Politik, Recht und die Rule of Law irgendwo dazwischen: zur Rechtsstaatlichkeitsdebatte zwischen EU und Polen
Die polnische Regierungschefin Beata Szydło hat am Dienstag in ihrer Rede vor dem Europaparlament (Teil 1+2) ein wenig Erstaunen über die europäische Aufgeregtheit um jüngste Reformen der Verfassungsgerichtsbarkeit und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Polen durchblicken lassen. Trotz mehrmaliger Betonung der polnischen Souveränität musste aber auch sie einsehen: Brüssel hat die rechtliche Kompetenz, sich in bestimmten Grundwertefragen politisch auch auf nationaler Ebene einzubringen. Das Pech der polnischen Regierung – und gleichzeitige Glück des polnischen Volkes – ist der augenscheinliche Beschluss der Kommission, einem vormals politischen Totschlagargument nun endlich konkrete, normativ verwendbare Schärfe zukommen zu lassen.
Normative Wertegemeinschaft EU
Die Europäische Union ist spätestens seit Lissabon – frühere Verträge sprachen in vergleichbaren Vorschriften noch von Grundsätzen und Prinzipien – ein explizit wertnormativer Verbund. Art. 2 EUV zementiert die Grundwerte der Europäischen Union. Die Rechtsstaatlichkeit findet hier explizit ihren Platz. Rechtsstaatlichkeitsansprüche richten sich unstreitig also vertikal von den Mitgliedsstaaten an die Struktur der Europäischen Union, wirken aber auch gleichzeitig horizontal als Homogenitätsgebot zwischen den Mitgliedsstaaten.
Die EU stellt aber ihrerseits vertikale Anforderungen an ihre Mitglieder, welche hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit auch gerade die einzelnen Verfassungsordnungen betreffen. Eine, ja die Grundbedingung des Beitritts zur EU ist die durch den Beitrittskandidaten national zu gewährleistende Achtung der Werte des Art. 2 EUV (s. Art. 49 EUV). Doch auch nach dem Beitritt unterliegen die Mitgliedsstaaten den Anforderungen des Art. 2 EUV. Art. 7 EUV sieht dementsprechend ein mehrstufiges Verfahren zum dauerhaften Schutz der homogenen Verfassungswerte auch auf nationaler Ebene vor, wenn die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ (Art. 7 Abs. 1 S. 1 EUV) eines Wertes aus Art. 2 EUV gegeben ist. Der Rat ist hier grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit (s. Art. 354 und 238 AEUV) entscheidungsbefugt. Selbstverständlich kann die potenzielle Sanktion aber nur europarechtlicher Natur sein, Mitgliedsrechte können suspendiert werden.
Neues Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahren
Dieses letztlich normativ wirkende Suspendierungsverfahren wird ob seiner Wirkweise auch als „nuclear option“ bezeichnet. Es kam noch nie zum Einsatz. Lediglich einfache politische Appelle wurden – beispielsweise während der Massenabschiebungen von Roma durch die französische Regierung 2010 – zugunsten der Rechtsstaatlichkeit von der Union gegenüber den Mitgliedsstaaten laut. Diese Lücke zwischen formloser ad-hoc-Politik und normativem Dampfhammer hat die Kommission 2014 durch die Schaffung eines “new EU Framework to strenghen the Rule of Law” – final anlässlich der weiter andauernden, zumindest gewöhnungsbedürftigen Interpretationen der Rechtsstaatlichkeit durch Ungarn – geschlossen.
Das Verfahren wird laut Kommissionspapier ausgelöst, wenn eine systemimmanente Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsstaat vorliegt. Diese soll als eine Art Vorstufe der „eindeutigen Gefahr der schwerwiegenden Verletzung“ des Art. 7 gelten. Die Kommission trifft bei Aufnahme des Verfahrens eine Sachstandsanalyse zur möglichen systemimmanenten Gefährdung. Die Erkenntnisse dazu können neben eigener Recherche auch von anderen anerkannten Institutionen wie dem Europarat (hier vertreten durch die jüngst auch von Polen kontaktierte Venedig-Kommission) oder der Grundrechteagentur gewonnen werden. Danach gibt die Kommission Empfehlungen ab, durch welche Maßnahmen in ihren Augen ein Verfahren des Art. 7 EUV noch abgewendet werden kann. An diesem Punkt befindet sich die Debatte zwischen der EU und Polen aktuell.
Definitorische Wirkung des Dialogs
Die nun aufgenommene Sachstandsanalyse inklusive des europäisch-polnischen Dialoges zu gegenwärtigen Entwicklungen des polnischen Staates ist eine herausragende Möglichkeit, dem Wert Rechtsstaatlichkeit europäisch definitorische Schärfe zu verleihen. In einer solchen, staatsorganisatorischen Tiefe wurde noch keine Bestimmung des Art. 2 EUV von einer europäischen Institution bestimmt; insbesondere der EuGH sah die Grundwerteklausel wohl auch aus politischer Zurückhaltung bisher nie als entscheidungserheblich an. Im Grundsatzpapier der Kommission und in dessen Anlagen ist (lediglich) eine weite Definition der Rechtsstaatlichkeit zu finden – angelehnt an Erkenntnisse der Venedig-Kommission und an Einzelfallentscheidungen des EuGH – als auch eine unterstützende Bestimmung der notwendigen Gefährdungslage.
