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14 November 2017

In Deutschland nichts Neues? Der Beschluss des BVerfG zum dritten Geschlecht aus völker­rechtlicher Perspektive

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 leitet einen historischen Paradigmenwechsel innerhalb der deutschen Rechtsordnung ein: Von einem „erdbebenhaften Push“ für die Rechte von Inter*Personen wird gesprochen, von einer „juristischen und gesellschaftspolitischen Revolution“. Mit seiner Entscheidung zum dritten Geschlecht hat das Bundesverfassungsgericht das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit endgültig ad acta gelegt. Aus nationaler Sicht ist diese Entscheidung nichts weniger als revolutionär. Dabei wird indes weitgehend übersehen, dass der Abschied von dem binären Geschlechtermodell auf völkerrechtlicher Ebene bereits im vollen Gange ist. Die Entscheidung aus Karlsruhe ist ihre logische Konsequenz.

Geschlecht in der internationalen Charta der Menschenrechte

So offenbart ein Blick auf die völkerrechtlichen Entwicklungen in der jüngeren Zeit, dass sich das höchste deutsche Gericht lediglich einer Bewegung anschließt, die im internationalen Recht bereits seit Jahren beobachtet werden kann: Der Anerkennung der Intergeschlechtlichkeit als eigenständige Geschlechtskategorie und dem damit einhergehenden Verbot nicht-eingewilligter, geschlechtszuweisender Eingriffe. Dem ersten Anschein nach stehen zwar auch die maßgeblichen Menschenrechtsinstrumente in der Tradition der binären Geschlechtskonzeption: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die sog. Zwillingspakte unterscheiden explizit zwischen Männer und Frauen, so beispielsweise bei der Bekräftigung des Gebots der „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ (vgl. z.B. die Präambel der AEMR, Abs. 6, sowie Art. 3 des UN-Sozialpaktes) sowie teilweise in den Vorschriften über das Recht auf Eheschließung und Familiengründung (z.B. Art. 16 Abs. 1 AEMR sowie Art. 23 Abs. 2 UN-Zivilpakt). Dieser ausdrückliche Bezug wird in diesen Dokumenten indes nur sehr vereinzelt hergestellt. Weit überwiegend werden stattdessen Formulierungen wie „jeder“, „jedermann“, „niemand“ oder „alle Menschen“ verwendet. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte hat dementsprechend betont, dass das geltende Menschenrechtsschutzsystem aus heutiger Perspektive ungeachtet der binären Geschlechterprämisse eine zeitgemäße Anwendung, die Menschen aller Geschlechter einschließt, erlaubt (A/HRC/19/41 v. 17.11.2011).

Die Yogyakarta-Prinzipien

Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung haben die Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität aus dem Jahr 2007 geleistet, die als die sog. Yogyakarta-Prinzipien bekannt geworden sind. Diese 29 Grundsätze, welche von internationalen Menschenrechtsexperten aus 25 Nationen ausgearbeitet wurden, entwerfen eine systematische Antwort auf die Frage, wie der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität im internationalen Menschenrechtsschutzsystem eine Stimme verliehen werden kann. Die Yogyakarta-Prinzipien bildeten damit auch den weltweit ersten Maßstab zur Prüfung, ob und inwieweit die Menschenrechte von LGBTI-Personen geachtet und geschützt werden. Obgleich sie bislang keinen rechtlich relevanten Status erlangt haben, wurden sie von zahlreichen UN-Gremien, regionalen Organisationen sowie von Nichtregierungsorganisationen aufgegriffen und bilden seitdem eine maßgebliche Quelle für den fortschreitenden Prozess des Queerings der Menschenrechte.

