17 May 2014

Zwischen Stabilität und Wandel: die norwegische Verfassung wird 200 Jahre alt

Norwegen feiert heute den 200. Geburtstag der Verfassung vom 17. Mai 1814. Von den Verfassungen, die heute in Kraft sind, ist nur die U.S.-Verfassung von 1787 älter. Was stand 1814 in der norwegischen Verfassung, und wie sieht sie heute aus? Wie konnte sie so lange überdauern?

Jedes Jahr am 17. Mai feiert Norwegen die Annahme der Verfassung von 1814. Der Tag, an dem sich die Mitglieder der Reichsversammlung auf den Text der Verfassung einigten, ist auch Norwegens Nationalfeiertag. Die jährlichen Feiern sind ein Zeichen dafür, wie wichtig die Verfassung für die Geschichte Norwegens ist: Sie ist ein Symbol für die Geburt des unabhängigen norwegischen Staates nach der jahrhundertelangen Union mit Dänemark. Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten sind Unabhängigkeit und Staatlichkeit Norwegens mit der Verfassung verbunden. Die Ereignisse des Jahres 1814, in deren Folge die Verfassung entstand, werden landläufig als eine Geschichte der Nationwerdung erzählt, und die Verfassung wurde auf diese Weise fest im historischen Bewusstsein Norwegens verankert.

Eine Revolutionsverfassung in Zeiten der Restauration

Im Jahre 1814 und während des 19. Jahrhunderts war die norwegische Verfassung eine der liberalsten Verfassungen Europas. Ihre Autoren waren beeinflusst von den Revolutionsverfassungen in den Vereinigten Staaten und in Europa, vor allem von der französischen Verfassung von 1791. Wichtige politische Errungenschaften dieser Zeit, wie die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und das Gleichheitsprinzip wurden von den Autoren der norwegischen Verfassung aufgenommen, auch wenn diese Prinzipien nicht wie in anderen Verfassungen dieser Zeit ausdrücklich im Verfassungstext aufgeführt wurden.

Der Verfassung von 1814 zufolge hatte der König die ausführende Gewalt inne. Dem Vorbild der französischen Verfassung von 1791 entsprechend war die Rolle des Königs in der Gesetzgebung aber auf ein aufschiebendes Veto beschränkt. Im Gegensatz zu den meisten monarchischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts lag die gesetzgebende Gewalt also fest in der Hand der Volksvertreter.

So wie die französische Verfassung und andere Revolutionsverfassungen der 1790er Jahre schaffte auch die norwegische Verfassung den Adel ab. Gemessen am Standard des 19. Jahrhunderts war der Kreis der Wahlberechtigten groß, auch wenn für das Wahlrecht ein bestimmtes Einkommen und Vermögen gefordert wurden. Im Jahre 1814 stand so 45% der männlichen norwegischen Bevölkerung über 25 Jahre das Wahlrecht zu – im Vergleich zu späteren europäischen Verfassungen war dies liberal.

Die späteren verfassungsrechtlichen Entwicklungen in Europa ließen die liberalen Züge der norwegischen Verfassung besonders hervortreten. In der Folge der Napoleonischen Kriege und des Wiener Kongresses 1814-1815 wurden in den Verfassungen im Europa des 19. Jahrhunderts viele Grundsätze der Revolutionszeit wieder zurückgewiesen – zum Beispiel die Volkssouveränität. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung blieb die Liberalität der norwegischen Verfassung, mit einem starken Parlament und einem umfassenden Wahlrecht, lange einzigartig in Europa. In vielerlei Hinsicht war die norwegische Verfassung von 1814 so die letzte und die einzig bleibende Revolutionsverfassung Europas im Gefolge der Französischen Revolution.

Vom Jesuitenverbot zu säkularen Zeiten

Gleichzeitig war die norwegische Verfassung aber bemerkenswert illiberal, wenn es um Religion ging. Artikel 2 der Verfassung legte die evangelisch-lutherische Staatsreligion fest und verbot Juden, Jesuiten und Mönchsorden den Aufenthalt im Königreich. Das Einwanderungsverbot für Juden wurde 1851 aufgehoben, Mönchsorden durften sich ab 1897, Jesuiten sogar erst ab 1956 in Norwegen aufhalten. Seit 1964 ist die Religionsfreiheit ausdrücklich in der Verfassung verankert. Die Staatsreligion wurde 2012 abgeschafft. Im gleichen Zug wurde Artikel 2 der Verfassung in eine Erklärung über die Werte und Ziele der Verfassung umgewandelt:

Die Wertgrundlage bleibt unser christliches und humanistisches Erbe. Diese Verfassung soll die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte sichern.

