08 August 2020

Zurechtgerückt

Der Beschluss 1 BvR 842/17 des BVerfG zu Leiharbeitnehmer*innen als Streikbrecher*innen

Am 6. August 2020 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht einen Beschluss (1 BvR 842/17) zum Einsatz von Leiharbeiter*innen als „Streikbrecher*innen“, der das Potential hat, politisch sowie sozial Wirkmacht zu entfalten. Die 3. Kammer des ersten Senats stellt recht eindrücklich fest, dass sich Arbeitgeberinnen gegenüber der Arbeitnehmer*innenseite von Natur aus in einer überlegenen Position befinden und dass der Gesetzgeber daher Maßnahmen ergreifen kann, um Kampfparität zwischen beiden Seiten herzustellen. Diese Annahme wird auch in Zukunft Pate für Entscheidungen im Bereich des Streikrechts und insbesondere der Kampfparität stehen. Arbeitgeberinnen werden sich daher darauf einstellen müssen, dass auf Grund dieser strukturellen Überlegenheit ihre Arbeitskampfmittel anders beurteilt werden können als die der Arbeitnehmer*innenseite. 

Die notorischen Außenseiter

„Streikbrecher*innen“ gelten meist als aufrührerisch, unsolidarisch, als Verräter an der eigenen Sache, Handlanger der Arbeitgeberin. Weil sie daher bei Arbeitnehmer*innen – milde ausgedrückt – nicht auf Begeisterung stoßen, versuchen Arbeitgeberinnen seit jeher, Streikbrecher*innen aus Minderheiten heraus zu rekrutieren. Vor allem der „Import“ fremder Arbeiter*innen, sei es aus anderen Unternehmen oder gar anderen Staaten, in die bestreikten Betriebe hat Tradition. Bereits im England des vorletzten Jahrhunderts holte man Streikbrecher*innen aus Irland und in St. Louis/Illinois trug etwa der Einsatz schwarzer Zugezogener als Streikbrecher*innen während des ersten Weltkriegs zu einem Gewaltexzess gegen die Schwarze Bevölkerung bei und löste erste Rassenunruhen aus. Auch heute ist die Rekrutierung betriebsfremder Arbeitskräfte ein Thema, so z.B., beim Einsatz von Beamt*innen als Streikbrecher*innen (vgl. ArbG Bonn vom 26.5.2015, 3 Ga 18/15). Der Beschluss des BVerfG zum Einsatz von Leiharbeitskräften unterstreicht, dass das Thema auch heute noch aktuell ist.

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war die Frage, ob § 11 Abs. 5 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) in seiner neuen Fassung vom 21. Februar 2017 mit der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 sowie der Eigentumsgarantie gem. Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar ist. § 11 Abs. 5 AÜG verbietet es Arbeitgeberinnen, im Falle eines Arbeitskampfes Leiharbeitskräfte einzusetzen. Bereits 2019 hatte die Kammer einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt (Beschluss vom 12.02.2019). 

Dreiecksbeziehungen

Die grundsätzlichen Voraussetzungen und Regeln zur Leiharbeit finden sich im AÜG. Dabei überlässt eine Arbeitgeberin (die sog. Verleiherin) einer Dritten (der Entleiherin) eine gewisse Anzahl ihrer Arbeitnehmer*innen zur Arbeitsleistung. Die überlassenen Arbeitskräfte unterliegen dann den Weisungen der Entleiherin und nicht denen ihrer ursprünglichen Arbeitgeberin, haben aber immer noch ein Arbeitsverhältnis mit der Verleiherin. Dass in diesem Dreiecksverhältnis Probleme entstehen, liegt wohl in der Natur der Sache. Eines der Probleme ist das der Arbeitskräfteüberlassung im Falle eines Streiks bei der Entleiherin: Findet ein Streik in einem Betrieb statt, so kann die bestreikte Arbeitgeberin anstelle der streikenden Stammbelegschaft Leiharbeitskräfte einsetzen, um den Betrieb aufrecht zu erhalten. Dies stellt – wie oben bereits skizziert – ein altbewährtes Mittel im Arbeitskampf auf Seiten der Arbeitgeberin dar. 

