19 June 2020

Willkürlich und launenhaft

Die beiden großen westlichen Unions-Verfassungsgerichte, das europäische und das amerikanische, haben in dieser Woche spektakuläre Urteile gefällt, in denen es darum geht, wie ungezwungen ein Staat mit den Belangen von Menschen umspringen kann, die ihm nicht angehören. Zu dem EuGH-Urteil zur Drangsalierung ausländisch finanzierter NGOs in Ungarn erwarten wir in der kommenden Woche noch (mindestens) eine gründliche Analyse. Ich will mich daher hier auf das Urteil Department of Homeland Security v. Regents of the University of California des US Supreme Court konzentrieren. Das scheint mir nämlich ebenfalls ziemlich interessant zu sein.

DACA und die Dreamers

In der Entscheidung geht es um das Bestreben der Trump-Regierung, die unter Obama erreichte Quasi-Legalisierung vieler Immigranten ohne Aufenthaltsstatus wieder rückgängig zu machen – der so genannten “Dreamers” nämlich, die als Kinder zumeist aus Mittelamerika in die USA gekommen waren, zur Schule gingen, studierten, Geld verdienten und kleine amerikanische Staatsbürger_innen in die Welt setzten und in jeder Hinsicht musterhafte Amerikaner_innen wurden bis auf einer, nämlich dass ihr Aufenthalt in den USA offiziell illegal war und blieb und sie ihr Leben in Angst vor der Einwanderungsbehörde zu verbringen hatten. Nach einem Jahrzehnt gescheiterter Versuche, daran auf gesetzgeberischem Weg etwas zu ändern, setzte die Obama-Regierung 2012 das sogenannte DACA-Programm auf: Damit bekamen mehr als 700.000 “Dreamers” vorläufig Sicherheit, ohne Furcht vor Abschiebung ihr Leben in den USA fortsetzen zu können, sowie Zugang zu Arbeitsmarkt und Sozialsystem.

2016 wurde Trump gewählt, und wenig später widerrief das Ministerium für Innere Sicherheit das DACA-Programm. Dagegen klagten verschiedene Menschen, und ihnen hat jetzt der Supreme Court mit knapper 5:4-Mehrheit Recht gegeben, mit Chief Justice John Roberts als swing vote und Autor der Mehrheitsmeinung. Sein Argument ist nicht verfassungs- und nicht grund-, sondern verwaltungsverfahrensrechtlicher Natur: Wenn man das macht, was die Trump-Regierung da gemacht hat, dann jedenfalls nicht so.

Die zuständige kommissarische Ministerin für Innere Sicherheit Elaine Duke hatte den Widerruf von DACA 2017 damit begründet, dass das Nachfolgeprogramm DAPA zuvor von einem Bundesgericht aus rechtlichen Gründen ausgesetzt worden war. Justizminister Jeff Sessions hatte die – insoweit bindende – Meinung vertreten, dass die gleichen Bedenken auch gegen DACA bestünden. Diese Begründung, so Chief Justice Roberts, sei vollkommen ungenügend: Die rechtlichen Bedenken hätten sich auf den Zugang zu Arbeitsmarkt und Sozialsystem bezogen. Aber wie der Name (“Deferred Action…”) schon sagt, sei der Kern des DACA-Programms der vorläufige Verzicht auf die Abschiebung gewesen.

Warum das Ministerium diesen Verzicht widerruft, so Roberts, sei ohne jegliche Begründung geblieben. Das allein schon mache den Beschluss “willkürlich und launenhaft” (arbitrary and capricious). Vor allem aber habe das Ministerium ignoriert, dass sich die Betroffenen auf DACA verlassen hatten: Sie hatten sich und ihr Leben darauf eingerichtet, und ihre Umgebung auch. Mag sein, dass die Regierung ihnen diese Sicherheit wieder wegnehmen darf. Aber zumindest muss sie in ihrer Begründung erkennen lassen, dass sie die Belange der Betroffenen erkannt, gewogen und zu leicht befunden hat. Was sie aber nicht darf, ist einfach über sie hinwegzulatschen, als seien sie gar nicht da.

