Aktion und Reaktion
Sollten in den USA die Demokraten nach den Wahlen den Präsidenten stellen und in beiden Häusern die Mehrheit haben, steht (jedenfalls für unsereinen) eine Frage ganz oben auf der Agenda: Was tun mit dem Supreme Court?
Der Gerichtshof ist seit über 30 Jahren Objekt eines rechten Übernahmeprojektes, und es sieht so aus, als würde dieses Projekt unter der Präsidentschaft von Donald Trump an sein Ziel gelangen. Sechs der neun Plätze auf der Richter_innenbank wären, wenn Trump und die Republikaner im Senat den Posten der verstorbenen Richterin Ruth Bader Ginsburg noch vor der Wahl gefüllt bekommen, mit rechten Hardlinern besetzt. Die ohnehin fragwürdige Hoffnung, Chief Justice John Roberts könnte sich wie weiland Anthony Kennedy zur swing vote zwischen dem konservativen und dem liberalen Teil des Gerichts mausern und so die Balance wieder herstellen, hätte sich endgültig verflüchtigt. Der Gerichtshof wäre fest eingespannt in ein groß angelegtes rechtes Projekt, die Dominanz der weißen reichen Männer auf absehbare Zeit gegen den kulturell wie demographisch immer unausweichlicher erscheinenden Machtverlust an der Wahlurne zu immunisieren.
Müssten die Demokraten nach einem Wahlsieg im November einen solchen auf rechts gewendeten Obersten Gerichtshof einfach hinnehmen? Die Diskussion darüber läuft schon länger, aber hat jetzt enorm an Fahrt gewonnen, und die Vorschläge, die diskutiert werden, sehen auf den ersten Blick den Praktiken autoritärer Regimes im Umgang mit ihrer unabhängigen Justiz vielfach erschreckend ähnlich: Es geht darum, die Mehrheitsverhältnisse auf der Richter_innenbank zu verändern, indem man sie mit neuen Leuten voll packt. Die amtierenden Richter_innen selbst kann man nicht feuern, aber man kann ihre Zahl so weit wie nötig erhöhen, um genügend Posten neu mit gehorsamen Gefolgsleuten füllen zu können, dass man den Widerstand des Gerichtes nicht mehr fürchten muss. Das steht in der Macht des Gesetzgebers (übrigens auch bei uns). So hat es Erdoğan gemacht, so hat es Orbán gemacht, so hat es Kaczyński gemacht. Jetzt auch Biden?
Andererseits ist es keineswegs immer und in jedem Fall böse und ein Schaden für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wenn die politische Mehrheit sich die Justiz vorknöpft, um ihren Widerstand zu brechen. Dass die Verfassungsgerichte von, sagen wir, Venezuela oder Polen in ihrer gegenwärtigen Besetzung keine Minute länger existieren dürfen, als es die Machtverhältnisse in diesen Ländern erzwingen, wird wohl kaum jemand mit guten Gründen bestreiten. Wenn ein Gericht so kompromittiert und korrumpiert ist, dass es keinerlei Respekt mehr für seine Urteilstätigkeit beanspruchen kann außer bei denen, die davon profitieren, dann ist es im Sinne der Herrschaft des Rechts nicht nur verzeihlich, wenn die politische Mehrheit sich an die Reparatur dieses Zustands macht, sondern geradezu geboten.
Was diese Gerichte zu korrupten Institutionen macht, ist nicht die politische Ausrichtung ihrer Urteile. Das Problem ist nicht, dass sie zu rechts sind (oder zu links). Das Problem ist auch gar nicht unbedingt allein die persönliche Integrität der Richter_innen. Das Problem ist, dass ein Gericht, das einer bestimmten politischen Partei zu Willen ist, nicht mehr als Gericht funktioniert. Ein solches Gericht kann von Klägern und Beklagten kaum erwarten, sich ihrem Spruch auch im Fall ihres Unterliegens zu beugen. Es wird zu einer hohlen, peinlichen, geschminkten Pappmascheekarikatur seiner selbst, von allen verachtet und nicht am wenigsten von seinen eigenen politischen Herren selbst.
Der US Supreme Court hat in jüngerer Zeit Urteile gefällt, die rechte Politik realisieren, die Aushöhlung des Rechts auf Abtreibung etwa oder den Kampf gegen staatliche Regulierung von Waffenbesitz. Das ist sehr zu bedauern, aber als Argument für ein liberales Court Packing erschiene mir das für sich genommen zu schwach. Wäre da nicht auch noch eine andere Klasse von Urteilen, die nicht so sehr die politisch umkämpften Themen betreffen, sondern das demokratische Spielfeld als Ganzes. Das hat der Supreme Court mit den Stimmen der von republikanisch nominierten Richter immer wieder zu Gunsten der Rechten gekippt, bei der Wahlkampffinanzierung, bei der Manipulation der Wähler_innenregistrierung, der Wahlkreismanipulation, bei der Wahl von George W. Bush. Immer wieder. Seit Jahren.