Leiharbeitskräfte, die als als Streikbrecher*innen eingesetzt werden, befinden sich regelmäßig in einer recht unglücklichen Position: Sie gelten als unsolidarisch und sind möglicherweise Schmähungen der Stammbelegschaft ausgesetzt. Denkbar ist auch, dass sich die Leiharbeitnehmer*innen selbst mit dem Streik solidarisieren wollen. Aus diesen Gründen soll keine Leiharbeitskraft zum Arbeitseinsatz als Streikbrecher*in gezwungen werden; es soll ihr freistehen, ob sie im bestreikten Betrieb tätig wird oder aber die Leistung verweigert. 

Um den Leiharbeitskräften in solchen Fällen die Wahl zu lassen, enthielt § 11 Abs. 5 AÜG ursprünglich (seit 1972) ein Leistungsverweigerungsrecht. Wenn Leiharbeitskräfte die Arbeit bei einer Entleiherin, die durch einen Arbeitskampf unmittelbar betroffen war, verrichten sollten, konnten sie von ihrem Leistungsverweigerungsrecht Gebrauch machen. Die Verleiherin musste sie auf dieses Leistungsverweigerungsrecht hinweisen (§ 11 Abs. 5 Satz 2 AÜG a.F.).

„Zwangssolidarisierung“, Berufsfreiheit und Kräftegleichgewicht

Im Zuge des Projekts „AÜG Reform“ der letzten Legislaturperiode, vorangetrieben von der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, ist das individuelle Recht zur Leistungsverweigerung zu einem generellen Verbot des Streikeinsatzes geändert worden. Die Entleiherin darf nun Leiharbeitskräfte während eines Streiks nicht mehr beschäftigen, es sei denn, sie stellt sicher, dass Leiharbeitnehmer*innen dezidiert keine Streikbruchtätigkeiten ausüben, d.h. keine Tätigkeiten, die von im Arbeitskampf befindlichen Stammbeschäftigen übernommen wurden. Dass diese Verschärfung verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen würde, war abzusehen. Sie stellt ein faktisches Streikverbot und damit einerseits eine „Zwangssolidarisierung“ der Leiharbeitskräfte mit den Streikenden dar. Dies könnte die negative Koalitionsfreiheit der Leiharbeitskräfte beeinträchtigen, d.h. ihre Möglichkeit beschränken, sich zu einem Streik gar nicht zu positionieren. Als Berufsausübungsregel könnten sie auch in ihrer Berufsfreiheit eingeschränkt sein. Andererseits wurde – und dies wiegt wohl schwerer – kritisiert, ein faktisches Streikverbot würde das Kräftegleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien der Arbeitgeberinnen- und Arbeitnehmer*innenseite einseitig zulasten der Arbeitgeberinnenseite verschieben. Dieser Aspekt bildete auch den Schwerpunkt des Beschlusses vom 6. August 2020.

Entscheidungserheblich für die Kammer war vor allem die Frage nach der Vereinbarkeit von § 11 Abs. 5 AÜG mit der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG. Diese Frage bejaht sie letztlich, insbesondere da der Gesetzgeber zwei legitime Ziele von erheblichem Gewicht verfolge: die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie in Form von Parität zwischen den Tarifvertragsparteien sowie den Schutz von Leiharbeitskräften vor Instrumentalisierung als Streikbrecher*innen.

In ihrem Beschluss setzt die Kammer das zentrale Argument der Beschwerdeführerin außer Kraft, dass ein Verbot des Streikbrecher*inneneinsatzes die Kampfparität zulasten der Arbeitgeberinnenseite verschiebe. Sie stellt fest, dass sowohl das Verbot als auch die Erlaubnis, Leiharbeitskräfte als Streikbrecher*innen einzusetzen, die Kampfparität verschieben kann. Grundsätzlich sei für die Arbeitnehmer*innenseite die Verhandlung auf Augenhöhe schwieriger, weil sie nicht wie die Arbeitgeberinnenseite die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und Arbeitsplätze habe. Deshalb müssten die Kampfmittel der Arbeitnehmer*innenseite stets anders bewertet werden, da sie sich von vornherein in einer strukturell unterlegenen Position befinde. Das Konzept der Arbeitnehmer*innenüberlassung im Arbeitskampf habe gerade zu einer Kräfteverschiebung zulasten der Gewerkschaftsseite geführt. Um ein Kräftegleichgewicht wiederherzustellen, kommt dem Gesetzgebern in diesem Kontext der so häufig zitierte weite Handlungs- und Gestaltungsspielraum zu. § 11 Abs. 5 AÜG stelle in diesem Kontext die gestörte Kampfparität also gerade wieder her.

