Angriff auf die Mitbestimmung abgewehrt – aber das Problem bleibt: Zum Erzberger-Urteil des Europäischen Gerichtshofs
Eigentlich handelte es sich um eine Variante eines schon oft aufgeführten Stücks: Extensiv ausgelegte europäische Grundfreiheit kollidiert mit mitgliedstaatlichem Rechtsbestand, genauer: die Kommission behauptet, dies sei der Fall. Und doch war es diesmal anders, denn auf dem Prüfstand befand sich nicht das Verbot der Einfuhr eines Likörs mit zu niedrigem Alkoholgehalt, sondern einer der Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft deutscher Prägung. Die Große Kammer des EuGH hatte zu entscheiden, ob die deutschen Regelungen zur Aufsichtsratsmitbestimmung gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (in Art. 18 AEUV) und gegen das Verbot ungerechtfertigter Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit (in Art. 45 AEUV) verstoßen. Es liegt in der Natur der Sache, dass der deutsche Gesetzgeber Wahlen zu den Arbeitnehmerbänken der Aufsichtsräte nur im Inland anordnen kann. In diese Konstellation interpretierte der Kläger im deutschen Ausgangsverfahren eine „Beschränkung durch Diskriminierung“ hinein: Das fehlende aktive und passive Wahlrecht diskriminiere die Auslandsbeschäftigten und hindere die Inländer daher zudem am Arbeitsplatzwechsel in ein ausländisches Tochterunternehmen, weil hierdurch der Verlust des Wahlrechts drohe.
Wäre der EuGH dieser Argumentation gefolgt, hätte das auf die Entfernung der Arbeitnehmervertreter aus den Aufsichtsräten hinauslaufen können. Der eigentliche Skandal war bei alledem nicht, dass sich ein Mitbestimmungsgegner fand, der als Kläger im Ausgangsverfahren fungierte – Feinde der Arbeitnehmermitbestimmung gibt es zuhauf und es wird sie immer geben. Der Skandal war auch nicht, dass sich mit dem Berliner Kammergericht ein Gericht fand, das den Fall dem EuGH vorlegte, auch wenn man hierüber nur traurig den Kopf schütteln kann. Und auch war der Skandal nicht, dass der EuGH die Vorlagefrage annahm und sich mit dem Fall beschäftigte. Der EuGH muss auf die Fragen vorlegender Gerichte antworten. Nein, der Skandal war das bizarre Verhalten der Kommission.
Zunächst hatte die Kommission dem Kläger in ihrer schriftlichen Eingabe an den EuGH ausnahmslos Recht gegeben: Die deutsche Mitbestimmung wirke als ungerechtfertigte Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und sei daher europarechtswidrig (meines Wissens wurde das Schriftstück mit dem Aktenzeichen sj.j(2016)745503 nicht offiziell veröffentlicht, aber es kursiert in allen sich mit dem Konflikt beschäftigenden Kreisen). In der mündlichen Anhörung am 24. Januar dieses Jahres, zu der nicht wenige gewerkschaftsnahe Leserinnen und Leser des Verfassungsblogs angereist waren, hatte die Kommission ihre Rechtsauffassung dann korrigiert. Bekanntlich geht das Europarecht bei der Prüfung etwaiger Kollisionen mit den Grundfreiheiten in zwei Schritten vor: In einem ersten Schritt wird gefragt, ob eine Beschränkung einer Grundfreiheit vorliegt. Ist das der Fall, folgt in einem zweiten Schritt ein Rechtfertigungstest. Verfolgt die Beschränkung ein zwingendes Anliegen des Allgemeininteresses, wird sie diskriminierungsfrei angewendet, erreicht sie tatsächlich das verfolgte Ziel und geht sie über das hierfür notwendige Maß nicht hinaus, dann ist die Beschränkung gerechtfertigt und also mit dem Europarecht vereinbar. In der mündlichen Verhandlung stellte sich die Kommission auf den Standpunkt, die deutsche Mitbestimmung beschränke sehr wohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit, sei aber über zwingende Gründe des Allgemeininteresses zu rechtfertigen.
