Zum Glück der Vereinigten Staaten
Joseph Biden ist als neuer Präsident der USA vereidigt und Donald Trump hat das Weiße Haus verlassen. Amerikanische Gerichte wiesen die Klagen seiner Wahlkampagne auf Wahlbetrug als „substanzlos“ ab; Geschäftspartner*innen und Teile der Republikaner wanden sich in den vergangenen Wochen von ihm ab, und im Kongress ist nun – zum ersten Mal in der Geschichte der USA – ein zweites Impeachment Verfahren gegen ihn eröffnet worden. Der amerikanische Rechtsstaat und die Institutionen haben sich bewährt. Ende gut, alles gut also?
Ganz so einfach ist es aber nicht. Während die Ereignisse der letzten Wochen und Monate noch frisch im Gedächtnis sind, sollten wir uns daran erinnern, dass die amerikanische Demokratie Glück hatten – und das trotz der Toten des 6. Januar. Glück deshalb, weil bereits wenige Tage nach der Wahl feststand, dass Biden mit relativ deutlicher Mehrheit die Wahl gewonnen hatte. Glück auch deshalb, weil der Sturm auf das amerikanische Kapitol Trumps Unterstützer*innen im amerikanischen Kongress, die seine Vorwürfe eines Wahlbetrugs aufnahmen und weitere Ermittlungen forderten, den Boden unter den Füßen entzog.
In beiden Fällen hätte es leicht auch anders kommen können.
Biden gewann die Wahl in drei Bundesstaaten – Arizona, Georgia und Wisconsin – mit 0,63% der Stimmen oder weniger. Hätte Trump in diesen Staaten gewonnen, wäre es auf die Stimmauszählung in Pennsylvania angekommen. Und wären nur 40 000 der insgesamt fast 7 Millionen abgegebenen Stimmen in Pennsylvania für Trump statt Biden abgegeben worden, dann wäre es für den Wahlsieg in Pennsylvania und damit den USA insgesamt auf einige wenige hundert Stimmen angekommen. Mit anderen Worten: Es hätte nicht viel gefehlt und die amerikanischen Präsidentschaftswahlen wären deutlich knapper ausgefallen, als es letztlich der Fall war.
Und in dieser Situation hätten Republikaner allen Grund gehabt, die Wahlen gerichtlich überprüfen zu lassen und den Wahlsieg zu bestreiten, ganz ähnlich wie dies die Demokraten nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 taten, als Bush ganz knapp aufgrund eines umstrittenen Wahlergebnisses in Florida gewann und der Supreme Court eine erneute Stimmauszählung in Florida stoppte. Dies gilt umso mehr, als die Präsidentschaftswahlen 2020 aufgrund der Coronapandemie vielerorts unter veränderten Bedingungen stattfanden – verständlicherweise, aber damit eben auch in einer Weise, die nicht in allen Fällen schon gerichtlich geklärt und abgesichert war.
Und über Wahlmodalitäten kann man durchaus streiten – und das tun auch Juristen nicht selten. Hinzu kommt, dass die Bundesstaaten diese auch bei der Präsidentschaftswahl nach eigenem Recht regeln. Ist in manchen Bundesstaaten etwa verboten, dass Freiwillige Wahlbriefe bei Wähler*innen zuhause abholen, sammeln und dann gebündelt abgeben (sog. Ballot Harvesting), so ist dies in anderen erlaubt. Rechtliche Unsicherheiten gab es vor der Wahl auch mit Blick auf die Auszählung von Briefwahlstimmen in Pennsylvania, die erst nach dem Wahltag eingingen. Wäre es für den Sieg Bidens deshalb auf einige wenige hundert Stimmen angekommen, dann wäre es möglicherweise auf die rechtliche Beurteilung solcher Wahlmodalitäten für den Wahlausgang angekommen. Und hier bestanden rechtliche Argumentationsspielräume.
Und wo immer die folgenden Rechtsstreitigkeiten letztlich gelandet wären und wie immer sie entschieden worden wären – im Supreme Court, im Kongress – wir wissen, dass Trump eine Entscheidung gegen ihn nicht akzeptiert hätte. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Al Gore akzeptierte 2000 die Entscheidung des Supreme Court und Sieg Bushs und stellte so die Integrität des Wahlverfahrens über seine politischen Ambitionen. Trump dagegen akzeptierte nicht einmal die 7-2 Entscheidung des Supreme Court zur Zulässigkeit der Klage von Texas in einem rechtlich klaren Fall.