Daneben erscheint dem BVerfG auch die Schutzdimension der Leiharbeitnehmer*innen erheblich. Diese seien nach der alten Fassung des AÜG schutzbedürftig, weil laut Feststellungen der Kammer Leiharbeitskräfte in der Vergangenheit kaum von ihrem Leistungsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hätten, um etwaige Entgelteinbußen zu verhindern und ihren Arbeitsplatz zu sichern. Der Kammer erschien daher ein allgemeines Verbot effektiver. Zu einer etwaigen Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit nimmt der Senat hingegen nicht Stellung.

Am Rande sei erwähnt, dass die Kammer in § 11 Abs. 5 AÜG keine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 und Art 12 Abs. 1 GG sieht. Sie lehnte die Verfassungsbeschwerde mangels Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung und mangels Verletzung in eigenen Rechten der Beschwerdeführerin bereits als unzulässig ab.

Ein wegweisender Beschluss

Die Entscheidung ist in vielerlei Hinsicht richtig. Es wird oft vergessen, dass der Arbeitgeberinnenseite mit der Aussperrung – der Ausschließung der Arbeitnehmer*innen von Arbeit und von Lohnzahlung – gerade ein unvergleichbar wirkmächtiges Kampfmittel zur Verfügung steht. Da die Leiharbeit trotz inzwischen rückläufiger Zahlen in Deutschland zum Alltag vieler Betriebe zählt, kann so das altbewährte Mittel des Streiks nahezu wirkungslos werden. Streikbruch war wohl nie so einfach wie mit dem Einsatz von Leiharbeitskräften. Diese Art der Arbeitskampfmaßnahme entfällt nun nach AÜG gänzlich. Dabei mag das Argument des BVerfG, dass der Einsatz von Leiharbeitskräften nicht insgesamt verboten ist, für die Arbeitgeberinnenseite nur ein schwacher Trost sein. Tatsächlich können sich Ver- und Entleiherin bei der Leiharbeit aber sowohl auf Art. 12 Abs. 1 GG wie auch unionsrechtlich auf die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV berufen. Ein weiterer Trost für die Arbeitgeberinnen ist, dass das BVerfG lediglich feststellt, dass allein das in § 11 Abs. 5 AÜG enthaltene Verbot mit der Koalitionsfreiheit vereinbar ist; es lässt aber offen, ob nach Art. 9 Abs. 3 GG bereits von Verfassungswegen der Einsatz von Leiharbeitskräften als Streikbrecher*innen ausgeschlossen ist. Damit bleibt die Möglichkeit bestehen, das Verbot bei veränderten parlamentarischen Mehrheiten wieder aufzuheben. 

Wegweisend für das gesamte Arbeitskampfrecht und die Grundrechtsdogmatik des Art. 9 Abs. 3 GG sind aber die Einlassungen der Kammer zu dem grundlegenden Kräfteverhältnis und der Art der Kampfmittel zwischen Arbeitgeberin und Gewerkschaft. In dieser Klarheit hat sich das Gericht darüber in seinen letzten Entscheidungen zu Art. 9 Abs. 3 GG nicht geäußert. 

Die Verfassungsbeschwerde zeigt, dass das Phänomen des Streikbruchs auch heute noch aktuell ist. Zwar werden Streikbrecher*innen nicht mehr systematisch aus dem Ausland oder aus einer sozial schwachen Gruppe rekrutiert, aber gerade der Bereich der Leiharbeit sieht sich oft dem politischen Vorwurf ausgesetzt, prekäre Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Daher stellt sich durchaus die Frage, inwiefern die Nutzung der Leiharbeit auch heute noch die historischen Probleme des Streikbrecher*inneneinsatzes widerspiegelt. Dass dies im Bereich der Leiharbeit gem. § 11 Abs. 5 AÜG nun nicht mehr möglich ist, erscheint richtig und historisch konsequent.


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