Im Vergleich zur schriftlichen Stellungnahme der Kommission klang das nicht schlecht – und doch war ihr Geschenk an die Gewerkschaften vergiftet. Denn der EuGH hätte, wäre er dem Willen der Kommission gefolgt, einen weitreichenden Schritt richterlicher Rechtsfortbildung vorgenommen. Er hätte die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in einer Fallkonstellation bejaht, in der sich die vermeintliche Beschränkung ausschließlich aus der Unterschiedlichkeit nationaler Rechtsbestände, hier: der Sozialordnungen der Mitgliedstaaten ergeben hätte. Jeder Bestandteil der mitgliedsstaatlichen Arbeits- und Sozialordnungen hätte sich fortan als Beschränkung qualifizieren lassen, die sich nachfolgend im Rechtfertigungstest hätten bewähren müssen.
Nun ist es aber gerade nicht das Wesen der Sozialpolitik, diesen Test bestehen zu können. Soziale Regulierungen bestehen nicht, weil sie zwingend sind und nicht über das notwendige Maß hinausgehen, sondern, weil sich demokratisch gewählte Regierungen in einem bestimmten historischen Umfeld für diese und gegen andere Lösungen entschieden haben. Andere Regierungen dürfen andere Ziele verfolgen und müssen es anders machen dürfen. Alle Dämme würden brechen, würde eine Regulierung schon deshalb rechtfertigungsbedürftig, weil sie der Wirtschaft eine Grenze setzt, die es anderswo nicht gibt. Kurz, die Rechtsauffassung, die die Kommission hier durchzukämpfen versuchte, war eine Kampfansage an die soziale Demokratie.
Nun liegt das Urteil des EuGH vor, das sich nur als schallende Ohrfeige für die Kommission bezeichnen lässt (EuGH-Urteil „Erzberger gegen TUI“, C‑566/15 vom 18. Juli 2017, hier). Der EuGH folgt darin vollumfänglich den Schlussanträgen des Generalanwalts (die Schlussanträge findet sich hier). Vernünftigerweise analysiert der EuGH, wie zuvor der Generalanwalt, die Konstellation aus zwei Perspektiven. Er betrachtet zunächst die in ausländischen Konzernteilen beschäftigten Arbeitnehmer und stellt fest, dass für diese keine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit vorliegt, weil diese von ihrem Recht auf Freizügigkeit nicht Gebrauch gemacht haben oder dies auch nur erkennbar anstrebten (Randnummern 24-30 des Urteils). Da die Grundfreiheitsprüfung bereits einen (spezielleren) Diskriminierungstest beinhaltet, führt der EuGH keinen weiteren, eigenständigen Test gegen Art. 18 AEUV durch.
Sodann wendet sich das europäische Höchstgericht den Inlandsbeschäftigten zu und fragt, ob diese an der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit gehindert werden. Die glasklare Antwort des EuGH (und hier schallt die Ohrfeige an Brüssel besonders laut): Es ist nicht der Sinn der Arbeitnehmerfreizügigkeit und kann es auch nicht sein, Arbeitnehmern im Falle eines Wechsels ins Ausland ein unverändertes Regulierungsumfeld zu garantieren (Randnummern 31-41). Da es nichts zu rechtfertigen gibt, erfahren wir zum Ende des Urteils richtigerweise nicht, ob die Aufsichtsratsmitbestimmung den Rechtfertigungstest bestanden hätte.
Der Kläger und die Kommission sind somit auf ganzer Linie gescheitert. Bisher hielten sich die Betroffenen mit Kritik am Vorgehen der Kommission weitgehend zurück (hier ein paar nachdrückliche Punkte dazu). Man kann es nicht oft genug sagen: Es ist nicht protektionistisch oder europafeindlich, der Kommission in Fällen wie diesen zu widersprechen, öffentlich und in einer Klarheit, die auch verstanden wird. Es ist daher zu hoffen, dass nun ein paar deutliche Worte in Richtung der Brüsseler Behörde folgen und dass die Kommission zu einer Antwort auf die Frage gedrängt wird, was das alles sollte und wie sich ihre abenteuerliche Rechtsauffassung eigentlich mit ihren Plänen für eine „soziale Säule“ der EU verträgt.
