14 February 2019

Selbstbestimmung oder Pathologisierung? Österreichs Konflikte um die dritte Option

Auch in Österreich sind Geschlechtseinträge nicht mehr auf ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ beschränkt – die Umsetzung der sogenannten dritten Option steht an. Dabei macht ein Rundbrief des Bundesministeriums für Inneres von sich reden. Die dritte Option soll auf die Bezeichnung ‚divers‘ beschränkt und nur auf Basis eines medizinischen Gutachtens einzutragen sein. Das Problem: Weder das Gesetz noch die Entscheidung, die den Weg für die dritte Option frei gemacht hat (Verfassungsgerichtshof, VfGH, 15.6.2018 G 77/208-9), erwähnen davon ein Wort. Der Rundbrief wirft verfassungsrechtliche Bedenken auf. Nicht zum ersten Mal steht die Umsetzung der dritten Option damit vor Schwierigkeiten. Bereits im Herbst 2018 ist der Bundesminister für Inneres mit Amtsrevision an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) gegen den ersten „inter“-Eintrag vorgegangen; allerdings ohne Erfolg. Nun scheint eine neue Runde im Konflikt um die dritte Option eingeläutet.

Geschlechterbegriff und Auftrag des Verfassungsgerichtshofs

Aber der Reihe nach: Seine Entscheidung zur dritten Option hat der VfGH allem voran auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gestützt, die in Österreich Verfassungsrang hat. Sie schützt in Art 8 die Achtung des Privat- und Familienlebens, wovon nach dem VfGH-Beschluss auch das Recht auf Schutz von geschlechtlicher Identität und Selbstbestimmung erfasst ist [Rz 34 sowie 17, 18, s.a. Marija Petričević, Rechtsfragen zur Intergeschlechtlichkeit, 2017]. Dieses Recht gelte auch und gerade für Personen mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ [Rz 15] – dies ist der Begriff, mit dem der VfGH unter Berufung auf eine Stellungnahme der Bioethikkommission arbeitet. Er steht für Intergeschlechtlichkeit[1], die der Gerichtshof in seiner Entscheidung von Transidentität abgrenzt [Rz 15]. Letztere war nicht Gegenstand der Entscheidung. Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf das Begriffsverständnis des VfGH zu werfen. Gemeinsam haben inter- und transgeschlechtliche Personen demnach, dass ihnen das binärgeschlechtliche Schema ‚weiblich-männlich‘ und/oder eine (spezifische) Geschlechtszuweisung nicht gerecht werden. Im Fall von intergeschlechtlichen Personen wird das mit chromosomalen, anatomischen und/oder hormonellen körperlichen Voraussetzungen begründet. Transidentität bedeutet in der Entscheidung des VfGH, dass Personen genetisch, anatomisch und/oder hormonell begründbar einem Geschlecht zugewiesen werden, sich jedoch in diesem falsch oder unzureichend beschrieben fühlen oder aber Geschlechtszuordnung an sich ablehnen [Rz 15]. Inwieweit sich der Zugang zur dritten Option – verfassungsrechtlich zulässig – auf intergeschlechtliche Personen beschränken lässt, wird in Zukunft zu klären sein (siehe auch unten). 

Im konkreten Fall ging es vorerst um Intergeschlechtlichkeit, die der VfGH daran festmacht, dass Personen genetisch, anatomisch und /oder hormonell nicht eindeutig in das binärgeschlechtliche Schema ‚weiblich-männlich‘ eingeordnet werden können. Beschwerdeführende Partei war Alex Jürgen, eine Inter*person, die für sich das Recht auf den Geschlechtseintrag ‚inter‘ geltend gemacht hatte – und das mit Erfolg. Ein Personenstandswesen, das Geschlechtseinträge vorsieht, dabei aber kein Angebot jenseits von ‚weiblich-männlich‘ macht, verletzt nach dem VfGH Art 8 EMRK. Dasselbe gilt für eine fremdbestimmte Zuweisung in dieses Binärsystem (oder auch in eine dritte Kategorie). Selbstbestimmung ist, kurz gesagt, die leitende Maxime. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht die einfachgesetzliche Grundlage, das Personenstandsgesetz 2013 (PStG 2013), aus Sicht des VfGH – vorausgesetzt es wird verfassungskonform vollzogen. So definiere das PStG 2013 Geschlecht nicht als binäres weiblich-männlich-System [Rz 36-39] und enthalte entsprechend flexible Eintragungs- Änderungs-, Ergänzungs- und Berichtigungsvorschriften; es stehe Personen danach auch frei, aus legitimen Gründen kein Geschlecht anzugeben [Rz 42]. Das PStG 2013 hat der VfGH damit ‚gerettet‘. Die zuständigen Stellen hat er mit einer verfassungskonformen, den Anforderungen des Art 8 EMRK genügenden Vollziehung beauftragt. Was das im Alltag für die Personenstandsbehörden bedeutet, legt der Gerichtshof nicht näher fest. Mit auf den Weg gibt er ihnen lediglich, dass „‚divers‘, ‚inter‘ oder eben offen‘“ [Rz 39] Bezeichnungen seien, die sich zur Beschreibung von Intergeschlechtlichkeit etabliert hätten. 

