30 March 2020

Die Wieder­entdeckung des Möglichkeits­horizonts

Auch im Rahmen der Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus kann die Abwägung von Verfassungsprinzipien immer nur zu Ergebnissen führen, welche das „relativ auf die tatsächlichen Möglichkeiten“ Optimale anordnen (R. Alexy). Dieses „tatsächlich Mögliche“ ändert und wandelt sich. Auch juristische Abwägungen kommen hierdurch zu krisenbedingten Ergebnissen. Sie fordern jedoch immer auch zu einer schnellstmöglichen Wiederannäherung an den verfassungsidealen Zustand auf, sobald sich der Möglichkeitsraum wieder weitet. Bald wird also entscheidend sein, diese Rückkehr zur Normalität, welche nach der Bewältigung der Pandemie anzustreben sein wird, auch rechtlich nicht zu verzögern.

Die Fiktion vom erfüllungsfähigen Staat

Die Grafiken und Kurven, welche die derzeitige Debatte über die Bekämpfung des Corona-Virus und mit ihr das staatliche Handeln beherrschen, haben etwas ans Licht gebracht, das in Zeiten der Normalität nur undeutlich sichtbar ist: Den Möglichkeitshorizont staatlicher Handlungsfähigkeit. Die Normalerwartung an einen funktionsfähigen Staat lautet, dass er die an ihn gestellten Aufgaben erfüllen kann. Das Recht, was hierauf aufbaut, legt diese „Möglichkeitsunterstellung“ (C. Möllers, Die Möglichkeit der Normen, S. 145) in der Hoffnung zugrunde, dass sie sich als wahr herausstellen wird. Tatsächlich eintretende Unmöglichkeit als rechtliche Kategorie scheint dem öffentlichen Recht in der Normallage fremd zu sein: „Der Staat ist immer erfüllungsfähig“ (O. Mayer). Dieses Palmströmsche Argument (Es kann nicht sein, was nicht sein darf) ist spätestens in der derzeitigen Lage kritisch zu hinterfragen. Obwohl jeder zustimmen wird, dass auch der Staat nur über begrenzte Handlungsmittel verfügt, kaprizieren sich die Erwartungen, die Pandemie und ihre Folgen zu bewältigen, doch auf ihn. Das Bild vom stets erfüllungsfähigen Staat lebt zumindest noch als wirkmächtige Fiktion weiter. Dennoch gilt auch für ihn: Was vor wenigen Wochen noch möglich war, ist in der derzeitigen Lage offenbar nicht mehr ohne weiteres leistbar.

Selbst die Vorstellung vom freiheitsfunktionalen Staat, der nur subsidiär auftreten soll, wenn Freiheit „notleidend“ wird, muss durch die derzeitige Lage eine Probe bestehen. Wenn weite Teile der Wirtschaft in Existenznöte geraten und in der Folge auch die Arbeitslosigkeit steigt, würde die nunmehr notwendige flächendeckende Existenzsicherung zu einer staatlichen Pflicht werden, deren Geltungsanspruch sich an der Grenze des Möglichen bewähren muss. Deutschland ist auch dank der Schuldenbremse in einer Lage, in welcher der Staat vieles wird „möglich machen“ können. Andere Staaten werden bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen durchaus vor Probleme gestellt werden. Dass nicht nur einzelne Staaten ihren Schuldendienst unter Berufung auf einen finanziellen Notstand aussetzen werden, um noch die elementarsten Pflichten zu erfüllen, rückt in den Bereich des Vorstellbaren.

Der Schutz des Lebens unter dem „Vorbehalt des Möglichen“?

Der Möglichkeitsraum, in dem sich staatliche Entscheidungen orientieren müssen, verengt sich also. Steuereinnahmen werden ausfallen, während gleichzeitig die Nachfrage nach staatlichen Hilfen zur Existenzsicherung und Lebensrettung zunimmt. Die positiven Leistungspflichten des Staates, welche dieser in Form von Schutz, Verfahren und Förderung erfüllen soll, werden selbst auf dem Niveau von Minimalleistungsansprüchen in Frage gestellt werden. Denn langfristig sind Sparzwänge zu erwarten. Der Gesetzgeber wird kürzen müssen. Gleichzeitig stehen in Italien Ärzte bereits kurzfristig vor der Frage, welches Menschenleben sie retten. Juristen werden solche Entscheidungen beurteilen müssen: Steht in der Krise selbst der Schutz des Lebens unter dem „Vorbehalt des Möglichen“, wenn Ärzte zur Triage gezwungen werden?