Was Roberts ebenfalls nicht gelten lässt, ist das Argument, die Trump-Regierung habe doch später noch Gründe nachgeliefert. Der Staat, so der Chief Justice, habe sich an den Gründen messen zu lassen, die er zum Zeitpunkt der Entscheidung nennt. “Men must turn square corners when they deal with the government”, zitiert Roberts eins der vielen geflügelten Worte von Oliver Wendell Holmes und dreht es um: Auch die Regierung darf keine Abkürzungen nehmen, wenn sie mit Menschen zu tun hat. “An agency must defend its actions based on the reasons it gave when it acted. This is not the case for cutting corners to allow DHS to rely upon reasons absent from its original decision.” Ist das Formalkram? Mitnichten, so Roberts. Wenn der Staat seine zunächst willkürliche Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt tadellos begründen zu können glaube, dann müsse er halt neu entscheiden. Aber seine alte Entscheidung bleibe rechtswidrig. Weder Klägern noch Gerichten sei zuzumuten, einem “moving target” hinterher zu laufen, dessen Rechtmäßigkeit davon abhängt, ob der Regierung vielleicht nicht doch noch mal etwas Gescheites zu seiner Rechtfertigung einfällt.

Call for Papers „Rechtsstaat und Demokratie unter Druck – Perspektiven in der sozialen und ökologischen Krise“

Die Zeitschrift juridikum, das Institut für Rechtsphilosophie der Uni Wien und die Arbeiterkammer Wien organisieren von 11. bis 13. März 2021 die Tagung „Rechtsstaat und Demokratie unter Druck“.

Gegenwärtig erleben wir eine globale autoritäre Wende, in der demokratische Formen und der Rechtsstaat zwar nicht notwendigerweise aufgehoben werden, aber stark unter Druck geraten bzw. eingeschränkt werden. Die gegenwärtigen Tendenzen zu autoritären Handlungsmustern möchten wir im Kontext von sozialen und ökonomischen Verhältnissen analysieren. Der Call ist bis 15. August 2020 offen.

Die Gegenmeinung vertritt Richter Thomas, dem sich die Richter Alito und Gorsuch anschließen: In seinen Augen ist die Sache ganz einfach. Das DACA-Programm war von vornherein ultra vires und illegal, weshalb sein Widerruf auch nichts anderes sein kann als legal. Der Beschluss der Obama-Regierung habe aus illegalen Ausländer_innen Menschen mit legalem Aufenthaltsstatus gemacht, und für diese “Reklassifizierung” habe es keine Rechtsgrundlage gegeben – im Gegenteil, der Plan, eine solche zu schaffen, war wiederholt im Kongress gescheitert. Die Richtermehrheit habe, um einem politisch schwierigen Ergebnis aus zu Weg zu gehen, eine rechtlich um so schwierigere Entscheidung getroffen: Jetzt werde mit dem Argument, die Begründung lasse zu wünschen übrig, jede beliebige Regierungsentscheidung durch alle Instanzen angefochten, zum Schaden nicht zuletzt des Supreme Courts selbst.

Recht auf Rechtfertigung

Es ist, könnte man meinen, nicht besonders viel, was die Richtermehrheit den “Dreamers” zu bieten hat: kaum mehr als das nackte Minimum, im Verwaltungsverfahren ein Mensch zu sein und kein bloßer Gegenstand. Weiter hinaus lehnt sich nur Richterin Sotomayor, die es anders als ihre vier Mehrheitskolleg_innen und angesichts von gut dokumentierten Äußerungen des Präsidenten, in denen er irreguläre Einwanderer_innen aus Lateinamerika als Verbrecher und “Tiere” bezeichnet, keineswegs für ausgemacht hält, dass der Trump-Regierung in Sachen DACA-Widerruf kein “discriminatory animus” nachgewiesen werden kann.

Politisch könnte das Urteil dennoch einen Unterschied machen: Zwar hindert nichts die Trump-Regierung, umgehend einen neuen und besser begründeten Erlass zum Widerruf des DACA-Programms in die Welt zu setzen. Aber damit der nicht gleich wieder gerichtlich ausgesetzt wird, ist doch vermutlich mehr Zeit nötig, als die Regierung bis zu den Wahlen im November noch hat (unterstellt, zugegebenermaßen a big if, dass Trump dieselben verliert).

