Medienfreiheit als Verpflichtung: auf dem Weg zur Europäischen Tagesschau
Schöpft ein Staat für sein Handeln Legitimation aus demokratischen Prozessen, so kommt ihm die Pflicht zu, jene auch zu sichern. Zu diesem Zweck gibt es im deutschen Grundgesetz seit jeher die Meinungs-, Presse-, Rundfunk- und Informationsfreiheit. Wenn über Themen wie die letzte Woche vom Europäischen Parlament verabschiedete Netzneutralitäts-Verordnung diskutiert wird, dann wird oft der subjektive Gehalt dieser Freiheiten hochgehalten – etwa der diskriminierungsfreie Zugang zu Informationen. Doch wie sieht es mit der leistenden Funktion der Kommunikationsfreiheiten aus? Die Sicherung des Meinungsbildungsprozesses erschöpft sich nicht im bloßen Schutz Einzelner vor Einschränkungen. Vielmehr gebietet der objektiv-rechtliche Gehalt der Rundfunkfreiheit eine Grundversorgung, die infrastrukturell zu verstehen ist. Da sich die Gründe hierfür aus demokratischen Aspekten ergeben, liegt es nahe, sie – zumindest teilweise – auch auf die europäische Ebene zu übertragen.
Meinungsbildung ist Voraussetzung, nicht Angebot des Staates
Auf nationaler Ebene ist die Anwendung von Staatsgewalt demokratisch legitimiert (Art. 20 Abs. 3 GG). Damit das Staatsvolk seine Gewalt ausüben kann, bedarf es aber der freien Meinungsbildung. Sie ist Voraussetzung der demokratischen Ordnung, die sich in einem Prozess der Kommunikation vollzieht, der nicht aufrecht zu erhalten wäre ohne Medien, die Informationen und Meinungen verbreiten und selbst Meinungen äußern. Es ist somit unabdingbar für den (weiteren) Bestand eines Staates, dass hierfür entsprechende Strukturen geschaffen werden.
Ein Staat ist nämlich kein Selbstzweck, sondern dient dem geordneten Zusammenleben Einzelner. Hieraus schöpft er seine Existenzberechtigung und muss sich stets an diesem Zweck messen lassen. Er bedarf der ständigen Rückkopplung an den Willen der Bürger und hat den gesellschaftlichen Vorgängen Rechnung zu tragen. Dazu gehört auch das Nutzungsverhalten der Bürger im Prozess der Meinungsbildung. Es ist daher grundsätzlich konstitutive Voraussetzung, und nicht Angebot des Staates, dass demokratische Prozesse durch Medien der Meinungsbildung befördert werden.
Rundfunkfreiheit als Infrastrukturauftrag
Das BVerfG hat diesen Auftrag im objektiven Gehalt der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 Fall 2 GG) verortet und konkretisiert. Diese hat als „dienende Freiheit“ auch eine Leistungsdimension, die den Staat zur Ausgestaltung verpflichtet. Ihn sieht das BVerfG als „Garant“ einer umfassend zu verstehenden Rundfunkfreiheit und verlangt vom Gesetzgeber, „eine positive Ordnung [zu schaffen], welche sicherstellt, daß er [der Rundfunk] die Vielfalt der Themen und Meinungen aufnimmt und wiedergibt, die in der Gesellschaft eine Rolle spielen. Zu diesem Zweck sind materielle, organisatorische und prozedurale Regelungen notwendig, die an der Aufgabe des Rundfunks orientiert sind und erreichen können, was Art. 5 Abs. 1 GG in seiner Gesamtheit bewirken will“.
Damit wird auch die immer wieder umstrittene Finanzierung des Rundfunks angesprochen. Geht man – wie der 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrag – davon aus, dass diese durch einen Beitrag zu leisten sei, so verkennt man, dass die Nutzung des meinungsbildenden Mediums Rundfunk kein durch Beitrag abzugeltender individueller Vorteil des Einzelnen ist, sondern vielmehr eine strukturelle Voraussetzung des Staates für den eigenen Bestand. Er kann seinen Auftrag, der die legitimatorische Grundlage für sein eigenes Handeln bildet, nicht in einen selbstlosen Vorteil für den Bürger ummünzen, sei es auch zu dem legitimen Zweck, den Bestand eines neutralen öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sichern. Um diesen Zweck zu erreichen, stehen dem Gesetzgeber grundsätzlich andere Mittel – eben die Steuer – zur Verfügung.
Die Diskussion zu den aktuellen Regelungen, die den neuen Rundfunkstaatsvertrag in Landesrecht überführen, spiegelt genau diese Diskrepanz wider. Hinter dem formalen Streit, ob es sich bei dem Rundfunkbeitrag in Wahrheit um eine Steuer handelt, steht das Unbehagen, die Nutzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als einen individuellen Vorteil und nicht als einen die Gemeinlast treffenden infrastrukturellen Leistungsauftrag des Staates zu begreifen. Auch in der nicht-juristischen Öffentlichkeit wird selten der öffentlich-rechtliche Rundfunk als solcher abgelehnt, sondern eher der Umstand, diesen als individuellen Vorteil abzugelten, also hierfür einen individuellen Beitrag zu bezahlen.