Der Vollziehung überlassen?

Als nächstes war das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (LVwG OÖ) am Zug: Nachdem der VfGH seine Anlassfall-Entscheidung aufgehoben hatte (VfGH, 27.6.2018, E 2918/2016), hatte es (erneut) über den Antrag von Alex Jürgen zu entscheiden. Im Sinn des höchstgerichtlichen Beschlusses entschied das LVwG OÖ am 3.7.2018, dass der Geschlechtseintrag antragsgemäß auf ‚inter‘ zu berichtigen sei. 

Die Reaktion des Bundesministers als verfassungsrechtliches Problem

Dagegen wandte sich der Bundesminister für Inneres. Im Wege einer Amtsrevision brachte er beim VwGH vor, dass es an Rechtsprechung fehle, wie bei der Zuordnung einer Geschlechtsangabe für intergeschlechtliche Personen vorzugehen sei, insbesondere welcher Prüfmaßstab anzuwenden sei. Diesem Vorbringen erteilte der VwGH am 14.12.2018 eine Absage (Ro 2018/01/0015). Bezogen auf den konkreten Fall sei die Entscheidung des VfGH – neben den einschlägigen Rechtsvorschriften – bindende Grundlage. Für einen Inter*eintrag gelten demnach zwei Voraussetzungen: (1) Es muss sich um eine Person mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich handeln (Intergeschlechtlichkeit), die sich (2) nicht dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugehörig fühlt [Rz 20]. Zu Recht sei das LVwG OÖ daher dem Hauptantrag von Alex Jürgen gefolgt und habe – im Rahmen der Terminologie des VfGH – festgestellt, dass ‚inter‘ einzutragen sei.

In ihrer Stoßrichtung weisen die Entscheidungen des VwGH und des VfGH eine Parallele auf: Beide Höchstgerichte üben sich in Zurückhaltung, wenn es um grundlegende Vorgaben für die Vollziehung geht. Der VfGH hat lediglich die Möglichkeit einer verfassungskonformen Interpretation beschlossen (und dadurch eine Aufhebung einfacher Gesetzesbestimmungen vermieden). Der VwGH wiederum hat sich – unter Berufung auf die Bindungswirkung des VfGH-Erkenntnisses – weitgehend auf den konkreten Sachverhalt beschränkt. Wohlgesinnte Leser*innen werden die Zurückhaltung der Höchstgerichte wahrscheinlich als nobel verstehen. Andere meinen vielleicht, die Betroffenen sind gegenüber der Vollziehung sich selbst überlassen. In jedem Fall ist mit weiteren rechtlichen Auseinandersetzungen zu rechnen, denn der Bundesminister für Inneres hat es nicht bei seiner Amtsrevision gegen die Entscheidung des LVwG OÖ belassen: Am 20.12.2018 hat das Ministerium ein Schreiben veröffentlicht, demzufolge die dritte Option auf die Bezeichnung ‚divers‘ zu beschränken und nur auf Basis eines einschlägigen Gutachtens einzutragen sei. Weil das Thema Intergeschlechtlichkeit komplex und ein einheitlicher Vollzug sicherzustellen sei, sei ausschließlich ein sogenanntes VdG (Varianten der Geschlechterentwicklung)-Board für die Begutachtung zuständig. Dieses Board ist als multiprofessionelle, medizinische Expert*innengruppe angelegt, die beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz angesiedelt ist. 

Sowohl in formaler als auch in materieller Hinsicht wirft das Vorgehen des Bundesministers verfassungsrechtliche Fragen auf: 

(1) Zuallererst sieht die österreichische Rechtsordnung für eine Gesetzesauslegung mit unmittelbar imperativem Charakter und unbestimmtem Adressat*innenkreis die Rechtsform der Verordnung vor. Um ein Schreiben als Verordnung zu qualifizieren, kommt es – nach der höchstgerichtlichen Judikatur – nicht auf dessen Bezeichnung, sondern auf den Inhalt an. Das Schreiben aus dem Innenministerium ist nicht als Personenstandsdurchführungsverordnung kundgemacht worden. Vieles spricht allerdings dafür, die Festlegung auf die Bezeichnung ‚divers‘ und die generelle Anordnung einer medizinischen Begutachtung als Verordnung zu qualifizieren. Als solche wäre das Rundschreiben schon mangels ordnungsgemäßer Kundmachung aufzuheben. 