Der Wandel von Artikel 2 – von der Vorschrift des Jahres 1814, die eine Staatsreligion festschrieb, zu einer umfassenden und säkularen Erklärung moderner Verfassungswerte – ist beispielhaft für die Veränderungen der norwegischen Verfassung in den vergangenen 200 Jahren. Zwar begeht Norwegen dieses Jahr den 200. Geburtstag der Verfassung, doch die Verfassung in ihrer heutigen Form unterscheidet sich stark von der Verfassung des Jahres 1814.

Änderungen halten die Verfassung jung

Die norwegische Verfassung ist mehr als 300 Mal geändert worden. Zum Vergleich: die U.S.-Verfassung von 1787 wurde nur 27 Mal geändert. Nur 23 Artikel der norwegischen Verfassung sind seit 1814 unverändert geblieben; vier Fünftel der Vorschriften der Verfassung sind also mindestens einmal geändert worden. In jeder vierjährigen Legislaturperiode wurden viele Änderungen vorgeschlagen, aber nur wenige angenommen. Trotzdem hat das Parlament seit 1905 in jeder Legislaturperiode durchschnittlich sieben bis acht Mal die Verfassung geändert.

Einige der Änderungen waren eher technischer oder sprachlicher Natur, während mit anderen wichtige politische Veränderungen verbunden waren. So wurde 1911 die Macht des Königs beschnitten, indem seine Entscheidungen unter den Vorbehalt der Zustimmung durch die Regierung gestellt wurden. 1913 wurde das allgemeine Wahlrecht eingeführt, 1963 ein Verfahren zur Abgabe von Souveränitätsrechten an internationale Organisationen.

Die informelle Verfassung hinter dem Text

Neben den formalen Verfassungsänderungen fand aber auch ein informeller Wandel des politischen Systems statt, durch den die Verfassung faktisch geändert wurde. Diese informellen Änderungen waren wahrscheinlich entscheidend für die Langlebigkeit der Verfassung: Sie ermöglichten einen sanften Übergang von der Gewaltenteilung des 19. Jahrhunderts zu dem heutigen parlamentarischen System, in dem der König keine politische Rolle mehr spielt.

Das parlamentarische System wurde in Norwegen 1884 ohne Verfassungsänderung eingeführt, in der Folge eines dramatischen und hoch umstrittenen Urteils in einem Amtsenthebungsverfahren. Artikel 12 der Verfassung legt fest, dass der König eine Regierung seiner Wahl ernennt. Seit den 1890er Jahren hat der König aber nie eine Regierung ernannt, die nicht die Unterstützung einer parlamentarischen Mehrheit hatte.

Die Pflicht der Regierung, nach einem Misstrauensvotum zurückzutreten, wurde sogar erst 2007 in die Verfassung aufgenommen. Dieses Grundprinzip des norwegischen Parlamentarismus hatten Verfassungsrechtler bereits seit etwa 100 Jahren als Verfassungsgewohnheitsrecht mit dem selben Rang und der selben Geltung wie geschriebenes Verfassungsrecht anerkannt. Die Existenz von Verfassungsgewohnheitsrecht neben der geschriebenen Verfassung ist ein besonderes und durchaus umstrittenes Element des norwegischen Verfassungsrechts.

Auch ein weiteres Schlüsselelement des norwegischen Verfassungsrechts, judicial review, ist nicht in der Verfassung niedergelegt. Doch schon seit den 1820er Jahren hat der Høyesterett, das höchste norwegische Gericht, die Anwendung verfassungswidriger Gesetze ausgesetzt. Das norwegische System des judicial review ist damit vermutlich das älteste Europas; nur die Vereinigten Staaten (wo judicial review ja auch nicht in der Verfassung verankert ist) können auf eine längere Tradition verweisen.

Neben diese informellen Änderungen trat eine flexible Auslegung der Verfassung, um sie an den Wandel der norwegischen Gesellschaft und der internationalen Beziehungen anzupassen. Ein Bespiel ist Artikel 1 – Norwegens Unabhängigkeitserklärung, die festlegt, dass Norwegen ein „freies, unabhängiges, unteilbares und unveräußerliches Königreich ist“. Während der Personalunion mit Schweden zwischen 1814 und 1905 wurde in dieser Vorschrift ein strenges Verbot schwedischer Einmischung in norwegische Angelegenheiten gesehen. Im Zuge wachsender internationaler Zusammenarbeit seit 1945 wurde die Unabhängigkeitsklausel des Artikels 1 im Kontext dieser Entwicklungen ausgelegt. Das traditionelle Souveränitätsverständnis der Verfassung wurde durch den Eintritt Norwegens in den Europäischen Wirtschaftsraum und die daraus folgende Anbindung an die EU besonders herausgefordert.