Die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW)

Eine Sonderstellung nimmt in diesem Kontext die UN-Frauenrechtskonvention ein, die ihrem Wortlaut nach unauflöslich mit der Bezugsgruppe der Frauen verknüpft erscheint. Damit ergibt sich im Rahmen von CEDAW grundsätzlich das Paradox, dass Inter*Personen überhaupt erst durch die operative Zuweisung zum weiblichen Geschlecht zu Rechtssubjekten des Abkommens werden. Die Konvention wurde darum innerhalb des letzten Jahrzehnts vermehrt zum Gegenstand von Reformüberlegungen, um ihren Anwendungsbereich auf LGBTI-Personen auszuweiten. Interessanterweise hat aber ausgerechnet der UN-Frauenrechtsauschuss als eines der ersten Organe der Vereinten Nationen zu einer Stärkung der Rechtsposition von Inter*Menschen beigetragen, nachdem sich im Jahr 2008 der deutsche Verein Intersexuelle Menschen e. V. / XY-Frauen an den Ausschuss gewandt und einen Schattenbericht über die Folgen der geschlechtszuweisenden operativen Eingriffe an inter*geschlechtlichen Personen eingereicht hatte. Der Verein vertrat die Auffassung, dass unter den Schutzbereich der UN-Frauenrechtskonvention alle Menschen fallen, welche körperlich nicht eindeutig dem männlichen Geschlecht zugehörig sind. Der UN-Ausschuss folgte dieser Argumentation und forderte die Bundesregierung auf, in einen Dialog mit den Nichtregierungsorganisationen von inter- und trans*geschlechtlichen Menschen einzutreten, um ihre Forderungen besser verstehen und effektive Maßnahmen zum Schutz ihrer Menschenrechte ergreifen zu können. Noch in ähnlicher Weise vorsichtig empfahl der UN-Ausschuss gegen Folter 2011 der Bundesrepublik Deutschland, „Vorfälle, in denen intersexuelle Menschen ohne wirksame Einverständniserklärung chirurgisch oder anderweitig medizinisch behandelt wurden, zu untersuchen“ sowie „Patienten und ihre Eltern ordnungsgemäß über die Folgen unnötiger chirurgischer oder sonstiger medizinischer Eingriffe an intersexuellen Menschen aufzuklären“ (CAT/C/DEU/CO/5, 12.12.2011).

Initiativen für ein weites Verständnis von Geschlecht

Seither haben sich die Anstrengungen in internationalen Foren zusehends gemehrt und der Ton hörbar verschärft. Im Jahr 2015 haben der Europarat, die Agentur der Europäische Union für Grundrechte sowie die interamerikanische Menschenrechtskommission praktisch zeitgleich festgestellt, dass geschlechtszuweisende Eingriffe gegen die Menschenrechte von Inter*Personen verstoßen. Diesen Initiativen schloss sich zunächst der UN-Kinderrechtsausschuss mit einer dezidierten Verurteilung der Behandlungspraxen in der Schweiz an (CO Switzerland, CRC/C/CHE/CO/2-4, 26.2.2015) und behielt diese Kritik in den folgenden abschließende Bemerkungen zu Irland (CO Ireland, CRC/C/IRL/CO/3-4, 1.3.2016), Chile (CO Chile, CRC/C/CHL/CO/4-5, 30.10.2015) und Frankreich (CO France, CRC/C/FRA/CO/5, 23.2.2016) sowie der allgemeinen Bemerkung Nr. 20 zu Kindern in der Adoleszenz bei. Auch andere UN-Vertragsorgane, wie der Ausschuss für die Rechte von Personen mit Behinderungen (CO Germany, CRPD/C/DEU/CO/1, 13.5.2015), setzen sich mittlerweile unverblümt mit dem einstigen Tabuthema auseinander.