Bislang ist der „Vorbehalt des Möglichen“ vor allem in langfristigen Entscheidungsszenarien aktiv, etwa dann, wenn es um die Frage geht, wie viel Kita-Plätze oder Studienplätze der Staat bereitstellen kann. Es geht in diesen Fällen um die Umsetzung objektiver Staatsaufträge und eine Priorisierung in der staatlichen Ressourcenallokation, bei der dem Gesetzgeber weite Spielräume zugestanden werden. Die Unmöglichkeit als juristischer Einwand hat in diesen Konstellationen eine geringere Bedeutung, als es scheint. Solange der Gesetzgeber selbst definieren darf, was politisch machbar ist, blieb der Streit über das staatlich Mögliche der politischen Mehrheitsentscheidung vorbehalten. Nun wird der Möglichkeitshorizont auch in tiefgreifenden grundrechtssensiblen Entscheidungen des Staates deutlich sichtbar.

Man wird daher nicht umhinkommen, einen „Vorbehalt des Möglichen“ zu aktivieren, wenn in einer konkreten Entscheidungssituation die Rettung aller Patienten nicht miteinander kompossibel ist. Diese Frage wird sich auch dann stellen, wenn ein Impfstoff zunächst nur in begrenzten Mengen verfügbar ist. Eine Präferenzentscheidung muss weiterhin von normativen Kriterien angeleitet sein. Doch sie ist, sobald die Möglichkeiten nicht ausreichen, notwendigerweise exklusiv. Dass Kosten-Nutzen-Analysen in dieser Situation eine Rolle spielen werden, lässt sich kaum vermeiden. Es stellt sich daher umso mehr als die kurzfristige wie auch langfristige Aufgabe des Gesundheitssystems dar, solche Entscheidungssituationen – nach Möglichkeit (!) – zu verhindern. Bislang scheint dies zumindest dem deutschen Gesundheitssystem gelungen zu sein. Auch weil der Staat bislang rechtzeitig „möglich macht“, was binnen Tages- und Wochenfrist noch erreichbar ist. Da die kurzfristige Aufstockung der Kapazitäten ihrerseits an Grenzen des Möglichen stößt (Beatmungsgeräte, Schutzmasken und anderes Material sind derzeit knappe Güter), werden Eingriffe in Freiheitsrechte dennoch unvermeidlich.

Zwingt die heutige Vermeidung der Triage zur Triage von morgen?

Es zeigt sich in der Krise nur besonders deutlich, dass die kategorielle Trennung von negativen – scheinbar immer erfüllbaren – und positiven – potenziell unmöglichen – Rechten versagt. In der derzeitigen Abwägungslage geht es darum, ob die Vermeidung von Eingriffen in die negative Freiheit der Bürger mit der Erfüllung der positiven Schutzpflicht gegenüber Gesundheit und Leben kompossibel ist – also unter den derzeitigen Bedingungen eine gemeinsame Verwirklichung möglich ist. Dies ist offenbar nicht der Fall. Staaten weltweit haben nun in dieser Entscheidungssituation alles Handeln an dem Ziel ausgerichtet, die Kurve der Neuinfektionen abzuflachen und so Triage-Entscheidungen zu verhindern. Sie haben sich hiermit in der Abwägung für einen nahezu absoluten Vorrang des Gesundheitsschutzes vor der Freiheit des Einzelnen entschieden. Dies drückt eine beachtliche normative Wertschätzung des menschlichen Lebens aus. Die begrenzten Möglichkeiten, welche die Schutzpflicht des Staates belasten, schlagen hiernach auf die Abwehrrechte durch. Der Vorbehalt des Möglichen wird – getreu dem Motto „flatten the curve“ – auch im Bereich der negativen Freiheit aktiv.

