Zur Geselligkeit verpflichtet
Mein Pass ist eigentlich gar nicht mein Pass. Ich bin es zwar, in dessen Tasche oder Schublade er steckt. Ich bin es, den er identifiziert. Aber er gehört mir nicht. Ein kleiner unauffälliger Satz auf der letzten Seite klärt mich auf: „Dieser Reisepass ist Eigentum der Bundesrepublik Deutschland.“ Das gleiche gilt, wenn man der Logik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg folgt, auch für einen Teil meines Körpers. Der Teil, der mich als ich kennzeichnet, der mich erkennbar macht, mit dem ich spreche, sehe und höre, das Inter-Face zwischen mir und der Gesellschaft: mein Gesicht.
Am 1. Juli hat der EGMR sein lange erwartetes Urteil über das so genannte Burkaverbot in Frankreich verkündet. An der Entscheidung hat sich seither eine lebhafte Debatte entzündet, in der es um Pluralismus und Minderheitenschutz geht, um Diskriminierung und Würde von Frauen, um den Islam und wie man ihn praktizieren bzw. integrieren soll – alles wichtige und dringliche Fragen, denen sich eine moderne Gesellschaft stellen muss. Ein Punkt, vielleicht der aller fundamentalste dabei, gerät dabei aber leicht aus dem Blickfeld: Hier wird verhandelt, wo die Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft verläuft und welche gesellschaftlichen Zumutungen sie vom Individuum abzuhalten in der Lage sein soll. Und das Ergebnis, das der Straßburger Gerichtshof gefunden hat, verheißt für das Individuum und seine Grundrechte einstweilen nichts Gutes.
Die Bezeichnung Burkaverbot ist, wenn man das französische Gesetz beim Wort nimmt, gar nicht richtig: Das Gesetz droht jedem, der sich mit verhülltem Gesicht in der Öffentlichkeit bewegt, Strafe an, egal ob es eine Skimaske, ein Damenstrumpf, ein Motorradhelm oder eine Sonnenbrille ist, die der Öffentlichkeit die freie Sicht auf sein Gesicht verwehrt. (Praktisch geht es natürlich fast ausschließlich um die islamische Vollverschleierung.) Das Hauptmotiv hinter diesem Gesetz ist eine utopischen Ideologie, die unter dem améliehaft kuscheligen Namen „vivre ensemble“ (zusammen leben) daherkommt, erdacht in der Ära Sarkozy von konservativen Politikern als Signal an die vom Front National verlockten Französinnen und Franzosen, dass auch im so diversen 21. Jahrhundert das republikanische Ideal der Brüderlichkeit noch etwas gilt. Zusammen leben und nicht nur nebeneinander her: in der Utopie des „vivre ensemble“ grillen nicht die einen Lammkotellets im Park und die anderen Schweinswürstchen auf dem Balkon, sondern alle zusammen versammeln sich um die gleiche Feuerstelle, respektiert, aufgenommen und miteinander im Gespräch.
Es handelt sich dabei um ein Tun und nicht nur um ein Sein: Es heißt nicht „la vie ensemble“, sondern „vivre ensemble“, ein Verb im Infinitiv, etwas, was den Lamm essenden Türken/Arabern oder Schwein essenden Deutschen/Franzosen aktiv aufgegeben ist. Es handelt sich auch nicht nur um einen Vorschlag, wie sie ihr Privatleben gestalten sollten, sondern um etwas Politisches. Zusammen zu leben ist etwas, was sich die freien und gleichen Bürger der Republik wechselseitig einander schuldig sind.
Im Mittelpunkt dieser Ideologie steht das Gesicht: Ich kann mit dir nur zusammen leben, wenn ich dein Gesicht sehe. Wer bist du? Zeig dich mir! Wer sich verhüllt, macht aus dieser Perspektive nicht einfach von seinem Recht Gebrauch, für sich zu sein. Er zieht eine Barriere zwischen sich und seine Mitbürger. Er macht nicht mit beim großen „vivre ensemble“, ein Spielverderber und Störenfried ist er. Und wenn er sich klagend auf sein Recht auf Privatsphäre, auf freie Religionsausübung beruft, dann wird er scharfen Tons daran erinnert, dass er diese Rechte ja wohl gerade der Gesellschaft freier und gleicher Bürger zu verdanken hat, der er sich so hartnäckig entzieht.
In diesem Moment wird mein Gesicht zu einer Art Reisepass: Ich trage es, mich identifiziert es, aber es gehört mir nicht mehr. „Dieses Gesicht ist Eigentum der Bundesrepublik Deutschland.“
Ich muss keine verschleierte Muslima sein, um diese Beschlagnahme eines Teils meines Körpers als Vergewaltigung zu empfinden.
