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14 June 2021

Zwischen Revolution und Stillstand?

Ein neuer modus operandi

Es ist ein Montagmorgen im April 2020. Ich sitze vor meinem 15-Zoll-Laptop an meinem Schreib-/ Ess-/ Abstelltisch. Luftlinie etwa einen Meter von meinem Bett entfernt, einen Meter von meiner Küchenzeile.

08:47: Ein erster nervöser Blick auf die Uhr. Bereithalten, schon mal die Onlineseite der Deutschen Nationalbibliothek öffnen.

Es gibt 100 Plätze pro Tag und die sind heiß begehrt. Die kostenlosen Besuchertickets könnten auf dem Sekundärmarkt aktuell bestimmt erhebliche Preise erzielen. Leider gelten sie nur für eine bestimmte Benutzernummer.

08:51: Ich klicke sinnlos hin und her, ich kann förmlich spüren, wie mein Körper Cortisol ausschüttet.

08:57: Es wird langsam ernst, die Smartwatch an meinem Handgelenk zeigt einen Puls von 122.

08:59: ich aktualisiere die Seite zur Terminreservierung.

09:00 Auf der Seite erscheinen die Termine für den Montag der nächsten Woche. Ich klicke mich so schnell wie möglich durch die Felder, meine Daten werden mittlerweile schon automatisiert eingetragen – Anfrage abgeschickt.

09:01: Die Seite lädt – ist der Server überlastet? Ich schicke ein stummes Stoßgebet in Richtung Himmel.

09:02: Fehlermeldung: „Bitte buchen Sie einen neuen Termin“. Netter Hinweis, die Plätze sind längst vergeben.

Meine kleine emotionale Achterbahnfahrt, jeden Morgen aufs Neue. Jetzt erst mal eine Tasse Tee. Immerhin, der Weg zur Küche ist nicht weit. Kolleg:innen, die mich auf dem Weg dorthin in ein Gespräch verwickeln könnten, gibt es auch nicht. Ich kenne andere Doktorand:innen, die mehrere Freund:innen darauf ansetzen, einen Termin für sie zu reservieren. Mir hilft ab und zu mein Freund, der in einer Bank arbeitet und damit systemrelevant genug ist, um unverändert in seinem Büro arbeiten zu dürfen. Die Internetgeschwindigkeit dort ist scheinbar schneller als in meiner 1,5-Zimmer-Wohnung (ohne Balkon). Sie schien mir noch nie so klein wie in den letzten Wochen.

Mir bleibt jetzt nur noch die Hoffnung, einen spontanen Termin zu erwischen, falls jemand absagt. Da kann es dann aber wiederum mit der Bücherbestellung schwierig werden. Die braucht jetzt nämlich bis zu 5 Tage Vorlaufzeit. Man munkelt, selbst die Bücher müssten aktuell in Quarantäne.

19:32: Ich aktualisiere meine To-Do Liste. Mittlerweile 264 Titel auszuleihen.

Suchen, Sichten, Scannen. Foto: Elisabeth Schemmer.

Eine deduktive Wissenschaft

Gerade die Anfangsphase der Promotion ist sehr literaturla(e)stig. Insbesondere in einer tendenziell deduktiv geprägten Wissenschaft wie den Rechtswissenschaften. Manche sprechen gar von dem „großen Kopierschein“, den sich Doktorand:innen zu Beginn ihres Forschungsvorhabens erarbeiten müssen.

Wann immer ich auf eine neue Publikation stoße, die für mich interessant klingt, klicke ich mich hoffnungsvoll durch meine drei verschiedenen Onlinezugänge von Universität, Stipendium und der Kanzlei, in der ich während des Referendariats gearbeitet habe. Die alten Werke aus dem Spezialgebiet der Finanzmarktregulierung, zu dem ich promoviere, sind dort aber in der Regel nicht enthalten. Zu teuer, zu speziell, zu (un)kommerziell? Für mich ist es jedes Mal wieder ein kleines (je nach allgemeiner Stimmungslage auch mal größeres) Ärgernis. Oft weiß ich erst, wenn ich den Titel in der Hand halte, ob und wie wichtig er für mich wirklich ist. Oft bringt mich ein Titel über seine Nachweise auf weitere Titel, die ich meiner Liste hinzufügen muss. Exponentielles Wachstum. Bei der Literaturrecherche liegt mein ganz persönlicher „R-Wert“ liegt wohl um die 6,5 – ein gesichteter Titel führt zu 6,5 weiteren zu sichtenden Titeln. Eine Endlosspirale, in wissenschaftlicher Sorgfalt immer auf der Suche nach der Primärquelle. In Zeiten, in denen ich nicht mal eben durch die Bücherregale schlendern kann und die Titel aus Zeitgründen in der Regel erst scanne und dann später zuhause ausführlich lesen und analysieren kann, beginne ich zu verstehen, wie sich Sisyphus hinter seinem Felsblock gefühlt haben muss.

