14 April 2015

Betreuungsgeld in Karlsruhe: Wenn Bayern für mehr Zentralismus kämpfen

Beim Stichwort Betreuungsgeld fällt jedem, der die politische Debatte der letzten Jahre verfolgt hat, eine Menge Kopfschüttelnswertes ein. Wenn nun in ein paar Monaten das Bundesverfassungsgericht das Betreuungsgeld in seiner aktuellen Form für verfassungswidrig erklärt – und das scheint mir nach der heutigen Verhandlung vor dem Ersten Senat in der Tat nicht ganz unwahrscheinlich – , dann wohl nicht wegen seiner gleichheits- und sozialpolitischen Auswirkungen, sondern wegen der politisch sonst so notorisch irrelevanten Frage der Gesetzgebungskompetenz. Es sieht ganz so aus, als habe der Bundesgesetzgeber damit seine föderalen Zuständigkeiten überschritten und im Revier der Länder gewildert. Gratuliere, CSU! Es wird bestimmt viel Spaß machen, das den paar Bayern, die tatsächlich noch an die bundesstaatliche Gewaltenteilung glauben, zu erklären.

Der Bund ist bekanntlich nicht automatisch für alles zuständig, was ihm regelungswürdig erscheint. Er braucht erstens eine Kompetenz – in diesem Fall wohl die für die “öffentliche Fürsorge” (Art. 74 I Nr. 7 GG). Vor allem aber muss er, wenn er von dieser Kompetenz Gebrauch macht, zeigen können, dass sein Tätigwerden für die “Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet … erforderlich” ist. Kann er das nicht, dann hat er nach dem Grundgesetz das Feld den Ländern zu überlassen.

Und ob ihm im Fall des Betreuungsgelds gelungen ist, diese Erforderlichkeit zu beweisen, daran scheint man auf der Richterbank des Ersten Senats doch ziemlich heftige Zweifel zu hegen.

Die längste Zeit war diese Schranke des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums des Bundes weitgehend bedeutungslos. In seiner ursprünglichen Fassung verlangte das Grundgesetz nur ein “Bedürfnis” für eine bundeseinheitliche Regelung, nicht ein “Erfordernis”, und ob das vorliegt oder nicht, war nach der Rechtsprechung des BVerfG weitgehend dem Bund zur Beurteilung überlassen. Das ließ sich der nicht zweimal sagen.

Seit der Grundgesetzreform 1994 gilt das aber nicht mehr. 2002 erklärte das BVerfG im Altenpflege-Urteil, die Erforderlichkeit fortan strikt kontrollieren zu wollen. Der Bund dürfe erst dann handeln,

wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.

Der Bund, vertreten durch den Kölner Staatsrechtslehrer Michael Sachs und sekundiert vom Freistaat Bayern mit seinem Prozessvertreter Martin Burgi aus München, argumentiert so: Das Betreuungsgeld dürfe man nicht isoliert betrachten, sondern als Teil eines gesetzgeberischen “Gesamtkonzepts”. Im Altenpflege-Urteil hatte das BVerfG befunden, dass die Kompetenzkontrolle nicht einzelne Teile eines gesetzgeberischen Ganzen, das an sich der Erforderlichkeitsklausel genügt, hinausschießen darf. Ein solches Ganzes, so Sachs und Burgi, sei aber die Bundesgesetzgebung zur frühkindlichen Betreuung, mitsamt Kita-Ausbauprogramm und den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz und eben das Betreuungsgeld. Das sei alles eng verzahnt miteinander, und zwar von vornherein: Schon in dem Gesetz von 2008, das den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz schuf, sei angekündigt worden, dass ab 2013 Eltern, die davon keinen Gebrauch machen, eine “monatliche Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld)” erhalten sollten. Und als Gesamtkonzept sei die bundeseinheitliche Regelung jedenfalls erforderlich genug, angesichts der großen Unterschiede im Angebot an Kita-Plätzen, aber auch in der Akzeptanz der staatlichen Kinderbetreuung.

Diese Darstellung eines harmonischen Ganzen aus Betreuungsgeld und Kita-Ausbau kauften die Richter_innen den beiden Professoren aber nicht unbesehen ab. Die Senatsmitglieder wissen schließlich auch, wie dieses “Ganze” zustande gekommen war – als typischer politischer Kompromiss.

Der Senatsvorsitzende Ferdinand Kirchhof stieß sich daran, dass auf diesem Wege womöglich der bloße “politische Wille” des Gesetzgebers sein eigenes Handeln verfassungsmäßig machen könnte. Johannes Masing wollte wissen, ob der Bund unter dieser Prämisse nicht alles mögliche regeln könne, bis hin zum Schulsystem. Andreas Paulus beharrte darauf, dass beim Betreuungsgeld schon erkennbar sein müsse, dass der Gesetzgeber damit wirklich gleichwertige Lebensverhältnisse herstellen wollte. Das wäre aber allenfalls dann erkennbar, wenn das Betreuungsgeld als “Trostpflaster” für Eltern gedacht gewesen sei, denen man noch keinen Kita-Platz anbieten kann. Das war es aber nicht. Es war als Alternative zur Kita gedacht, nicht als Ersatz.