Weitaus wichtiger sind aber die mittel- bis langfristigen Implikationen, führt uns der Konflikt doch erneut das Liberalisierungspotenzial der europäischen Grundfreiheiten vor Augen. Der Fall „Erzberger versus TUI“ wurde gewonnen, aber weitere Fälle werden folgen. Mit der Kapitalverkehrsfreiheit haben die Mitbestimmungsgegner einen weiteren Schuss frei, um die Arbeitnehmermitbestimmung europarechtlich anzugreifen (erinnert sei hier an die EuGH-Rechtsprechung zu „Goldenen Aktien“). Mit seiner extensiven Auslegung der Dienstleistungsfreiheit hat der EuGH das Territorialitätsprinzip des Arbeitsrechts (ein Land, ein Arbeitsrecht) bereits effektiv geschliffen und hierbei insbesondere in das Streikrecht eingegriffen. Tariftreueklauseln, öffentlich-rechtliches Bankenwesen, kommunale Ausschreibungen – die Liste der Konflikte ist lang. Der nächste Konfliktfall könnte der Meisterbrief sein, dessen Vereinbarkeit mit dem Europarecht die Kommission schon lange anzweifelt.
Auch glühende Verfechter von „mehr Europa“ werden sich daher der Frage stellen müssen, wie sich die Arbeits- und Sozialordnungen der Mitgliedsstaaten besser vor illegitimen Übergriffen der Grundfreiheiten und des europäischen Wettbewerbsrechts schützen lassen als in der Vergangenheit. Hier ist etwas grundsätzlich aus dem Ruder gelaufen – und niemand kann wollen, dass jene, die die mitgliedsstaatlichen Arbeits- und Sozialordnungen vor politisch unkontrollierter Liberalisierung bewahren wollen, in strukturelle Opposition zur europäischen Integration geraten. Gesucht werden daher die Parameter eines fairen Ausgleichs zwischen Binnenmarktschutz und dem berechtigten Schutz sozialstaatlicher Autonomie. In einem jüngst erschienen Papier, das sich hier downloaden lässt, führe ich am Beispiel der Grundfreiheiten vor, welcher Optionsraum dabei zur Verfügung steht.
Eine Kurzfassung dieses Kommentars erschien zuerst auf dem heterodoxen Wirtschaftsportal Makroskop.
Danke für den Post! Nicht nur angesichts der politischen Bedeutung ein sehr interessantes Urteil. Als abenteuerlich würde ich die Rechtsauffassung der Kommission nicht betrachten, jedenfalls in Bezug auf die Frage, ob die Mitbestimmung eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit begründet. Das hätte sich in der geordneten Dogmatik sehr wohl begründen lassen. Das Problem ist nicht die Kommission, sondern die zuweilen uferlose Rechtsprechung des EuGH, die den Eindruck erweckt, als ob jede nationale Rechtsvorschrift die Grundfreiheiten beschränkt.
Es erweckt für mich eher den Eindruck, als wollte der EuGH auf Biegen und Brechen nicht über die Frage entscheiden, ob das deutsche Mitbestimmungsrecht gerechtfertigt ist. Mal schauen, wie lange sier sich noch um eine Antwort drücken kann. Die eigentlich entscheidende Frage ist ja wie Sie andeuten, ob Investoren durch das Mitbestimmungsrecht von einer Investition in deutsche Gesellschaften abgehalten werden. Hier wird der Gerichtshof wohl Farbe bekennen müssen, ob die Kapitalverkehrsfreiheit gegen jedwedes lästiges Gesellschaftsrecht einsetzbar ist oder nur gegen staatliche Sonderrechte à la Golden-Shares.
Ich glaube nicht, dass das Potential des Mitbestimmungsrechts Investoren abzuhalten, in irgendeiner Weise gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstößt. Dazu muss man sich näher mit der Dogmatik der Grundfreiheiten befassen.