Aber auch rechtlich scheint mir der Unterschied zwischen Mehr- und Minderheit signifikant zu sein. Richter Thomas’ Minderheitsvotum nimmt die Menschen allein nach ihrem zugewiesenem Rechtsstatus in den Blick: Ihr Aufenthalt in den USA ist legal oder illegal, und wenn die Regierung ihren illegalen Aufenthalt auf illegale Weise legalisiert, dann passiert ihnen sozusagen gar nichts: Sie waren vorher illegal und bleiben es halt. Chief Justice Roberts’ Mehrheitsvotum dagegen erkennt Menschen, ob “illegal” oder nicht, mit denen umgesprungen wird durch Tun und Unterlassen der Regierung: Erst wird ihnen gesagt, sie dürfen nicht bleiben, dann dürfen sie doch bleiben, dann dürfen sie wieder nicht bleiben – dauernd wirkt die Regierung auf ihre existenziellsten Lebensbelange ein. Das Mindeste, was sie ihnen dabei schuldet, sind doch halbwegs solide Gründe.

Verfahrensrechte also. Der Unterschied zwischen Rechtsstaat und autoritärem Regime. Das ist so wenig nicht.

Und doch: Wenn Trump im Herbst gewinnt, ist das vermutlich alles vollkommen egal.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… war etwas ruhiger als die letzten, aber immer noch bewegt genug. Zusammengefasst hat sie wie immer LENNART KOKOTT:


In der Debatte um den Begriff der Rasse im Grundgesetz argumentieren CENGIZ BARSKANMAZ und NAHED SAMOUR gegen eine Streichung: Unter Bezugnahme auf die critical race theory fordern sie eine Versachlichung der Debatte, für die es nötig sei, den Rechtsbegriff der Rasse als intersektional, interdisziplinär und international verortet ernst zu nehmen. CHRISTOPH BUBLITZ stellt mit Blick auf Erkenntnisse der Verhaltensforschung fest, dass weite Teile der Bevölkerung implizit rassistische Einstellungen hegen dürfte. Dies müsse in der Diskussion etwa um latenten Rassismus in der Polizei beachtet werden und auch zu einer Selbstbefragung der Einzelnen führen und dürfe nicht als ritualisierte Abwehr des Unerwünschten geleugnet werden.

Unter anderem auf „rassische Gründe“ nimmt auch Art. 116 Abs. 2 GG Bezug, der eine Wiedereinbürgerung von NS-Verfolgten ermöglichen soll. TARIK TABBARA stellt einen Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vor, der dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht eine verfassungsrechtliche Lehrstunde erteile und deutlich mache, dass die grundgesetzlichen Regelungen dem Ausgleich von NS-Unrecht im Rahmen des Möglichen dienten und deshalb weit auszulegen und anzuwenden seien.

LUCY CHEBOUT blickt auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der das verfassungsrechtliche Pflichtenprogramm von Familiengerichten konturiert werde: Die Regelungen zum Versorgungsausgleich seien nach dem Urteil verfassungskonform in einer Weise auszulegen, die eine jahrzehntelange Rechtsprechungslinie des BGH beende und die Rechte insbesondere geschiedener Ehefrauen stärke.

Gleichheitsrechtlich ist im Kern auch die BostockEntscheidung des US Supreme Courts, die Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder der gender identity unter Bezugnahme auf den Civil Rights Act für rechtswidrig erklärt hat. MASUMA SHAHID stellt die Entscheidung vor und ordnet sie in die Entwicklung der LGBTQ+-Rechtsprechung des Gerichts ein. Dass US-Präsident Trump nach dieser und einer weiteren Entscheidung des Supreme Courts erregt twitterte, der Gerichtshof möge ihn scheinbar nicht, und die Urteile politisch motiviert nannte, mag man als weitere Belege der Geringschätzung des Präsidenten für rechtsstaatliche Einrichtungen nehmen. In Corona Constitutional #35 hat MAXIMILIAN STEINBEIS mit DANIEL ZIBLATT über Trumps rechtspopulistische Strategien und über seinen zu erwartenden Umgang mit einer Wahlniederlage im November gesprochen.

EMILIO PELUSO NEDER MEYER und THOMAS BUSTAMANTE geben einen Überblick über Institutionen und Strukturen, die sich in Brasilien dem democratic backsliding unter Präsident Bolsonaro entgegenstellen, und heben dabei neben dem Föderalismus, der im Zuge der Pandemie eine Renaissance erfahren habe, vor allem den Obersten Gerichtshof hervor, der die in der Verfassung angelegten Möglichkeiten für institutionelle Antworten auf politische Krisen endlich zu geben begonnen habe.