Sachs verwies darauf, dass das Grundgesetz selbst einen Gesamtzusammenhang herstelle, wenn es in Art. 6 II den Staat verpflichtet, das natürliche Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder zu schützen. Nicht alle Eltern wollen ihre Kinder in die Kita schicken – ihre Wahlfreiheit zu wahren, dies sei die Komponente, die das Betreuungsgeld im Rahmen des Gesamtkonzepts zur frühkindlichen Kinderbetreuung leiste. Aber dass der Senat diesen Weg mitgeht und grundrechtliche Schutzaufträge auf die Kompetenzordnung zurückwirken lässt, scheint mir nicht sehr wahrscheinlich.

Sachs und Burgi machten klar, dass sie es am liebsten sähen, wenn der Senat die strengen Fesseln des Altenpflege-Urteils lockern und dem Bund rundwegs eine Einschätzungsprärogative einräumen würde: Was der Bund für nötig hält, um sein gesetzgeberisches Programm zu komplettieren, ist dann seine Verantwortung, nicht die des Gerichts. In seiner Erbschaftsteuer-Entscheidung vom Dezember 2014 hatte der Senat dem Bund eine solche Einschätzungsprärogative schließlich auch zugestanden. Da ging es zwar nicht um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, sondern um die Wahrung der Wirtschaftseinheit. Aber man dürfe diese Maßstäbe nicht zu weit auseinanderlaufen lassen, so Sachs. Im Wirtschaftsrecht die Zügel zu lockern und im Sozialrecht sie eng zu ziehen – das sei bestimmt nicht die Intention des Verfassungsgesetzgebers gewesen, als er 1994 die Erforderlichkeitsklausel schuf. Sonst drohe die Bundesrepublik ein bloßer “Wirtschaftsstaat” zu werden.

Dazu komme, so Sachs, dass die Erforderlichkeitsklausel durch die Föderalismusreform 2006 teilweise relativiert worden sei, als eine ganze Reihe von Gesetzgebungsmaterien aus der Norm “herausgeworfen” worden waren. Dem hielten indessen Richter Michael Eichberger und Berichterstatterin Gabriele Britz flugs entgegen, dass dieses Argument auch gut nach hinten losgehen kann: Schließlich war die Kompetenz für die öffentliche Fürsorge, um die es hier geht, 2006 gerade nicht von der Erforderlichkeitsklausel ausgenommen worden.

Berichterstatterin Britz räumte ein, dass sie das Argument mit der Einschätzungsprärogative des Bundes “verfassungsrechtsdogmatisch nachvollziehen” könne. “Aber tun Sie den Ländern damit wirklich etwas Gutes?” Schließlich stand Burgi als Vertreter eines Bundeslandes vor ihr – und nicht irgendeines Bundeslandes, sondern des Freistaats Bayern, der sich sonst an föderalistischem Glaubenseifer nur ungern von irgendjemand übertreffen lässt. “Enorme Spielräume” würden sich dem Bundesgesetzgeber eröffnen, wenn er diese Einschätzungsprärogative bekäme, warnte Britz. Diese Bresche zu öffnen, nur um diesen einen Fall zu gewinnen – “ist das wirklich der richtige Ansatz”?

Ein Ministerialbeamter aus der niedersächsischen Staatskanzlei erbat anschließend das Wort, um eindringlich vor einem “totalen Rollback” zu den Zuständen vor 1994 zu warnen. Ein Niedersachse! Falls jemand zufällig Edmund Stoiber über den Weg läuft – ich wäre begierig zu erfahren, wie er das findet.


One Comment

  1. Kinder an die Macht Fri 24 Jul 2015 at 17:55 - Reply

    Wir fordern die sofortige Wiedereinführung des Betreuungsgeldes!
    Da das Bundesverfassungsgericht den staatlichen Zuschuss, auf Bundesebene, für verfassungswidrig erklärt hat, fordern wir die sofortige Wiedereinführung auf Landesebene im gesamten Bundesland, von allen 16 Bundesländern.

    Eltern wurde mit dem Wegfall des Betreuungsgeldes eine echte Wahlmöglichkeit entzogen. Wer sein Kind aus Überzeugung nicht Fremdbetreuen lassen möchte, sondern sich seinen Kindern bis zu einem bestimmtem Alter in erster Linie selbst widmen möchte, dem war mit dem Betreuungsgeld sehr geholfen und eine Wahl zwischen der Fremd- und Eigenbetreuung war leichter zu fällen und das Verhältnis ausgewogener. Mit Auflösung des Betreuungsgeldes werden Eltern viel eher gezwungen sein, ihre Ideale und Überzeugung aufzugeben, zum Wohle des Geldbeutels. – Der Staat entscheidet was Eltern mit ihren Kindern zu tun haben, eben weil nur die Fremdbetreuung vom Staat gefördert wird, frühkindliche (Staats)Bildung nennen sie das!

    Unterzeichnet die Petition:
    https://www.openpetition.de/petition/online/wiedereinfuehrung-des-betreuungsgeldes

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