Und nicht nur das: Auch viele Demokraten hätten wohl etwa eine Entscheidung des amerikanischen Supreme Court nicht akzeptiert – ebenso wie viele nie akzeptierten, dass Bush die Präsidentschaftswahlen 2000 fair gewann. Dies gilt umso mehr, als viele Demokraten nicht zögern, Institutionen wie den Supreme Court, dessen Mitglieder mittlerweile zu zwei Dritteln von Republikanern ernannt wurden, oder auch Verfahrensregeln (wie jene des Electoral College) scharf anzugreifen.
Das bedeutet nicht, dass die Demokraten so weit wie Trump und seine Unterstützer*innen in ihren Angriffen gegangen wären, noch, dass sie so weit gekommen wären. (Hätten radikale Linke oder BlackLivesMatter-Protestierende versucht, das Kapitol zu stürmen, wären sie kaum so weit gekommen wie der Unterstützer Trumps am 6. Januar.) Es bedeutet aber, dass bei einem nur etwas knapperen Wahlausgang eine ernsthafte Verfassungskrise in den USA sehr wahrscheinlich gewesen wäre.
Dies blieb den USA – bei allem Unbehagen über die Ereignisse der letzten Wochen und Monate – erspart. Der letztlich klare Wahlsieg Bidens bedeutete, dass es auf die rechtliche Bewertung einzelner Wahlmodalitäten nicht ankam.
Auch die Ereignisse des 6. Januar trugen zur Verhinderung einer ernsthaften Verfassungskrise bei. Unter dem Eindruck der Bedrohung durch einen wütenden Mob und der Evakuierung von Kongressmitgliedern rückten schließlich auch zentrale Führungsfiguren der Republikanischen Partei, die Trump in der Vergangenheit so oft in anderen Angelegenheiten (wie Senator Lindsey Graham), aber auch mit Blick auf seine Behauptungen zur gestohlenen Wahl (wie der Senator Ted Cruz) verteidigt hatten, schließlich von Trump ab. Auch das war keine Selbstverständlichkeit.
In der Hoffnung, Trumps Unterstützer in Zukunft für eigene politische Kampagnen gewinnen zu können, hatten viele Republikaner lange zu Trumps Wahllügen (Erdrutschsieg) geschwiegen oder sich diese sogar zu eigen gemacht. Zu lange, wie nun deutlich wurde. Manches spricht auch dafür, dass dieser durchsichtige Opportunismus vieler Republikaner beim Sieg der Demokraten in den Senatsnachwahlen in Georgia eine Rolle spielte und damit der politisch so wichtigen republikanischen Mehrheit im Senat ein Ende setzte.
Auch ohne die Ereignisse des 6. Januar hätten sich Trumps Unterstützer im Kongress wohl nicht durchgesetzt und weitere Untersuchungen erzwingen können. Der Sturm auf das Kapitol aber beschleunigte die Zertifizierung der Wahl Bidens, indem er ein Bestreiten von Bidens Wahlsieg im Kongress als Kollaboration mit den Angreifern des 6. Januar diskreditierte. Mit seinem Aufruf zum Marsch auf das Kapitol und seinen Äußerungen zu den Ereignissen über Twitter am 6. Januar agierte Trump deshalb einmal mehr politisch unklug und ungeschickt.
Klar ist, ein Umsturz der amerikanischen Regierung mit Gewalt, wie ihn einige von Trumps Unterstützern herbeiwünschen, war keine Möglichkeit und dies wird sich auch in der näheren Zukunft nicht ändern. Aber die amerikanische Demokratie und jene Normen und Konventionen, die sie stützen, sind nicht länger so stark, wie wir lange glaubten. Die Vereinigten Staaten hatten Glück mit dem Verlauf der Präsidentschaftswahlen von 2020 und brauchten dieses Glück auch. Und hierin liegt der Bruch mit unseren Erwartungen.