Operative Eingriffe an inter*geschlechtlichen Kindern als Genitalverstümmelung

Noch einen Schritt weiter machte die Parlamentarische Versammlung des Europarates im Jahr 2013, als sie in einer wegweisenden Resolution operative Eingriffe an inter*geschlechtlichen  Kindern in die Nähe der weiblichen Genitalverstümmelung rückte und so auf die erschreckenden Parallelen zu der international geächteten schädlichen Praktik aufmerksam machte (Resolution 1952 (2013) – Children’s right to physical integrity). Seit diesem Frühjahr steht der Europarat mit dieser Einschätzung nicht mehr allein da: In der abschließenden Stellungnahme zum Staatenbericht der Bundesrepublik hat der UN-Frauenrechtsschuss medizinisch nicht-indizierte Eingriffe an inter*geschlechtlichen Kindern ebenfalls unmittelbar neben andere schädliche kulturelle Praktiken wie die Kinderehe und die weibliche Genitalverstümmelung gestellt (CO Germany, CEDAW/C/DEU/CO/7-8, 3.3.2017). Darüber hinaus haben die Ausschussmitglieder sogar ein explizites Verbotsgesetz für derartige Behandlungen gefordert. Ob und wie diese Forderung von der künftigen Bundesregierung beantwortet wird, bleibt mit Spannung abzuwarten.

Globaler Vergleich

Neben den Entwicklungen in der internationalen Staatengemeinschaft zeigt sich im Übrigen auch im globalen Vergleich die Aktualität der Anerkennung eines dritten Geschlechts in der deutschen Rechtsordnung: Positive Geschlechtseinträge jenseits von männlich oder weiblich sind bereits in einigen anderen Ländern möglich, namentlich in Australien, Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan und Neuseeland, sowie in den US-Bundesstaaten Oregon, New York und Kalifornien. Dank des Beschlusses des BVerfG wird sich nun auch der deutsche Gesetzgeber daran wagen müssen, überkommene soziokulturelle Normen und Rollenbilder aufbrechen zu müssen. Innerhalb der Europäischen Union könnte Deutschland damit eine Vorreiterrolle einnehmen: Zwar wurden vereinzelt auch in den übrigen europäischen Parlamenten vergleichbare Debatten angestoßen. An der rechtlichen Umsetzung fehlt es bislang aber. Nun ist es Zeit, zu handeln.


5 Comments

  1. Frank Frei Wed 15 Nov 2017 at 09:07 - Reply

    Soweit ich aus der Entscheidung des BVerfG entnehmen konnte ist diese Norm nur mit der Entscheidung sofort gültig?
    “dass eine unmittelbare Änderung verfassungsmäßig gegeben ist, und die bisherigen, lt. dem Urteil 1 BvR 2019/16, von den Verwaltungsbehörden … nicht mehr anzuwenden ist.”
    Ich habe hier im Rathaus die Löschung meiner Kategorisierung als Mann beantragt. Bin gespannt auf die Antwort.

  2. ETEKAR Wed 15 Nov 2017 at 11:30 - Reply

    Die Genitalverstümmelung afrikanischer Frauen diente den verantwortlichen Medizynern (Medizin + Zynismus=Medizyn!”) als Vorbild bei den, wie Sie es nennen, “operativen” Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern.

    Nach zu lesen ist diese Tatsache in der medizynischen Dissertation von Hans Martin Wisseler: “Harnwegsinfektionen nach Klitorektomien bei Mädchen mit kongenitalem adrenogenitalen Syndrom (AGS)” aus dem Jahre 1976 auf Seite 1 in der Einleitung, wo es von dem Verfasser in der Dissertation wörtlich heißt:

    “Weniger bekannt ist die Beschneidung von Mädchen. BRYK (1931) und JENSEN (1933) berichten in ihren Untersuchungen über afrikanische Naturvölker von Circumcisionen oder Incisionen der Klitoris bei heranwachsenden Mädchen. LAMBERT (1956) macht in seiner Arbeit: “Kikuyu: social and political institutions” den Stellenwert dieser Handlung im zentralen Hochland von von Kenia lebenden Bantu-Stammes, deutlich. In dem Roman “Die schwarze Haut” von R. RUARK (1974) finden sich anschauliche Darstellungen dieser Zeremonie. In der Kinderheilkunde ist die Indikation zur Klitorektomie gegeben, wenn im Rahmen von Virilisierungserscheinungen bei Mädchen ein übermäßiges Wachstum der Klitoris stattfindet.” Fakten, die bereits im Online-Diskurs des Deutschen Ethikrates zur “Intersexualität” gepostet worden sind. Allerdings der Zensur durch den Ethikrat zum Opfer gefallen sind, weil die Wahrheit unerwünscht war. Besuchen Sie am besten die Seite der Internationalen Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org und sehen Sie sich dort die rechtzeitig vor der Zensur des Deutschen Ethikrates geretteten Kommentare von ETEKAR an. Es müßte auch ein Kommentar dabei sein, der die Dissertation von Hans Martin Wisseler nennt und klar zum Ausdruck gebracht hat, dass die afrikanische Genitalverstümmelung den deutschen Medizyner als Vorbild für die Genitalamputation bei AGS-Mädchen galt.

