen eher technisch-funktionalen oder naturwissenschaftlich geprägten Ansatz, für den Gottesdienste und kulturelle Veranstaltungen aus der Perspektive der Seuchenbekämpfung keine großen Unterschiede aufweisen. Das Bundesverfassungsgericht hingegen gewichtet Art. 4 GG sehr stark und erachtet daher religiöse Zusammenkünfte nicht als wesensgleich mit sonstigen Veranstaltungen. Es bestätigt damit die bisherige Linie von Landesregierungen wie der baden-württembergischen, die aber in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft möglicherweise dem Gerechtigkeitsempfinden etlicher nicht-religiöser Menschen widerspricht.

Das Spannungsverhältnis zwischen allgemeinem Gleichheitssatz und Religionsfreiheit im Zusammenhang der Pandemiebekämpfung dürfte zwar mit der anvisierten allgemeinen Lockerung der Corona-Schutzmaßnahmen an Brisanz verlieren. Unter veränderten epidemiologischen oder politischen Rahmenbedingungen kann es jedoch jederzeit wieder an Bedeutung gewinnen.


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