Wie Herr Höpner richtig schreibt, geht es zentral um das Problem der richtigen Austarierung von binnenmarktrechtlichem Wettbewerbsprinzip und nationaler Souveränität. Der Binnenmarkt soll zwar einerseits eine wettbewerbsverfasste Marktwirtschaft einführen und sichern, aber nicht die Regelungshoheit der Mitgliedstaaten aufheben. Ohne das auszusprechen, hat der EuGH die Problematik seit langem erkannt und sich bemüht, die Grundfreiheiten einzuschränken: durch Cassis de Dijon und später vor allem durch Keck. Mit der Beschränkung des Beschränkungsverbots auf marktzugangsbezogene Hemmnisse ist viel in diese Richtung erreicht worden.
Eben hieran würde es auch an der Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit durch das Mitbestimmungsrecht scheitern. Die Ratio dahinter ist wie im Erzberger/TUI-Urteil richtig geschrieben, dass die Grundfreiheiten nicht das Recht geben, die Standortbedingungen (keine Mitbestimmung) des Herkunftsstaats in den Aufnahmestaat “mitzunehmen”.
Meiner Meinung nach ist das Erzberger Urteil trotzdem fragwürdig: hier ging es in der Situation der im Ausland Beschäftigten ja nicht um eine Beschränkung, sondern um eine Diskriminierung. Die Zurückdrängung des Art. 18 AEUV hinter den gar nicht anwendbaren Art. 45 AEUV ist mit der bisherigen Rechtsprechung nicht zu erklären; eine Neuausrichtung hätte eine Begründung erfordert. Gut, das ist halt der EuGH. Inhaltlich ist die Subsidiarität fraglich, weil Räume zur (wenn auch mittelbaren) Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (den Anwendungsbereich des Unionsrechts unterstellt) entstehen, was dem Kern des europäischen Projekts widerspricht. Wenn mir das jemand erklären kann, bitte.
Richtig wäre es m.E. gewesen, die Rechtfertigung in Art. 18 AEUV zu prüfen und davon abhängig zu machen, ob tatsächlich eine Wahl im Ausland nicht organisierbar ist. Wenn das glaubhaft gemacht worden wäre, wäre es – nun dogmatisch und teleologisch viel sauberer – beim gleichen Ergebnis geblieben.
Im Ergebnis ist – m.E. – ja völlig klar, dass das Mitbestimmungsrecht nicht binnenmarktwidrig ist, sondern eben ein spezifisches Kennzeichen des deutschen Standorts. Obwohl die Zahl der mitbestimmten Unternehmen rückläufig ist.
@ Kainer: Danke für den interessanten Kommentar. In Bezug auf das fehlende Wahlrecht ausländischer AN stimme ich Ihnen zu. In der Tat eine sehr eigenartige Herangehensweise des EuGH.
In Bezug auf die Kapitalverkehrsfreiheit kann ich Ihren Optimismus in Bezug auf den Marktzugangstest nur bedingt teilen. Ich meine, die Mitbestimmung ist geeignet, Investoren von Investitionen in mitbestimmte Gesellschaften abzuhalten. Damit verhindert sie den Marktzugang ihres Kapitals ebenso wie in den Golden-Share-Fällen. Keine Frage, die Mitbestimmung würde trotzdem vor dem EuGH nicht scheitern. Er würde einen anderen Weg finden, eine Beschränkung trotz Zugangshindernis abzulehnen oder eben die Rechtfertigung der Mitbestimmung unterstellen.