Meine Ausbildung hat mich vor allem gelehrt, effizient sein zu müssen. An faktische Grenzen zu stoßen und davon ausgebremst zu werden, passt dazu so gar nicht. Immerhin nur ein Ärgernis. Eigentlich stehe ich doch immer noch besser da als meine Referendarskolleg:innen, die nach jahrelanger Ausbildung zu der denkbar schlechtesten Zeit auf den Jobmarkt gespült wurden.

Zwischen Dystopie und Utopie

Man kann von der der Wissenschaft in Pandemiezeiten sicherlich ein dunkles Bild zeichnen. Alltag in einsamen Kämmerlein. Probleme bei der Literaturbeschaffung. Jüngste Veröffentlichungen (Angelici, M.; Profeta, P. (2020)) indizieren aber auch, dass die Flexibilität von Smart-Working die Produktivität von Arbeitnehmer:innen steigert und ihr Wohlbefinden und ihre Work-Life-Balance verbessert. Nun haben Wissenschaftler:innen tendenziell wenig Probleme damit, sich selbst zu beschäftigen. Positive Effekte bemerke ich aber auch persönlich. Zwischen zwei „Pomodoro“-Zeiten kann ich auch mal eine Waschmaschine einschalten. Da ich jetzt alle wichtigen Quellen in sorgfältig sortierten Ordnerstrukturen auf meiner Cloud abgelegt habe, bin ich räumlich und zeitlich noch flexibler geworden. Bei schönem Wetter kann ich mich sogar ein paar Stunden in den Park setzen – zumindest, solange mein Akku hält und der Platz unter der großen Linde, die mich und mein Display vor zu viel Sonne schützt, frei ist.

Es gibt nicht viele Bereiche, die sich so resistent vor Veränderungen gesperrt haben wie die Rechtswissenschaften. Man denke nur an den Bolognaprozess oder die Tendenz zu kumulierten Promotionen in anderen Wissenschaften. Die deutsche Juristenausbildung haben all diese Entwicklungen unberührt gelassen. Die Kraft des Faktischen hat mittlerweile auch den stärksten Verfechter:innen der Anwesenheitspflicht gezeigt, dass Arbeit von Zuhause aus möglich ist und wie fast alles auch eine zweite, positive Seite hat, die mit all den Nachteilen korreliert. Es mutet fast ein wenig ironisch an, dass die physische Distanz gleichzeitig Hürden abbauen kann. Videocalls gab es schon lange vor dem Lockdown, noch nie war ein Termin aber so schnell vereinbart wie dieser Tage eine Einladung zum Zoom-Meeting verschickt ist. Veranstaltungen können einem viel breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Und das völlig unabhängig von geographischen und hierarchischen Grenzen.

Die Pandemie könnte als Katalysator für eine längst überfällige Digitalisierung der Wissenschaft dienen. Ich bin sicherlich nicht die erste, die all diese Seiten scannt. Open Access, Open Data, Open Science – diese Ansätze bergen das Potenzial erhöhter Transparenz, höherer Forschungsqualität und breiterer gesellschaftlicher Teilhabe. Digitalisierung könnte eine offene Innovationskultur ermöglichen, in der Daten, Informationen und Ideen frei eingebracht und ausgetauscht werden können. Es könnten neue Formen der Zusammenarbeit entstehen, über geographische und disziplinäre Grenzen hinweg.

Moderne Bildung als gesamtgesellschaftliches Gut höchsten Rangs mit freiem Zugang für jedermann und zu jeder Zeit – wäre das nicht ein schöner Gedanke?  Oder male ich damit ein Schreckgespenst der (Print-)Medienbranche auf den Bildschirm? Natürlich gibt es berechtigte urheberrechtliche und wirtschaftliche Bedenken. Für einige davon könnte die Digitalisierung selbst Lösungen bereithalten. Beispielsweise kann die Blockchain-Technologie auch dazu genutzt werden, um einen manipulationssicheren Nachweis der Urheberschaft zu ermöglichen. Mit zunehmender Digitalisierung neuer und bereits existierender Literatur wird der Datenpool, den Plagiatsprogramme zur Überprüfung heranziehen, immer größer – und ihre Ergebnisse damit immer verlässlicher. Die Arbeit der Autor:innen, Lektor:innen und Redakteur:innen kann sie aber nur begrenzt ersetzen.