Anhand von Tunesiens Reaktion auf die Pandemie und anhand des verfassungsrechtlichen Ausnahmezustands arbeitet AYMEN BRIKI heraus, welche Probleme sich daraus ergeben können, wenn junge Demokratien Instrumente anderer Verfassungen übernehmen, die eigene Verfassungskultur sich aber erst noch herausbildet.

Die neue israelische Regierung hat eine Annexion des Jordantals angekündigt. TAMAR HOSTOVSKY BRANDES befasst sich mit einem Urteil des israelischen Obersten Gerichtshofs, das ein Siedlungsgesetz aus dem Jahr 2017 für ungültig erklärt. Die Argumentationsweise des Gerichts und insbesondere die Betonung der Rolle völkerrechtlicher Regelungen im verfassungsgerichtlichen Prozess seien dabei für die rechtliche Bewertung auch der Annexion von großem Interesse.

KAI AMBOS stellt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Verurteilungen aufgrund von Boykottaufrufen gegen aus Israel importierte Produkte vor, das das Grundrecht der Meinungsfreiheit im politischen Diskurs stärke. Eine allgemeine Aussage zur BDS-Bewegung treffe der Gerichtshof kompetenzgemäß darin aber nicht.

ALESSANDRA ARCURI, FEDERICA VIOLI, SOPHIA PAULINI und STEPHANIE TRIEFUS argumentieren, dass die Corona-Pandemie eine Chance für eine gerechtere und nachhaltigere globale wirtschaftliche Ordnung sein könnte, und nehmen dabei insbesondere Investitionsschutzabkommen in den Blick. Die Pandemie habe bekannte Probleme noch einmal deutlich hervorgehoben und könnte darum – wie in anderen Bereichen – zu einem Umdenken führen.

PÄIVI LEINO-SANDBERG sieht unter dem Titel “Who is ultra vires now?” eine Verfassungskrise in Finnland nahen angesichts des Vorhabens der Kommission und des Rates, in einer Kehrtwende der bisherigen Interpretation von Art. 310 AEUV in den kommenden Jahren eigene Schulden aufzunehmen, und blickt auf die Folgen einer solchen Budgetpolitik für nationale Verfassungsordnungen und die Kompetenzzuweisungen innerhalb der Union.

Mit Blick auf institutionelle Vorschläge zur Lösung von Ultra-vires-Auseinandersetzungen auf europäischer Ebene, etwa die Einrichtung einer gemischten Kammer beim Europäischen Gerichtshof, schlägt WŁADYSŁAW JÓŹWICKI vor, dass sich ein solches Schlichtungsorgan auch mit Fragen nach der Verfassungsidentität der Mitgliedsstaaten im Rahmen von Art. 4 Abs. 2 EUV befassen könnte. Auch NICOLAS STÖLTER argumentiert für eine institutionelle Lösung in Form eines Gemeinsamen Rats der obersten Gerichtshöfe der Europäischen Union, der freilich als Gericht im uneigentlichen Sinne akzeptiert werden müsse, aber gerade aufgrund seiner unorthodoxen Struktur zum notwendigen Maßstabswechsel beitragen könne.

Im Symposium Lieferkettengesetz Made in Germany legt SARAH HOESCH dar, warum umweltbezogene Sorgfaltspflichten in Lieferkettengesetzen notwendig und auch aus menschenrechtlicher Perspektive geboten seien. LENA WALKER stellt Schwächen und Stärken der Ausgestaltung umweltbezogener Sorgfaltspflichten im Beispiel der europäischen Holzhandelsverordnung dar. Dass das Lieferkettengesetz zu seiner Wirksamkeit auch auf die Außenwirtschaftsförderung ausstrahlen müsse, zeigt CHRISTIAN SCHEPER. CANNELLE LAVITE stellt das französische Loi de Vigilance als beispielhaften Fall gesetzlich verpflichtender Sorgfaltsanforderungen für Unternehmen vor. ANDREAS RÜHMKORF befasst sich mit der Frage, ob ein deutsches Gesetz eine Ausstrahlungswirkung für die europäische Debatte haben könnte, und konstatiert, dass Deutschland als Exportnation jedenfalls Nachholbedarf habe, der nach einer eigenen gesetzlichen Regelung rufe. DAVID KREBS entwickelt den Begriff des Globalisierungsfolgenrechts im Mehrebenensystem als rechtswissenschaftliches Analyseinstrument und zeigt schließlich, wie sich ein Lieferkettengesetz darin einfügen würde.


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Max Steinbeis


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