Ein Argument, um bereits die beschränkende Wirkung der Mitbestimmung abzulehnen, wurde in Erzberger schon angerissen. In Bezug auf eine Beschränkung deutscher AN, die ins EU-Ausland ziehen, haben EuGH (Rn. 35) und Generalanwalt (Rn. 75) wie sie ja andeuten argumentiert, dass die Grundfreiheiten kein Recht geben, die Standortbedingungen des Herkunftsstaats in den Aufnahmestaat mitzunehmen. Darin deutet sich m. E. ein Verständnis der Grundfreiheiten als Kollisionsrechte an. Den Grundfreiheiten ginge es neben einem umfassenden Diskriminierungsverbot dann allein darum, die Regelungsrechte der Mitgliedstaaten sauber abzugrenzen, um so regulative Doppelbelastungen zu verhindern. So verstanden liegt in Erzberger deswegen keine Beschränkung vor, da für die im Ausland beschäftigen AN allein dem ausländischen Mitgliedstaat das Regelungsrecht in Bezug auf dieses Arbeitsverhältnis zusteht und nicht Deutschland. Wenn Deutschland aber gar kein Regelungsrecht hat, kann es auch keine Beschränkung begründen, wenn es sein Recht nicht auf deutsche AN im Ausland anwendet. Daher können die Grundfreiheiten einem deutschen Arbeitnehmer in den Worten des EuGH „nicht garantieren, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat als seinen Herkunftsmitgliedstaat in sozialer Hinsicht neutral ist” (Rn. 34). Denn mit dem Umzug geht das Regelungsrecht vom Wegzugs- zum Zuzugsstaat über. Argumentativ kommt Ihnen das sicher bekannt vor und ist am besten von Michael Hoffmann in seiner Dissertation dargelegt worden.
Übertragen auf mögliche Angriffe auf die Mitbestimmung mit der Kapitalverkehrsfreiheit hieße dies, dass die Mitbestimmung deswegen keine Beschränkung begründet, da Deutschland in Bezug auf seine Gesellschaften das alleinige Regelungsrecht zusteht. Seine Regulierung der Gesellschaften ist also solange keine Beschränkung, wie sie nicht diskriminiert.
An dieser Argumentation wird aber m. E. schon erkennbar, dass das kollisionsrechtliche Verständnis aus dem herrschenden Verständnis der Grundfreiheiten als Marktzugangsrechte nicht ableitbar ist. Für den Marktzugangstest wäre allein interessant, ob die Mitbestimmung Investoren von einer Kapitalanlage abhält. Ein ausschließliches Regelungsrecht der Mitgliedstaat in Bezug auf ihre Gesellschaften kennt der Marktzugangstest nicht, ansonsten hätte der EuGH in den Golden-Shares-Fällen niemals zu einer Beschränkung gelangen können. Auch in Erzberger hätte der Gerichtshof in Bezug auf die deutschen AN allein fragen dürfen, ob der Verlust der Mitbestimmung bei Wegzug geeignet ist, deutsche AN vom Zugang zu ausländischen Arbeitsmärkten abzuhalten. Da er dies nicht getan hat, scheint ein reiner Marktzugangstest für ihn in Konstellationen wie Erzberger nicht anwendbar, so wie auch schon beim grenzüberschreitenden Wegzug von Gesellschaften oder im Rahmen der Warenausfuhrfreiheit.
Herzlichen Dank für die Kommentare! Ein paar kurze Reaktionen:
1. Der EuGH bemüht sich ja um eine über die Grundfreiheiten hinweg kohärente Handhabe von normativer Signifikanz, Anwendungsumfang, Umgang mit dem Rechtfertigungstest. Mir erscheint offensichtlich, dass diese Kohärenz nunmehr gelitten hat. Es ist unklar, warum die Arbeitnehmerfreizügigkeit dem Beschäftigten bei Grenzüberschritt kein unverändertes Sozialumfeld garantieren soll, dem grenzüberschreitenden Investor aber etwa die Abwesenheit ungerechtfertigter „Goldener Aktien“ – bzw., wie man diese Rechtsprechungen unter einen Hut bringen will. Da kann man dem Erzberger-Urteil nur größtmögliche Ausstrahlung auf die anderen Grundfreiheiten wünschen.
2. Zu Art. 18 AEUV: Ja, hier verfährt der EuGH verblüffend schnell. Hätte er hinsichtlich der Wirkungen auf die ausländischen Arbeitnehmer nicht mindestens folgende Punkte sagen müssen: die Anwendbarkeit des Art. 18 AEUV ist separat zu prüfen; dessen Anwendungsbereich ist auf den Anwendungsbereich der Verträge beschränkt; Art. 45 passt, wie wir sahen, nicht und kann den Anwendungsbereich daher nicht eröffnen; der europäische Gesetzgeber hat von seiner mitbestimmungsbezogenen Harmonisierungskompetenz keinen Gebrauch gemacht, so dass auch dies den Anwendungsbereich nicht öffnet; folglich liegt kein Verstoß vor?