Konkret geht es derzeit zum einen um die Organisation des polnischen Verfassungsgerichtes und zum anderen um die Möglichkeiten der Einflussnahme der polnischen Regierung auf die Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Durch die Festsetzung chronologischer Abarbeitungsvorgaben an das Verfassungsgericht und de facto schwer zu erreichende Anforderungen zur Mehrheitsentscheidung befürchtet die Kommission eine faktische Lahmlegung. Verfassungsgerichtsbarkeit wird – soweit im Mitgliedsstaat gefestigt vorhanden – damit zu einem tragenden Pfeiler der unabhängigen Justiz als Teil rechtsstaatlicher Gewaltenteilung in der europäischen Lesart erhoben. Nun muss sich die Kommission – wie auch die faktisch vorgeschaltete Venedig-Kommission des Europarates – in ihren Empfehlungen aber auch an konkreten Vorgaben beispielsweise zur Entscheidungsfindung der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit messen lassen. Ebenso interessant und tiefgreifend werden womöglich die Stellungnahmen zur Ernennung wichtiger Posten im polnischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkbereich ausfallen.
Bei dieser definitorischen Konturierung der Rechtsstaatlichkeit muss die Kommission von Beginn des Dialogs deutlich machen, dass es sich beim Ergebnis nicht um eine zu übernehmende Blaupause für alle Mitgliedsstaaten handelt, sondern um eine polnische Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit, welche mit den Verfassungsüberlieferungen der anderen Mitgliedsstaaten im Grundsatz vereinbar ist. Um es klar zu benennen: Der europäische Wert Rechtsstaatlichkeit zwingt den Mitgliedsstaaten keine detaillierte Staatsorganisation auf. Lediglich die konstituierenden Merkmale der Rule of Law wie die Unabhängigkeit der Justiz müssen national zusammenhängend garantiert sein. Wie die polnische Verfassungsgerichtsbarkeit nach diesen Vorgaben organisiert sein muss, ergibt sich also aus der Betrachtung des gesamten polnischen Justizsystems.
Politischer Dialog und Recht für eine europäische Wertehoffnung
In ihrer bis dato wohl heftigsten Legitimationskrise besinnt sich die EU zumindest im europäisch-polnischen Schwelbrand auf entscheidende Grundpfeiler ihrer Existenz. Die Werte des Art. 2 EUV – häufig als präambelartig anmutender Schmuck des europäischen Vertragswerks geschmäht – sind der Schlüssel zur Wiederversöhnung auch der europäischen Gesellschaften mit der EU. Die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit anhand konkret benannter Missstände kann über Polen hinaus zeigen, dass Europa seine Grundwerte als Rechtsgemeinschaft nicht nur in Brüssel leben kann und muss.
Die Schaffung des Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahrens als vorgeschaltetes politisches Druckmittel in der Form des Dialogs zeugt aber ebenfalls davon, dass die Kommission die andauernden Souveränitätswünsche der Mitgliedsstaaten erkennt. Rechtsstaatlichkeit muss im Verhältnis der Union zu ihren Mitgliedsstaaten zuerst politisch durchgesetzt werden, um ein weiteres Auseinanderleben zu verhindern. Europa ist eine Rechtsgemeinschaft, doch hängt diese fortwährend auch von der politischen Integrationsbereitschaft der Mitgliedsstaaten ab. Eine jetzt zu findende, konkrete Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit auf national-polnischer Ebene kann nur von Wirkung sein, wenn sie bereits in der Entdeckungsphase von diesem Gedanken durchdrungen ist. Ist dann ein politischer Kompromiss nicht aufzufinden, bleibt, das Auseinanderleben rechtlich zu regeln.
Das mehrstufige Verfahren des Art. 7 EUV kann mit einer 4/5-Mehrheit des Rates zwar nach Abs. 1 eingeleitet werden (wo erst einmal “nur” die Gefährdungslage festgestellt wird).
Dann ist es aber auch schon vorbei mit dem Mehrheitsentscheid – alle nachgelagerten, mit qualifizierter Mehrheit zu treffenden Sanktionsbeschlüsse aus Abs. 3 und 4 setzen den Feststellungsbeschluss nach Abs. 2 voraus, der im Rat nur einstimmig ergehen kann. Hier können Staaten in einer politisch höchst sensiblen Lage übereinander zu Gericht sitzen – Art. 7 wie eine nukleare Option zu handhaben, ist deshalb auch für den Bestand der Union klug.
Neben dem Tatbestand offenbaren assoziierte Anwendungskandidaten – Österreich, in dem offiziell nur “bilateral” agiert wurde, Ungarn und nun Polen den zutiefst politischen Charakter dieser Entscheidung. Art. 7 EUV bewegt sich im Grenzbereich des rechtlich Operationalisierbaren. In einem Verbund (mehr oder weniger) und vor allem: sowohl mit als auch ohne Verfassungsgerichtsbarkeit funktionierender Rechtsstaaten ist eine unionsrechtlich-einheitlich definierte Rechtsstaatlichkeit unmöglich. Der Beitrag spricht dankenswerterweise die Heterogenität der Staaten an, was zeigt, dass selbst eine supranational mit Mehrheit verhandelte normative “top down-Lösung” höchstens den politischen Ausweichdruck des betroffenen Staates erhöht.
Das politische Kräftefeld der Union legt mehr als offen (und nahe), warum man sich besser in Dialogverfahren bewegen sollte als im Rechtssanktionsverfahren. Auch im Fall Österreich hieß die Devise am Ende (bilateraler) Rückzug. Dass ernsthaft über Art. 7 EUV nachgedacht wird, dürfte ausgeschlossen sein.