    Diese Information fehlte der Resolution 1952 (2013) als Grundlage bei der Verabschiedung. Zensur hat bei der Wahrheitsfindung von Genitalverstümmelung an intergeschlechtlichen Kindern in Deutschland Hochkonjunktur.

    ETEKAR aus TOWN 21 (vgl. Sie zum Verständnis von TOWN 21 den 8 Kommentar bei dem Beitrag von Ulrike Klöppel)

  3. Steffen Wasmund Sun 26 Nov 2017 at 15:11 - Reply

    Romy Klimke: “in die Nähe der weiblichen Genitalverstümmelung rückte und so auf die erschreckenden Parallelen zu der international geächteten schädlichen Praktik aufmerksam machte”

    Was für Sie an der weiblichen Genitalvertstümmelung so “erschreckend” ist, bleibt mir unverständlich. Sie plädieren in Ihrer Schrift von 2015 eindeutig dafür, diese zu legalisieren. Jedenfalls teilweise: “Wie bereits festgestellt, können jedenfalls die Entfernung der Klitorisvorhaut und die Beschneidung der Vorhaut beim Mann hinsichtlich ihrer Eingriffsintensität als vergleichbar erachtet werden. Die aktuelle Rechtslage erscheint daher mit Blick auf Art. 3 I GG höchst bedenklich. Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau ließe sich letztlich nur umgehen, wenn einerseits § 226a StGB mittels teleologischer Reduktion auf Eingriffe, welche in einem nicht-medikalisierten Umfeld stattfinden, beschränkt65 oder andererseits die Entfernung der Klitorisvorhaut aus dem Tatbestand von § 226a StGB herausgenommen und unter den Bedingungen des § 1631d BGB ebenfalls legalisiert würde.” http://studiengang.wirtschaftsrecht.uni-halle.de/sites/default/files/BeitraegeEVR/Heft%2011.pdf S. 16

    Der Grundsatz der Gleichbehandlung lässt sich nur herstellen, indem die Genitalverstümmelung des männlichen Kindes verboten wird.

  4. Romy Klimke Thu 7 Dec 2017 at 19:23 - Reply

    Sehr geehrter Herr Wasmund,

    ich freue mich, dass Sie meinen Beitrag von 2015 zur weiblichen Genitalverstümmelung in Europa gelesen haben. Ihre Schlussfolgerung, ich würde für eine Legalisierung der weiblichen Genitalverstümmelung plädieren, stimmt jedoch mit meinen Ausführungen keinesfalls überein. Ich argumentiere lediglich, dass eine strukturelle Vergleichbarkeit zwischen der Entfernung der Penisvorhaut und der Klitorisvorhaut besteht. Letztere, auch Sunna genannt, ist aber nur eine der insgesamt vier, von der WHO anerkannten, Formen der weiblichen Genitalmodifikation. Weitaus gravierender, und in der Praxis viel verbreiteter, sind die Klitoridektomie und die Infibulation. Diese Eingriffe, die auch die sexuellen und reproduktiven Fähigkeiten der betroffenen Mädchen und Frauen irreversibel beeinträchtigen, lassen sich meiner Ansicht nach mitnichten rechtfertigen. Dies habe ich auch in meinem früheren Beitrag entsprechend dargelegt. Mit freundlichen Grüßen,

    Romy Klimke

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