(2) Sollte es zu keiner Qualifikation als Verordnung kommen, wäre im Umgang mit dem Rundschreiben dennoch zumindest verfassungsrechtliches Fingerspitzengefühl gefordert. So ist die Judikatur in Erinnerung zu rufen, die bereits im Jahr 2009 rund um den Fall des Operationszwangs für Trans*Personen ergangen ist: Damals hatte ein Schreiben des Bundesministeriums für Inneres – der sogenannte ‚Transsexuellen-Erlass‘ – vorgesehen, dass für einen Wechsel zwischen den beiden verfügbaren Geschlechtseinträgen ein psychotherapeutisches Gutachten und der Befund einer geschlechtsanpassenden Operation vorzulegen sei. Bereits am 27.2.2009 hatte der VwGH entschieden, dass schwerwiegende operative Eingriffe keine zwingende Voraussetzung für einen der Geschlechtsidentität entsprechenden Eintrag sind. Am 3.12.2009 war der VfGH mit der rechtlichen Qualifizierung des damals aktuellen Schreibens aus dem Innenministerium befasst. Er entschied, dass es sich um keine Rechtsverordnung handle, da die Mitteilung lediglich deklarativ beschreibe, wie das Verfahren nach Meinung des Bundesministers für Inneres auszuführen sei. Zu Unrecht sei die Personenstandsbehörde von einer Verpflichtung ausgegangen, Befunde und Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen einzufordern. Das Personenstandsgesetz enthalte keine Regelungen zu Transgeschlechtlichkeit und die Behörde sei gehalten, von Amts wegen die materielle Wahrheit zu erforschen. Ähnliches könnte nun für das vorgesehene VdG-Board gelten: Weder die Entscheidung des VfGH zur dritten Option noch die Entscheidung des VwGH oder das PStG 2013 sehen eine medizinische Begutachtung von intergeschlechtlichen Personen vor. Im Gegenteil, in Rz 16 hält der VfGH fest, dass Intergeschlechtlichkeit als Variante der Geschlechtsentwicklung anzuerkennen und „insbesondere kein Ausdruck einer krankhaften Entwicklung“ ist. Man* muss nur an Fälle denken, in denen Personen bereits vor der Entscheidung des VfGH und auf Basis einer vorgebrachten Intergeschlechtlichkeit den Geschlechtseintrag gewechselt haben. Hier ist die Intergeschlechtlichkeit bereits aktenkundig und es stellt sich die Frage, ob die entsprechenden Feststellungen – ebenso wie ganz grundsätzlich die Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit – über das Schreiben des Bundesministeriums für Inneres beschränkt werden können. 

(3) Schließlich sind noch grundlegende freiheitsrechtliche Bedenken anzumerken. Die Begutachtung durch das VdG-Board wird mit dem Schreiben als spezifische Zugangsvoraussetzung für den (ausschließlichen) Geschlechtseintrag ‚divers‘ installiert. Der wiederum ist intergeschlechtlichen Personen vorbehalten. Dem Beschluss des VfGH ist keine Grundlage für diese Einschränkungen zu entnehmen. Im Gegenteil, er erhebt Selbstbestimmung zu einer zentralen Größe und hält fest, dass Intergeschlechtlichkeit – ebenso wie Männlichkeit oder Weiblichkeit – keine krankhafte Entwicklung ist. Auch das Schreiben selbst macht nicht ersichtlich, warum der Eintrag ‚divers‘ mit einer solchen Komplexität behaftet sein sollte, dass ein medizinisches, multiprofessionales Board eingeschalten werden müsste. Und auch die Beschränkung auf intergeschlechtliche Personen erscheint vorderhand nicht sachlich nachvollziehbar. Es wird in Zukunft zu klären sein, ob es gerechtfertigt ist, dass Personen deren Hormone, Chromosomen oder Anatomie vom Binärschema abweichen (im Sinn der Selbstbestimmung zu Recht) Einträge nach diesem Binärschema beanspruchen können, umgekehrt aber Personen, die diesem Schema entsprechen, eine Kategorisierung aber ablehnen (Transidentität) keinen Zugang zum Eintrag ‚divers‘ haben. 

Hoffen auf die Gerichte

Es zeigt sich: Eine Menge Fragen sind offen und Elisabeth Greifs Einschätzung dürfte auch in Zukunft nicht an Gültigkeit verlieren: „Bestand und Ausgestaltung von LGBTI*-Rechten in Österreich sind weitgehend das Verdienst höchstgerichtlicher Rechtsprechung“. 

Für Anregungen, Hinweise und Gespräche rund um diesen Blogbeitrag bedanke ich mich bei Elisabeth Holzleithner, Ha Mi Le, Luan Pertl und Marija Petričević .


[1]Der VfGH selbst benutzt an dieser Stelle den Begriff Intersexualität. Dieser Blog greift auf Intergeschlechtlichkeit zurück, weil es sich um den von deutschsprachigen Selbstvertretungsorganisationen zusehends gebrauchten Begriff handelt. 


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