Ob Gerichte dieses Ergebnis bestätigen werden, bleibt abzuwarten. Es darf vermutet werden, dass der „Vorbehalt des Möglichen“ wiederentdeckt werden wird, um nicht nur dem Gesetzgeber, sondern auch der Exekutive in der Ausnahmelage eine Abwägung sogar zulasten der Freiheitsrechte zuzugestehen, solange andernfalls die Realisierung elementarer Schutzpflichten unmöglich zu werden droht. Die Eingriffe in Freiheitsrechte dienen hiernach auch der Wahrung der „Funktionsfähigkeit“ staatlicher Leistungssysteme. Die Gerichte sollten jedoch aufklären, dass hinter Gemeinwohlinteressen wie der „Funktionsfähigkeit“ des Staates eben auch die aggregierten Individualinteressen aller in ihrer Gesundheit gefährdeten Bürger stehen, die er durch sein Handeln zu schützen versucht. Bei aller Wertschätzung des menschlichen Lebens wird eine umfassende Folgenabschätzung aber auch die Bremsspuren einer radikalen Einschränkung anderer Freiheiten ehrlich berücksichtigen müssen: Wird eine auf Jahre hin zurückgeworfene Weltwirtschaft noch genug ökonomische Ressourcen aufbringen, um das Gesundheitssystem und medizinische Forschung für neue und alltägliche Gesundheitsgefahren auszustatten? Oder zwingt die Vermeidung der Triage heute nicht zur Triage von morgen? Auch dieser Aspekt sollte ergebnisoffen in eine Abwägung eingestellt werden.

Soweit die einschneidenden Maßnahmen nur eine zeitlich begrenzte Ausnahme von der Regel bleiben, erscheinen sie situativ angemessen. Sie vollständig für nichtig zu erklären, würde Gerichten abverlangen, eine bessere Prognosefähigkeit zu besitzen als die politischen Entscheider. Gerichte werden sich auch aufgrund der Gewaltenteilung in richterlicher Selbstbeschränkung üben, wie es etwa das Bundesverfassungsgericht auch in anderen Umbruch- und Krisenphasen getan hat. Die Aufgabe der Gerichte wird darin liegen, Einzelmaßnahmen punktuell zu korrigieren, etwa durch Hinweise auf unverhältnismäßige Härtefälle, und so das staatliche Handeln unter den gegebenen Ausnahmebedingungen auf seine Angemessenheit hin kontrollieren. Auf die Einhaltung des Vorbehalts des Gesetzes könnte das Bundesverfassungsgericht auch unter Setzung von Fristen hinwirken und solange die Nutzung von Generalklauseln tolerieren.

Die Krise fordert föderale Verhältnismäßigkeit

Bedenklich erscheint auch die eilfertige Kritik an örtlich und zeitlich individuell angepassten Maßnahmen, die einem in der Krise anhaltenden Trend des Föderalismus-Bashing folgt. Die Sorge vor einem „Flickenteppich“ verschiedener Regeln, welche dazu führen, dass ein Bürger in einer dichtbevölkerten Großstadt anderen Verhaltensregeln ausgesetzt sein könnte als in einer weitläufigen Dorfsiedlung, zeigt ein geringes Gespür für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Einzelfallgerechtigkeit auch in der Krise fordert, soweit dies noch möglich ist. Warum aber sollte es nicht möglich sein, in München andere Regeln durchzusetzen als in Flensburg, wenn die Infektionsgefahr an beiden Orten signifikant voneinander abweicht? Die Sorge um einen Verlust der Ordnung führt stattdessen zu einer überzogenen Neigung zur „Typisierung“, wo diese gar nicht erforderlich ist. Spätestens dann, wenn es darum gehen wird, Maßnahmen aufzuheben wird dies nur einzelfall- und lageabhängig erfolgen können. Erst dann, wenn die getroffenen Maßnahmen wiederum willkürlich voneinander abweichen und die Uneinheitlichkeit ihrerseits unangemessen erscheint, müssen die Länder kooperieren und sich auf eine Vereinheitlichung verständigen. Dies scheint bislang besser zu gelingen, als es mitunter dargestellt wird. Der Wunsch nach einer zentralstaatlichen „Kriegserklärung“, wie sie etwa der französische Staatspräsident abgegeben hat, ist dem deutschen Bundesstaatsprinzip fremd.