Verfassungsänderungen zum Jubiläum: Sprachreform und Menschenrechte

In den vergangenen zehn Jahren wurde die norwegische Verfassung mehrmals geändert, um den Text mit Änderungen im politischen System in Einklang zu bringen und an aktuelle Entwicklungen anzupassen. Anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der Verfassung wurden jüngst zwei wichtige Änderungen angenommen: Am 6. Mai wurde die Sprache der Verfassung modernisiert. Das bis dahin verwendete Dänisch des 19. Jahrhunderts war für heutige Leser in Norwegen kaum mehr verständlich. Am 13. Mai verabschiedete das Parlament außerdem die Aufnahme eines vollständig neuen Menschenrechtsabschnitts in die Verfassung.

In der Gesamtschau wird deutlich, wie sehr sich die Verfassung Norwegens heute von jener Verfassung unterscheidet, die 1814 verabschiedet wurde. Doch das Grundgerüst der Verfassung und ihre Institutionen sind im Wesentlichen gleich geblieben. Dieser Kontinuität ist es zu verdanken, dass der historische Zauber der Verfassung auch ihre neueren Bestimmungen einschließt. So sprechen wir in Norwegen heute, trotz aller Änderungen, immer noch von der Verfassung von 1814.

Die norwegische Verfassung ist eine bemerkenswerte Geschichte von Stabilität und Wandel, in der sich die Entwicklung des modernen Staates und der Demokratie in Norwegen widerspiegelt. Das ist es vermutlich, was wir dieses Jahr wirklich feiern.

Übersetzung aus dem Englischen: Filip Bubenheimer


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17 May 2014

Norway’s constitution at 200 years: a story of stability and change

Today Norway celebrates the 200th anniversary of its constitution of May 17, 1814. Of the world’s constitutions in force today, only the US constitution of 1787 is older than the Norwegian constitution. So what kind of constitution is the Norwegian constitution, in 1814 and today? How has it endured for so long?

In Norway, the adoption of the constitution is celebrated widely every year on May 17. The date for the constitution’s adoption is also Norway’s National Day. The annual celebrations are evidence of the constitution’s great historical significance for Norway as it symbolises the birth of the independent Norwegian state after centuries in a union with Denmark. Similar to the United States, Norwegian independence, statehood and the constitution go hand in hand. The events in 1814 that lead to the constitution are commonly told as a story of the nation’s genesis, ever entrenching the constitution in the Norwegian historical consciousness.

A revolutionary constitution at a time of restoration

In 1814 and during the 19th century, the Norwegian constitution was one of the most liberal constitutions in Europe. The Norwegian framers were inspired by the preceding revolutionary constitutions in the United States and in Europe, in particular the French constitution of 1791. Key political principles of the time, like the sovereignty of the people, the separation of powers and the equality of man, were adopted by the framers, even though these principles were not declared in the constitution’s text like in other constitutions at the time.

According to the 1814 constitution the king was given the executive power, but importantly, following the French model of 1791, his role in legislation was limited to a suspensive veto only. Thus unlike most of the European monarchical constitutions of the 19th century, the all-important legislative power was placed firmly in the hands of the representatives of the Norwegian people. Like the French and other revolutionary constitutions of the 1790s, the Norwegian constitution also abolished nobility. The suffrage was wide by 19th century standards, even though the constitution did impose income and property requirements. In 1814 around 45% of Norwegian men above the age of 25 qualified for the right to vote, which was liberal compared to later European constitutions.

The liberal character of the Norwegian constitution was emphasised by later constitutional developments in Europe. Following the Napoleonic wars and the settlement at the Congress of Vienna in 1814-15, European 19th century constitutionalism rejected many of the constitutional principles from the revolutionary era, including the sovereignty of the people. Due to this development, the Norwegian constitution with its strong parliament and wide suffrage remained a uniquely liberal constitution in Europe for much of the 19th century. In many ways, the Norwegian 1814 constitution was the last and the only lasting revolutionary constitution in Europe following the French revolution.