Mein Gesicht gehört mir. Ich bin es, der mittels meines Gesichts mit der Gesellschaft Kontakt aufnimmt – oder auch nicht. Ich entscheide, ob ich offen und fröhlich oder mürrisch und verschlossen dreinschaue, ob ich spreche oder schweige, ob und mit wem ich Blickkontakt aufnehme. Mein Gesicht ist das Fenster, durch das ich die Welt sehe und die Welt mich. Aber dieses Fenster ist mit Vorhängen ausgestattet, und die Kontrolle, ob sie auf- oder zugezogen werden, liegt bei niemand anderem als bei mir.
Wenn ich mein Gesicht für mich reklamiere, bitte ich damit nicht um Rücksichtnahme. Ich fordere mein Recht. Ist das unsozial? Aber sicher ist es das. So ist das mit den Grundrechten: Sie sind nicht dazu da, aus mir einen guten Bürger zu machen, der dem Gemeinwohl nützt und seinen Teil fürs Große und Ganze beiträgt. Sie sind dazu da, mir einen Raum zu verschaffen, in dem ich für mich sein kann und gerade nicht für die anderen. Mein Recht auf meinen Körper und mein Recht auf meine Privatsphäre sind keine Privilegien, die mir für meine treuen Dienste als Teilnehmer an der Gesellschaft verliehen werden, sondern Grenzziehungen, die den Raum markieren, wo ich als Individuum unbehelligt bleibe.
Das heißt natürlich nicht, dass diese Grenzen undurchdringlich sind. Es gibt Situationen, wo die Gesellschaft gute Gründe hat, meinen Körper in Fesseln zu legen, meine Wohnung zu durchsuchen und meine individuelle Freiheit ihren Zwecken unterzuordnen. Der französische Gesetzgeber hatte von der öffentlichen Sicherheit bis zur Würde der Frau allerhand solche Gründe zu finden versucht, um das Verhüllungsverbot zu rechtfertigen. Der Straßburger Gerichtshof hat sie allesamt zurückgewiesen. Der einzige Grund, mit dem Frankreich vor dem Menschenrechtsgericht durchdrang, war: „vivre ensemble“. Die Mitbürger der Burkaträgerinnen hätten ein Recht, in einem „das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit“ zu leben, heißt es in dem Urteil. Mit diesem Recht sei das Recht auf Privatsphäre und auf freie Religionsausübung abzuwägen und ziehe im Ergebnis hier den Kürzeren.
Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese wattige Ideologie zu einem Argument geadelt hat, mit dem man Eingriffe in Privatsphäre und Religionsfreiheit rechtfertigen kann, ist ein Vorgang mit Auswirkungen weit über das Burkaverbot hinaus. Denn in dem flauscheweichen Fraternité-Rhetorikbausch des „vivre ensemble“ steckt ein stahlharter Kern. Er stellt das Recht, für sich zu sein, unter einen Geselligkeitsvorbehalt. Er macht das Bedürfnis, sich absondern, zu einer Zumutung, derer sich die Gesellschaft ab einem gewissen Punkt erwehren muss und darf. Nun ist sie es, die ein „Recht“ geltend macht, ein Recht auf einen „das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit“, und das Individuum wird zu etwas, das diesen Raum bedrängt und beschränkt mit seinem Individualisierungsbedürfnis und sich dafür rechtfertigen muss.
Diese buchstäbliche Perversion der Grundrechtsidee ist keineswegs allein ein Phänomen der französischen bzw. europäischen Rechtsordnung. Die deutsche Jurisprudenz ist für ganz ähnliche Gedanken durchaus auch empfänglich. „Der freie Mensch zeigt dem anderen sein Antlitz“, heißt es im Sondervotum der drei konservativen Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff zum Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts 2003 – gestützt allerdings auf die Menschenwürde und nicht auf den Republikanismus, was aber auf das Gleiche hinausläuft: Frei ist aus dieser Perspektive nur der soziale, der gesellige Mensch.
Aus dieser Perspektive wird die Burka tatsächlich zu einem vollkommen opaken Ding. Man sieht nicht mehr, man will nicht mehr sehen, was sich dahinter verbirgt. Nämlich ein menschliches Gesicht.
Dieser Artikel ist in etwas gekürzter Form in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung erschienen.
Ich finde die Hartnäckigkeit bewundernswert, mit der hier im Blog die Burka-Sache bearbeitet wird. Aber man sollte das ganze doch rechtlich nicht überhöhen: am Ende des Tages hat der Gerichtshof doch nur einen massiven Großkonflikt mit Frankreich vermieden – einen gleichzeitigen Austritt von Frankreich und UK aus der EMRK wünscht man sich nicht als Richter in Straßburg. Ich würde als VW-Chef auch nicht weitermachen, wenn Audi und Porsche verkauft werden.