Die Gerichte werden bei der Überprüfung der Maßnahmen auch die Folgen berücksichtigen und mitbedenken müssen, dass bei einer umfassenden Aufhebung die Grenze der Möglichkeiten des Gesundheitssystems in wenigen Tagen gesprengt sein könnte. Sie werden mitbedenken müssen, dass den derzeitigen Maßnahmen auch die Erwägung zugrunde liegt, dass im ungünstigsten Fall, eine Eindämmung der Infektionszahlen nur noch durch wesentlich striktere Maßnahmen (etwa durch vollständige Ausgangssperren) zu erreichen wäre. Dieser Möglichkeitshorizont liegt zwar im Nebel, doch seine Einschätzung werden Gerichte wohl kaum wahrheitsgemäßer treffen können als die politischen Entscheidungsträger. Den Gerichten wird hingegen die zentrale Aufgabe zufallen, streng zu kontrollieren, wann und wo die Erfüllung eines verfassungsoptimaleren Zustands wieder möglich ist und ob spezifische Eingriffe unbedingt notwendig sind, um das Ziel der Kapazitätsschonung des Gesundheitssystems tatsächlich zu erreichen. Dabei sind sie jedoch immer auch als Teil des gesamten Maßnahmepakets zu begreifen, das nur in Gänze effektive Wirkung zeigen wird. Mit der Rückgewinnung des Möglichkeitsraums in der sich wieder einstellenden Normalität wird dennoch eine schrittweise Annäherung zur bisherigen Schonung der Freiheit des Einzelnen möglich und damit geboten sein.

Der analoge Staat ist in der Krise handlungsunfähig

Kurzfristig bleibt der Möglichkeitsraum klein. Handlungsalternativen, welche langfristig zur Verfügung stehen, sind kurzfristig absolut unverfügbar. So ließen sich zum Beispiel für wichtige Verfahren (Parlamentssitzungen, Gerichtsverhandlungen, usw.) langfristig Regeln schaffen, um diese im Pandemiefall auch digital fortzusetzen. Kurzfristig fehlt es nicht nur an den rechtlichen, sondern auch an den faktischen Voraussetzungen. Daher stehen auch Strafverfahren bis auf weiteres still, wenn Verfahrensbeteiligte sich infizieren und dies für die Öffentlichkeit, welche herzustellen unabdingbar ist, ein potenzielles Infektionsrisiko bedeutet. Wie werden zum Beispiel Gerichte entscheiden, wenn ein Untersuchungshäftling seine Freilassung beantragt, weil seine Verfahren nicht beschleunigt werden konnte, weil etwa ein Richter oder Schöffe erkrankt ist? Bislang hat das Bundesverfassungsgericht die Überlastung von Gerichten nicht als unvermeidlichen Grund der Verfahrensverzögerung anerkannt. Wird das Gericht nun anders entscheiden? Ist dem Staat unter den derzeitigen Gegebenheiten eine vollumfängliche Gewährleistung der Verfahrensbeschleunigung noch „zumutbar“? Anders gewendet: Ist es dem Staat etwa „zumutbar“ und er hiermit auch dazu verpflichtet, Gerichte so auszurüsten, dass sie auch im Pandemiefall jedes Verfahren reibungslos durchführen könnten? Über ein Recht auf Digitalisierung staatlicher Leistungen und Verfahren wird – jedenfalls langfristig – offener diskutiert werden müssen, weil sich der analoge Staat in der Krise als ein in weiten Teilen handlungsunfähiger Staat entpuppt hat. Der Bürger, der eine rechtlich gebotene Leistung nicht mehr erhält, weil der Staat es versäumt hat, eine digitale Gewährleistung möglich zu machen, könnte hiernach in Zukunft verlangen, dass der Staat nachbessert.

Die Verfassung garantiert keine „Pandemiesicherheit“

Wenn also die kurzfristige Phase absoluter Unmöglichkeiten überstanden ist, wird wieder die Frage des relativ Möglichen in den Mittelpunkt rücken. Der Gesetzgeber wird darüber befinden müssen, ob er Präferenzentscheidungen der Vergangenheit neu justiert: Mehr Ausgaben für Intensivbetten als für Kita-Plätze? Mehr Investitionen in die Digitalisierung als neue Rentenerhöhungen? Die Findung dieses Konsens wird wie schon in der Vergangenheit wiederum nur unvollständig justiziabel sein. Wohl kaum wird der Staat von Verfassung wegen verpflichtet sein, auch bei einer abklingenden Pandemie Kapazitäten für die nächste aufzubauen, welche eine lückenlose Infektionsvermeidung garantieren. Das Ziel, diese Sicherheit zu schaffen, stünde schon mangels verfügbarem Wissen über die nächste Pandemie seinerseits unter dem Vorbehalt des Möglichen. Man wird den Staat objektiv dazu verpflichten können, eine Verbesserung der Vorsorge zu schaffen und Erfahrungen aus der derzeitigen Pandemie zu berücksichtigen. Dennoch wird die Abwägung auch in Zukunft nicht zu einer verfassungsmäßigen Garantie absoluter „Pandemiesicherheit“ führen können.


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