3. Der EuGH hat das Problem der Uferlosigkeit der Grundfreiheiten erkannt und sich um Problembegrenzung bemüht: ich weiß nicht. Das Problem wäre wie folgt auf den Punkt zu bringen: Da sich ein transnationaler Bezug fast immer irgendwie behaupten lässt, bewirkte der Übergang vom Diskriminierungs- zum Beschränkungsverbot faktisch ein Gebot der Liberalisierung aller nur denkbaren Sachverhalte mit oft nur marginalem Binnenmarktbezug, vorbehaltlich des Cassis-Tests. Der Cassis-Test kann die notwendige Abgrenzung zwischen Binnenmarkt-Schutz und Liberalisierung interner Sachverhalte nicht leisten (ist ja auch nicht sein Ziel). Mit Laval etc. ist der EuGH sogar dazu übergegangen, die Ausübung sozialer Grundrechte dem ja bewusst asymmetrisch angelegten Cassis-Test zu unterziehen. Hier stimme ich dem ersten Kommentator zu: Das Problem ist der EuGH. Sinnvoll wäre m.E. eine Debatte über per Vertragsreform installierte Bereichsausnahmen für sensible Bereiche wie die Kollektivvertragsfreiheit. Freilich gibt es Alternativen: Man könnte die Grundfreiheiten auch dahingehend konkretisieren, dass sie vor direkter und indirekter Diskriminierung schützen sollen; jeder weitere Binnenmarktschutz wäre dann in der Hand des europ. Gesetzgebers (im Rahmen seiner Binnenmarktkompetenz). Ich denke, man muss hier sehen, dass das Beschränkungsverbot in einem Umfeld erfunden wurde, in dem es darum ging, den europ. Binnenmarkt überhaupt erst einmal zu schaffen, heute ist er Realität und es ist eine gut geölte Gesetzgebungsmaschinerie entstanden. Gewinner wären die Demokratien auf europ. Ebene und auf nat. Ebene. So oder so denke ich, dass das Problem durch die Politik wird gelöst werden müssen, auf richterliche Selbstkorrektur warten wir inzwischen schon lange vergeblich.
Interessanter Post, Herr Höpner.Das EuGH Urteil beruht tatsächlich auf der Erwägung, dass der Umzug in einen anderen Mitgliedsstaat aufgrund der Unterschiede, die zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für den betreffenden Arbeitnehmer Nachteile haben kann (§ 34). Diese Erwägung zieht dem Begriff der “Beschränkung” der Arbeitnehmerfreizügigkeit notwendige Grenzen. Allerding fehlt mir in Ihrem Beitrag ein Eingehen auf die Frage, ob die Wahl zum Aufsichtsrat eines deutschen Unternehmens tatsächlich den Regeln eines anderen Mitgliedstaates unterworfen ist, wenn ein Arbeitnehmer weiterhin für das deutsche Unternehmen in einem anderen Mitgliedstland tätig ist. Falls nämlich weiterhin das deutsche Recht gelten sollte, ist die erwähnte Ausnahme vom Begriff der “Beschränkung” der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht einschlägig. Die fortdauernde Anwendbarkeit des deutschen Rechts folgt aber nach deutschem IPR (vgl. BGH NJW, 1982, 933 (934) daraus, dass die unternehmerische Mitbestimmung in Deutschland als gesellschaftsrechtlich qualifiziert und daher dem Gesellschaftsstatut zugeordnet, das auf den Satzungssitz abstellt. Vor allem aber würde es das Unionsrecht vor dem Hintergrund der Niederlassungsfreiheit nicht zulassen, dass die Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten die Regeln zur Besetzung des Aufsichtsrats eines in Deutschland gegründeten Unternehmens regeln.