Meinungsbildung im Internet
Dass der staatliche Auftrag, den Meinungsbildungsprozess zu sichern, in der objektiven Dimension der Rundfunkfreiheit verortet wird, hat seinen Grund in der traditionellen Bedeutung des Rundfunks als technisches Mittel. Ihm hat das BVerfG in seiner Rundfunkentscheidung vom 22. Februar 1994 unter „den Medien […] wegen seiner Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft besondere Bedeutung“ beigemessen. Diese tatsächlichen Eigenschaften gelten aber heute in mindestens dem gleichen Maße auch für das Internet als Medium der Meinungsbildung. Dass man den Rundfunkbegriff in Bezug auf die technische Fortentwicklung dynamisch interpretieren muss, hat das BVerfG in der subjektiv-rechtlichen Dimension des Grundrechts schon 1987 festgestellt (BVerfGE 74, 297, 350). Die Feststellung der veränderten technischen Realität muss aber auch in seiner objektiv-rechtlichen Dimension Niederschlag finden.
Die ARD/ZDF-Onlinestudie 2015 fand heraus: „Die Internetverbreitung bleibt 2015 mit 79,5 Prozent der ab 14-jährigen, deutschsprachigen Personen nahezu stabil. […] Da die 14- bis 49-Jährigen fast vollständig online sind, geht das Wachstum in diesem Jahr vor allem von den Älteren aus.“ Am meisten Zeit verbringen die Nutzer nach den Kommunikationsdiensten mit der Informationssuche im Netz, mit dem Lesen von Artikeln und Berichten und dem Ansehen von Nachrichtenvideos. Laut Studie geben außerdem 41 % der 14- bis 29-jährigen Nutzer an, dass das Internet für sie wichtiger sei als Fernsehen, Radio und Zeitungen/Zeitschriften. Der demokratische Meinungsbildungsprozess findet demnach zunehmend über das Medium Internet statt (vgl. Lukas Müller mit der gleichen Schlussfolgerung unter Verweis auf den Medienkonvergenzmonitor der DLM).
Angesichts dieser Realitäten ist es offensichtlich, dass die obige rundfunkpriorisierende Formel, welche das BVerfG nicht mal ein Jahr nach der Freigabe des World Wide Web an die Öffentlichkeit gefunden hat, heute überdacht werden muss. Wenn man den öffentlichen Meinungsbildungsprozess aber als Voraussetzung und nicht als Angebot des Staates begreift, hat dies außerdem zur Folge, dass dieser, indem er seinen Auftrag durch das Schaffen institutioneller Rahmenbedingungen erfüllt, sich der Dynamik des Meinungsbildungsprozesses und insbesondere dem veränderten Nutzungsverhalten des Einzelnen nicht entziehen kann. Ist die Sicherung des Meinungsbildungsprozesses – wie oben beschrieben – als infrastrukturelle Daseinsvorsorge zu verstehen, so wird es sich früher oder später als unzulänglich erweisen, allein das Medium Rundfunk hierfür heranzuziehen.
Eine Europäische Tagesschau?
Nun beansprucht auch die Europäische Union demokratische Legitimation, wenn auch auf anderem Wege. Da es auf europäischer Ebene keinen regulierten Bestand an öffentlich-rechtlichem Rundfunk gibt, kommt der (vergleichsweise) neuen Medienart Internet ganz besondere Bedeutung zu. Wenngleich der EuGH die technischen Entwicklungen des Internets sehr wohl ins Auge fasst und durch jüngste Urteile sich zum wichtigsten Datenschützer profiliert (vgl. aktuell Urteil Schrems), fehlt es an einem dem nationalen Meinungsbildungsprozess vergleichbaren System auf europäischer Ebene. Im Gegenteil: Wettbewerbsrechtlich war der EU-Kommission das deutsche duale Rundfunksystem lange Zeit ein Dorn im Auge.
Während auch Unionsbürger immer mehr Informationen aus dem Internet beziehen, steigt unterdessen das Risiko, dass – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – Fehlinformationen durch das Internet nach dem Schneeballsystem verbreitet werden. Gleichzeitig führt der Umfang der Informationen im Internet und die vermehrte Nutzung von Smartphones dazu, dass Informationen komprimierter verpackt sein müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden.
Es fehlt an einer europäischen Plattform, die den europäischen Demos stärkt, indem sie dem Nutzerverhalten entsprechende und redaktionell verarbeitete Informationen anbietet, auf deren Richtigkeit der Unionsbürger komfortabel vertrauen kann – etwa im Sinne einer Europäischen Tagesschau, die auch über das Internet erreichbar ist. Dies würde den demokratischen Werten und dem hoheitlichen Wesen der Europäischen Union Rechnung tragen.
Euronews?
PBS und NPR erhalten in den USA nur einen Bruchteil der Mittel, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland erhält. Trotzdem scheint mir die USA keine Heimstätte der Meinungsunfreiheit zu sein. Über den Umfang der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in anderen EU-Staaten habe ich keine Kenntnisse. Trotzdem beschleicht mich das Gefühl, dass der „infrastrukturelle Leistungsauftrag des Staates“ ein spezifisch deutsches Phänomen ist, dass insbesondere der Rechtsprechung des BVerfG geschuldet ist. Warum EU-Staaten einer „deutschen“ Lösung auf EU-Ebene zustimmen sollten, die sie in ihren eigenen Staaten nicht umgesetzt haben, erschließt sich mir nicht. Ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht hinreichend qualifiziert den europäischen Demos (soweit er auf Deutschland entfällt) zu stärken? Und gehört zur EU nicht auch das Subsidiaritätsprinzip? Und ist eine ansprechende Qualität von Informationen nur dann gewährleistet, wenn diese Informationen von einer EU-Plattform vertrieben werden?
https://de.wikipedia.org/wiki/Euronews#Ber.C3.BChrungspunkte_mit_der_EU