Ob und wie ein freier digitaler Zugang finanzieren werden kann, ist daher schon schwieriger zu beantworten. Bleibt ein Fortschritt in Richtung Digitalisierung also, wie so oft, eine Frage des Geldes? Die Forschung – Bildung ganz generell – ist ein großes Privileg. Ich würde es nicht missen wollen, mich mit solch geistiger und zeitlicher Freiheit unvoreingenommen in ein Thema meiner Wahl vertiefen zu dürfen. Fairerweise, auch ich kann und will es mir aber nicht leisten, alle verfügbaren E-Books selbst zu kaufen. Lässt sich das mit erhöhten Studiengebühren lösen oder ist Bildung und Wissenschaft eine staatlich (noch mehr) zu fördernde Pflichtaufgabe? Von Forschung und Innovation profitiert schlussendlich die gesamte Gesellschaft. Wenn ich an meine eigene Dissertation denke, fühlt sich das vielleicht ein wenig vermessen an. Ich bin nicht sicher, auf wie viele Leser: innen meine Arbeit hoffen darf. Dennoch, andere forschen ja immerhin nach den großen gesellschaftlichen Fragen. Oder nach Impfstoffen gegen Viren. Wer entscheidet eigentlich, was qualitativ hochwertig (genug) ist, wer förderungswürdig (genug) ist, um auch in einer Welt des freien Zugangs für Jedermann noch von dieser Arbeit leben zu können? Der freie Markt? Die „Scientific Community“? Hat die überhaupt die erforderlichen Mittel oder ist sie selbst nur permanent auf der Jagd nach Drittmitteln für unabhängige Forschungsprojekte? Ist es vielleicht an der Zeit, noch einen Schritt weiter zurückzutreten und Entlohnungssysteme und Tätigkeitsmodelle in Frage stellen?

Not macht erfinderisch. Krisen können als Chancen für neue Denkanstöße dienen. Es liegt an uns, sie zu nutzen. Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, irgendwo dazwischen. Zwischen Revolution und Stillstand. Zwischen Lockdown und Präsenzpflicht am Lehrstuhl.

Home Office. Foto: Elisabeth Schemmer.

Veränderung

Man sagt, der Mensch braucht durchschnittlich drei Monate, um sich an Veränderungen anzupassen – positive wie negative. Ich bin nicht sicher, wie lang es bei mir gedauert hat. Am Anfang habe ich die Pandemie noch mit Interesse beobachtet. Weltweit noch nie dagewesene Grundrechtseinschränkungen, ohne dass sie von den Adressat:innen groß in Frage gestellt wurden. Eine Phase, über die man noch in Geschichtsbüchern lesen würde – und ich mittendrin. Entschleunigung im sonst eher hektischen Alltag. Eine Idee, der ich in Zeiten, in denen Achtsamkeit zur neuen Softskill Nummer 1 mutiert, durchaus einiges abgewinnen kann. Lange würde das ja ohnehin nicht andauern. Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Ein bisschen erinnert es mich an die Phasen der Trauer. Trauer um Freiheiten, die allzu selbstverständlich geworden sind. Um einen ganzen Lebensstil.

Mittlerweile bin ich umgezogen, in eine größere Wohnung. Immer noch ohne Balkon, dafür mit Zugang zum Dach, eigenem Büro und meinem Freund. Ich habe eine Doktorand:innengruppe gefunden, die sich noch nie persönlich getroffen hat. Den zweiwöchentlichen Treffen tut das aber keinen Abbruch. Der wissenschaftliche Austausch, den ich am Lehrstuhl so genossen habe, hat mir gefehlt. Zu hören, dass andere mit denselben kleinen und großen Problemen kämpfen, ist erstaunlich heilsam. Die Titel auf meiner To-do Liste habe ich eingescannt – und noch viele andere mehr. Ich scanne nun im Schichtbetrieb nach vorher gebuchten Zeitslots:

14:35: Ein guter Tag, 11 von 13 Titeln standen am angegebenen Ort. Wie war das nochmal mit dem Verlustanzeigeformular?

15:01: Kapitel V. klingt spannend, das muss ich bei Gelegenheit auf jeden Fall noch genauer lesen.

15:55: Mist, schon wieder verwackelt. Nochmal scannen. Ein gut trainierter Affe könnte das bestimmt mindestens genauso gut. War das politisch inkorrekt? Abwertend gegenüber mir oder dem Affen?

16:27: Ich brauche dringend eine neue Playlist.

17:04: Schon wieder ein Eselsohr, wer geht denn so mit Büchern um? Bestimmt die übereifrigen Erstis.

17:30: Weniger denken, schneller umblättern! Nur noch 30 min für 5 Titel

Das wissenschaftliche Arbeiten hatte ich mir zugegebenermaßen ein bisschen anders vorgestellt. Nicht nur einmal ist es mir passiert, dass ich Wochen später merke, dass ich gerade das Kapitel, das ich später noch viel interessanter finden würde, aus Zeit- und Speicherkapazitätsgründen ausgespart habe. Halb so wild, der nächste Slot kommt bestimmt.

Eine große digitale Transformation der Wissenschaft werde ich in meiner Promotion wohl nicht mehr erleben. Dafür sind Vorbehalte und Hürden zu groß, Vorschläge zu zaghaft und mit zu wenig folgenden Taten. Ich für meinen Teil habe aber fest vor, einer digitalen (Zweit-)Publikation meiner Dissertation zuzustimmen. Vielleicht also zumindest eine Revolution in kleinen Schritten.


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