Herzlichen Dank fuer die Analyse. Es wird einem angst und bange, wenn man sich vorstellt, wie sich das – nicht eingeforderte – vivre ensemble weiterentwickeln koennte. Darf ich kuenftig ueberhaupt noch mit meinem Laptop im Zug arbeiten, wo doch meine Mitreisenden – und ich – ein Recht auf ein soziales Miteinander haben?
@J.D. Kurze Antwort: Ja.
[…] Zur Geselligkeit verpflichtet […]
Das Problem mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben ist doch dass wenn sich da ein paar Leute ausklammern das dann kein Problem ist, aber wenn sehr viele Leute das machen dann dasselbe Verhalten ein Problem ist.
Ein gutes Beispiel sind die Ultraorthodoxen in Israel, denen Sonderwürste den Nicht-Ultraorthodoxen erst dann zuviel wurden als es einfache zuviele wurden.
Wobei ich der Meinung bin das die erste Reaktion immer sein sollte vielleicht mal die Ursachen der Nicht-Teilnahme am gesellschaftlichen (Mehrheits-)Leben zu erforschen und zu schauen ob das auch vielleicht am eigenen schlechten Verhalten liegt (was ich denke hier auch z.T. Der Fall ist). Auch würde ich sagen dass bei derBurka-Sache die kritische Masse noch bei weitem nicht erreicht ist. Und ich halte auch das Verbot, insbesondere zusammen mit den Staatsbürgerkursen, für ziemlich schlechte Mittel – es wird ipsicherlich nicht die lernbereitschaft in den Kursen erhöhen…
Man mag Grundsätze wie „vivre ensemble“ oder „Der freie Mensch zeigt dem anderen sein Antlitz“ vertreten, wie aber sie begründen? Der Mensch ist zweifellos ein gesellschaftliches Wesen, aber impliziert diese seine Verfassung das Bedürfnis, jedem sein Gesicht zeigen zu wollen oder jedes Gesicht sehen zu können? Unterstellt es wäre so, bleibt immer noch die Frage, ob sich daraus bereits eine allgemein geltende Rechtsvorschrift, jedermann sein Gesicht zeigen zu müssen, ableiten lässt. Dieses Bedürfnis ist kein allgemeines, denn die Frage einer rechtlichen Absicherung entstünde dann kaum, aber selbst wenn es dies wäre, ließe sich aus einer allgemein vorfindlichen Eigenschaft noch keine Rechtsvorschrift ableiten, wir brauchen dazu noch eine wertende Prämisse: etwa die, dass dieses (behauptete) Bedürfnis allgemein gelten solle.
Wie Steinbeis sehe ich obige Grundsätze als Ausdruck einer Ideologie; Ressentiments werden weltanschaulich verklärt, auf Seiten der Vertreter des Verschleierungsverbots wie der des Verschleierungsgebots. Dass der Gesetzgeber vermehrt bei Fragen, bei denen es nicht um existentiell wichtige Güter geht, tätig wird, zeugt m.E. von einer bedenklichen Entwicklung.
Dr. Alois K. Soller, Senging 11, 94163 Saldenburg
Es gibt sicher kein “Grundrecht” der Wirtschaft (von Geheimdiensten nicht zu reden), mein unverhülltes Gesicht durch geeignete technische Mittel zu beobachten und aus den so gewonnenen Informationen Rückschlüsse zu ziehen. Wenn der Staat mich zwingt, mein Gesicht zu zeigen, korrespondiert dem eine Schutzpflicht, Mißbrauch zu verhindern. Der Staat muss dann ungefragte Überwachung verbieten.
Wie viel einfacher, mir zu erlauben, mit bedecktem Gesicht rauszugehen.
@Elshorst: “Ungefragte Überwachung” ist verboten.
Don’t feed the troll.
Auch wenn er Unsinn schreibt.
@Elshorst: Sie sind wirklich köstlich. Der erste sich selbst nährende Troll der Geschichte, der zur eigenen Nichtfütterung aufruft. Ich liebe Ihre meta-Zirkularität. Was machen Sie beruflich, Tierfutterindustrie, richtig?
Und Nachtrag: Sollten Sie wirklich glauben, “ungefragte Überwachung” sei nicht verboten (und nicht bloß trollen), hören Sie bitte sofort damit auf, also mit dem “ungefragten Überwachen” (das Trollen können Sie meinethalben gerne fortsetzen, ist nicht strafbar, witzig sind Sie ja auch…), sonst kommen Sie mit dem Gesetz in Konflikt.
Vielen Dank für diesen erfrischenden, fesselnden Beitrag!