30 September 2013

Zwei Töchter, ein Bußgeld und das Amtsgericht Darmstadt

In den Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts findet man immer mal wieder kleine Schmuckstücke, die mangels Pressemitteilung kaum jemand bemerkt. In diesen Tagen staatsorganisationsrechtlicher Fundamentalverunsicherung ist es ganz erholsam, sich beispielsweise in dieses kleine Juwel hier zu vertiefen.

Der Fall ist wahrhaftig lebensnah: Ein Auto wurde mit Tempo 130 geblitzt, wo nur Tempo 100 erlaubt war, und hinterm Steuer saß die Tochter des Fahrzeughalters – nur hat er deren zwei, die sich offenbar ziemlich ähnlich sehen. Die Polizei schrieb eine davon an, die aber verweigerte die Aussage. Daraufhin erhielt sie einen Bußgeldbescheid über 120 Euro und drei Punkte in Flensburg.

Das ließ sich Tochter 1 aber nicht gefallen. Sie nahm sich einen Anwalt, der legte Einspruch ein: Tochter 1 sei nicht am Steuer gesessen, was ein “physiognomisches Sachverständigengutachten” belegen sollte.

(Was das für Sachverständige sind, möchte ich auch mal wissen. “Und was machen Sie so?” “Och, ich bin Gerichtsphysiognom…”)

Daraufhin entschied sich die Behörde, es gut sein zu lassen, und stellte das Bußgeldverfahren ein – wegen “geringer Schuld” allerdings (§ 47 I OWiG). Und die Anwaltskosten von 480,76 Euro – also das Vierfache des Bußgelds – sollte Tochter 1 selber tragen. Schließlich habe sie durch ihr Schweigen in der Anhörung selbst den Grund dafür gesetzt, dass der Bußgeldbescheid überhaupt erlassen wurde. Hätte sie gleich gesagt, dass die junge Frau auf dem Blitzerfoto genauso Tochter 2 sein könne, dann hätten sich alle viel Mühe sparen können. Mittlerweile sei es aber wegen Verjährung nicht mehr möglich, Tochter 2 mit einem Bußgeld zu belegen.

Das Amtsgericht Darmstadt fand diese Argumentation völlig in Ordnung, und dagegen zog Tochter 1 nach Karlsruhe: Das Verfahren sei nicht wegen “geringer Schuld” eingestellt worden, sondern um der Staatskasse Kosten zu ersparen. Im Übrigen habe die Polizei von der Existenz von Tochter 2 von Anfang selbst gewusst. Und selbst wenn nicht: Nach § 55 StPO habe sie das Recht gehabt, ihre Schwester nicht zu belasten und daher zu schweigen.

Sie bekam Recht. So könne man mit den Normen des Ordnungswidrigkeitenrecht nicht umspringen, befand die 3. Kammer des Zweiten Senats. Das sei willkürlich und daher nach Art. 3 I GG verfassungswidrig.

Zwar sehe § 109a II OWiG (im Beschluss heißt es § 109a StPO, Redaktionsschlamperei der Kammer offensichtlich) vor, dass Anwaltskosten des Beschuldigten nicht übernommen werden, wenn er sie durch rechtzeitiges Vorbringen hätte vermeiden können. Aber das sei Fällen vorbehalten, wo man es tatsächlich mit Missbrauch zu tun hätte. Wenn jemand dagegen seine Schwester schützen will, dann macht er nur von seinem guten Recht Gebrauch.

Fälle wie dieser, die i.d.R. unter der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit bleiben, zeigen sehr deutlich, was gerade auch die Urteilsverfassungsbeschwerde Wert sein kann. Es geht zwar nur um ein paar Hundert Euro, aber auch die sind keine Bagatelle, wenn darüber der Eindruck entsteht, Justiz und Verwaltung stünden in Einheit fest, um die Staatskasse auf Kosten der Bürger zu schonen.


5 Comments

  1. Gast Mon 30 Sep 2013 at 15:05 - Reply

    Einfachrechtlich wird man dem BVerfG sicher zustimmen können. Aber man muss vielleicht auch mal sagen, dass die Interpretation des Art. 3 I GG durch die Kammerrechtsprechung des BVerfG selbst eine willkürliche und deshalb verfassungswidrige Kompetenzanmaßung im Verhältnis zu den Fachgerichten darstellt. Das BVerfG macht sich hier längst zu der Superrevisionsinstanz, die es auch nach seinen eigenen Lippenbekenntnissen nicht sein darf.

  2. Aufmerksamer Leser Mon 30 Sep 2013 at 17:09 - Reply

    @Gast: Ja, völlig richtig. Ist aber kein Problem Kammer vs. Fachgerichtsbarkeit, sondern ein Problem von Art. 3 Abs. 1 GG. Das trifft nicht nur die arme Fachgerichtsbarkeit, sondern auch den Gesetzgeber (aber dann natürlich immer vom Senat persönlich).

  3. Hannah Tue 1 Oct 2013 at 01:47 - Reply

    Tja, mal nimmt das BVerfG/eine Kammer (IMO zu Recht, da Willkürgrenze überschritten, und daher nicht “einfach so” Superrevision) an, mal nicht. Da im letzteren Fall keine Begründung erfolgen muss, auch in nicht so 100% klaren Fällen, ist das nicht immer nachvollziehbar.

  4. Gleichheit Tue 1 Oct 2013 at 09:19 - Reply

    Ich frage mich, was dieser Fall mit Art. 3 I GG zu tun haben soll.

  5. Maximilian Steinbeis Tue 1 Oct 2013 at 09:20 - Reply

    @Gleichheit: Willkürverbot

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