From the ban of Jesuits to the age of secularism

At the same time, the Norwegian constitution was notoriously illiberal concerning religion. Its article 2 established Lutheranism as the state religion, and banned Jews, Jesuits and clerical orders from the kingdom. The ban on Jews was abolished in 1851, the ban on clerical orders in 1897 and the ban on Jesuits was abolished only in 1956. Since 1964 the constitution has explicitly proclaimed the freedom of religion, and the state religion was abolished in 2012. At the same time article 2 of the constitution was transformed into a declaration of the current constitution’s object and purpose:

Our values will remain our Christian and humanist heritage. This Constitution shall ensure democracy, a state based on the rule of law and human rights.

The transformation of article 2, from imposing a state religion in 1814, to today’s wide and secular declaration of modern constitutional values, symbolises the transformation of the Norwegian constitution during these 200 years. Even though Norway this year celebrates the 200 years anniversary of the constitution, today’s constitution is very different from the 1814 constitution.

Amendments kept the constitution young

Over the years, the constitution has been formally amended more than 300 times. In comparison, the US constitution of 1787 has only been amended 27 times. In the Norwegian constitution, only 23 articles have remained unchanged since 1814. This means that about 4/5 of the constitution’s articles have been amended at least once. During every four year term of the parliament, numerous amendment proposals are presented, though most are not adopted. Still, since 1905, the parliament has on average adopted 7-8 amendments in each four year term.

Amendments range from technical or even linguistic adjustments to important political changes like the 1911 amendment to curb the king’s personal powers by making his decisions subject to approval by the government, the introduction of universal suffrage in 1913 and the introduction of a procedure for the transfer of sovereignty to international organisations in 1963.

Behind the text, an informal constitution

In addition to the many formal amendments, the Norwegian constitution has also been subject to important informal changes in the political system. These informal changes have probably been vital for the constitution’s longevity as they allowed for a smoother transition from the 19th century separation of powers system to today’s parliamentary system where the king no longer plays a part in politics.

Following a dramatic and highly controversial impeachment judgement in 1884, the parliamentary system was introduced in Norway without constitutional amendment. Article 12 of the constitution says that the king is free to appoint a government of his own choosing. Yet since the 1890s, the king has never appointed a government without the support of a majority in the parliament. Moreover, the government’s legal obligation to resign following a vote of no confidence in the parliament was only written into the constitution in 2007. For about 100 years this key principle of the Norwegian parliamentary system was described by constitutional lawyers as customary constitutional law having the same rank and force as the written constitution. The existence of a separate body of customary constitutional law is a peculiar and somewhat controversial feature of Norwegian constitutional law.

Another key feature of Norwegian constitutional law, judicial review, isn’t stated in the constitution either. Yet since the 1820s, the Norwegian Supreme Court has exercised judicial review in individual cases by setting aside legislation contrary to the constitution. This long lasting practice probably makes the Norwegian system of judicial review the oldest in Europe, again second only to the United States (which, by the way, doesn’t state judicial review in the constitution either).

In addition to informal changes, the Norwegian constitution has also been interpreted flexibly in order to adapt it to changes in society and international relations. One example is article 1, which is Norway’s declaration of independence and which states that Norway “is a free, independent, indivisible and inalienable Realm”. During the personal union with Sweden between 1814 and 1905, this provision was interpreted strictly as to prevent any Swedish influence in Norwegian affairs. Following the development of more comprehensive international co-operation after 1945, the independence clause in article 1 has been interpreted in light of these developments. In particular the constitution’s traditional notion of sovereignty has been challenged by Norway’s association with the EU through the 1992 EEA Agreement.

Bicentennial amendments: language reform and human rights provisions

During the last ten years though, the Norwegian constitution has been subject to several reforms with the aim to bring the constitution’s text up to date with changes in the political system and contemporary requirements. On the occasion of the constitution’s bicentenary, two important amendments have just recently been adopted. On May 6 this year the constitution’s language, which until then was 19th century Danish and hardly comprehensible for modern Norwegian readers, was modernised. Then, on May 13, the Norwegian parliament adopted a whole new chapter of human rights in the constitution.

All in all, then, today’s Norwegian constitution is very different from the constitution that was adopted in 1814. Yet the constitution’s basic framework and its institutions remains pretty much the same. This framework of continuity allows for the constitution’s historical magic to shine even on the constitution’s new provisions and arrangements. That is why we still speak of the 1814 constitution in Norway despite its numerous amendments.

The Norwegian constitution is a remarkable story of both stability and change, mirroring the evolution of the modern Norwegian state and democracy. That, I suppose, is what we are really celebrating in Norway this year.

 


One Comment

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