Zündet der EuGH die nächste Stufe im Konflikt mit dem BVerfG?
Letzte Woche war ich kurzzeitig ziemlich aufgeregt, weil mein EuGH-Pressemitteilungs-Feed mir anzeigte, dass der Gerichtshof den Fall Kücükdeveci entschieden hat. War ein falscher Alarm, die Pressemitteilung bezog sich auf einen ganz anderen Fall. Aber es gab offenbar einen Grund für den Vertipper in der EuGH-Pressestelle. Wie Adjudicating Europe meldet, wird das Urteil am Dienstag veröffentlicht.
Kücükdeveci hat es in sich. Kann sein, dass wir lernen müssen, den Zungenbrecher auszusprechen. Das Urteil wird möglicherweise ein Klassiker, den jeder Jura-Student kennen muss wie Consta/ENEL und Francovich. Vor allem aber könnte der Fall den latenten Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH zum Ausbrechen bringen, mit der bereits mehrfach beschriebenen Folge einer europäischen Verfassungskrise von unabsehbarem Ausgang.
Es geht in dem Fall um eine junge Frau, der am 18. Dezember 2006 von ihrem Arbeitgeber gekündigt worden war, und zwar zum 31. Januar 2007. Sie war fast zehn Jahre dort beschäftigt gewesen, was eigentlich zu einer viermonatigen Kündigungsfrist geführt hatte. Aber weil sie noch so jung war, fiel der größere Teil ihrer Betriebszugehörigkeit unter § 622 II 2 BGB: Zeiten vor dem 25. Lebensjahr zählen nicht.
Ein Fall von Altersdiskriminierung also, wie im Fall Mangold: Frau Kücükdeveci musste nur wegen ihres Alters Nachteile hinnehmen, die sich nicht rechtfertigen lassen.
Anders als im Fall Mangold war hier zum Zeitpunkt der Kündigung die Umsetzungsfrist für die einschlägige Anti-Diskriminierungs-Richtlinie bereits abgelaufen. Wenn dann das nationale Recht noch Lücken aufweist, können die Richter das nicht hinreichend umgesetzte EU-Recht direkt anwenden – aber das gilt nur im Verhältnis zum Staat (der ist ja schließlich schuld). In Fällen, wo es um das Verhältnis von Privaten untereinander geht, hat der EuGH bisher stets die unmittelbare Anwendung von EU-Richtlinien vermieden: Dann muss das Gericht entweder das nationale Recht richtlinienkonform auslegen (also die Lücke selbst schließen) oder die Klage abweisen; der um sein Recht gebrachte Kläger muss sich dann per Schadensersatzklage bei dem Staat, der die Richtlinie entgegen seiner europarechtlichen Verpflichtungen nicht umgesetzt hat, schadlos halten.
Im Fall Kücükdeveci hatte Generalanwalt Yves Bot vorgeschlagen, damit jetzt zu brechen und die Möglichkeit zu eröffnen, Richtlinien auch zwischen Privaten unmittelbar anzuwenden. Das wäre weit mehr als eine bloße Technizität. Bisher muss doch zumindest die Form gewahrt und dem nationalen Gesetzgeber die souveräne Entscheidung belassen bleiben, wie er die EU-Vorgaben zur Gestaltung des Privatrechts umsetzt – selbst wenn er durch europarechtskonform auslegende Richter bzw. per Vertragsverletzungsverfahren und Schadensersatz ohnehin auf den richtigen Weg geleitet wird. Damit wäre Schluss, wenn der EuGH dem Generalanwalt folgt. Damit wäre der Rubikon überschritten.
Doch ob der EuGH sich das traut? Meine Wette: Wird er nicht.
Der Zweite Senat des BVerfG hat mit dem Lissabon-Urteil nur wenig Zweifel daran gelassen, dass er auf ein solches Signal aus Luxemburg nur wartet. Jeden Moment kann in Karlsruhe das Urteil im Fall Honeywell fallen: Dort geht es im Kern um die Frage, ob Mangold ein “ausbrechender Rechtsakt” war – ob also der EuGH die vom Grundgesetz errichteten Grenzen der Integration überschritten hat.
Der Fall Kücükdeveci würde sich wahrhaftig anbieten, rechtzeitig vor Verkündung von Honeywell ein Versöhnungssignal nach Karlsruhe zu senden. Das wäre zwar nicht besonders heldenhaft, aber vernünftig. So hat die viel beschworene Kooperation zwischen Luxemburg und Karlsruhe immer funktioniert. Dann würde es dem Zweiten Senat hoffentlich auch leichter fallen, sich wie beim Bananenmarkt– und beim Solange-II-Urteil in Demut zu üben und den “Krieg der Richter” zu vermeiden.
Der EuGH könnte beispielsweise die Altersdiskriminierung für gerechtfertigt halten. Das geht immer irgendwie. Das wäre freilich ziemlich fies gegenüber Frau Kücükdeveci. Aber der Rest der Republik könnte erleichtert aufseufzen…
Naja, als deutscher Jurist neigt man dazu, das eigene VerfG etwas zu wichtig zu nehmen. Der EuGH hat ab und an auch anderes zu bedenken, als nur die Frage, ob er beim BVerfG Gefallen mit seiner Rechtsprechung erweckt. Ich kann hier auch kein Überschreiten des Rubikon erblicken, die unmittelbare Richtlinienanwendung ist doch schon ein alter Hut.
Ansonsten nettes Blog, allerdings hat mir das letzte Template etwas besser gefallen.
also, ich bin mir doch ziemlich sicher, dass sich der EuGH der Konsequenzen eines möglichen ultra-vires-Urteils aus Karlsruhe sehr klar bewusst ist.
Nach dem Maastricht-Urteil kam Keck. Nach dem EU-Haftbefehls-Urteil kam Förster. Zufall?
Urteil wurde heute veröffentlicht:
http://tinyurl.com/ybcneuj
[…] Urteilsgründe (weitere Details zu Fall und Hintergründen hier) im heute entschiedenen Fall Kücücdeveci kann man so zusammenfassen: Wir halten in vollem Umfang […]
[…] genau dieser Frage, ob es sich bei dem Mangold-Entscheidung um einen “ausbrechenden Rechtsakt” handelt, wird demnächst auch das Bundesverfassungsgericht in dem bei ihm […]
[…] Bot hatte auch im Fall Kücükdeveci die Schlussanträge verfasst. Der Mann geht keinem Konflikt aus dem Wege. Mal sehen, was der EuGH […]
[…] Urteilsgründe (weitere Details zu Fall und Hintergründen hier) im heute entschiedenen Fall Kücücdeveci kann man so zusammenfassen: Wir halten in vollem Umfang […]