Umgekehrt ist der Supreme Court selbst, wie überhaupt die Bundesgerichte, in den letzten Jahren in einem Maß zum Ziel rechter Übernahmepolitik geworden, das man auch nicht einfach auf sich beruhen lassen können wird – angefangen mit der Blockade jeder einzelnen Justiznominierung von Präsident Obama, ganz egal um wen es sich dabei gehandelt hat, die unseligerweise die Demokraten 2013 provozierte, das für die Wahl von Bundesrichter_innen im Senat notwendige Quorum auf 50% abzusenken. Dann natürlich die Weigerung der republikanischen Senatsmehrheit 2016, Obamas Kandidaten Merrick Garland über Monate auch nur eine Anhörung zu gewähren. Schließlich die Schleifung der Interventionsmöglichkeiten der Senatsminderheit bei der Wahl von Supreme-Court-Richter_innen anlässlich der Wahl von Neil Gorsuch 2017. Wenn man die Justizpolitik der Republikaner auf der Ebene der Bundesstaaten dazu nimmt, vervollständigt sich das Bild: In Arizona und in Georgia haben die Republikaner mittels Court Packing die Mehrheitsverhältnisse in den jeweiligen State Supreme Courts erfolgreich zu ihren Gunsten gedreht bekommen, in mehreren weiteren Staaten haben sie es versucht.
Es gibt dazu keine Entsprechung von demokratischer Seite. Das ist nicht das übliche politische Spiel, in dem die eine Seite versucht, gegen die andere zu gewinnen und umgekehrt. Hier versucht die eine Seite, die Spielregeln zu ihren Gunsten und zu Lasten der anderen zu manipulieren, und zwar nur eine Seite, und zwar seit vielen Jahren, und zwar vollkommen unverhohlen und unverblümt, während die andere Seite hilflos und verzweifelt zuschaut und sich einfach nicht zu helfen weiß.
Mit dem Eingeständnis, dass sie Wochen vor der Wahl überhaupt kein Problem mit der Wahl einer neuen Supreme-Court-Richter_in haben, wo sie Monate vor der Wahl gerade deshalb Garland die Anhörung verweigerten, haben die Senats-Republikaner jeden Vorwand fahren gelassen, der ihr wahres Ziel verschleiern könnte: den Supreme Court zu ihrem Werkzeug zu machen. Der Beweis, dass sie dieses Ziel erreicht haben, wäre endgültig erbracht, wenn der Supreme Court im November oder Dezember die Briefwahlauszählung stoppt und damit Trump zum Wahlsieger macht, obwohl jeder weiß, dass er die Wahl wahrscheinlich verloren hat. Womit dann natürlich auch der Traum von einem liberalen Court Packing auf lange Zeit ausgeträumt wäre.
Wenn umgekehrt die Demokraten im November gewinnen, dann vermutlich nur mit einem Erdrutsch – der dann aber das komplette republikanische Establishment unter sich begraben wird. Dann entsteht eine neue Situation. Vieles, was heute unvorstellbar erscheint, wird dann denkbar werden.
Diese Woche auf dem Verfassungsblog
… haben wir gemeinsam mit dem Deutschen Anwaltverein einen neuen Podcast unter dem Titel We need to talk about the Rule of Law gestartet: Es geht um die Herrschaft des Rechts in Europa, die wir in insgesamt 12 Folgen jeden Mittwoch mit europäischen Gästen aus verschiedenen Ländern diskutieren. In der ersten Folge standen passenderweise die Verfassungsgerichte im Mittelpunkt. Die stehen bekanntlich unter Beschuss, nicht nur in Polen, sondern z.B. auch in Spanien, weshalb es mich besonders begeistert hat, darüber mit zwei früheren Ex-(Vize-)Verfassungsgerichtspräsidenten diskutieren zu können, nämlich STANISLAW BIERNAT und PEDRO CRUZ VILLALÓN. Mein dritter Gast war die allen Leser_innen des Verfassungsblogs wohl bekannte MICHAELA HAILBRONNER. Wir hatten bedauerlicherweise noch Probleme mit dem Sound, aber der Inhalt lohnt das Hören m.E. sehr.
Die EU-Kommission hat ihr Asylpaket veröffentlicht, das die Schwächen des Dublin-Systems überwinden soll – aber das nicht wirklich tut. DANIEL THYM untersucht die zentralen Inhalte des Reformpakets und kommt zu dem Schluss, dass “der wortreich beschworene Neuanfang unvollständig bleibt”. Die britische Regierung sucht unterdessen ihr Heil in der “australischen Lösung”, Boote mit Geflüchteten durch eine Mischung von “Pushback”- und “Pullback”-Strategien daran zu hindern, den Ärmelkanal zu überqueren. Mit dem internationalen Flüchtlings-, Menschen- und Seerecht lässt sich das kaum vereinbaren, meint EMILIE McDONELL.
Vor dem EuGH wurde in dieser Woche zu den Fällen der bedrängten polnischen Richter/innen Waldemar Żurek und Monika Frąckowiak verhandelt. JOHN MORIJN war vor Ort und berichtet, welche Lektionen er aus der Anhörung des polnischen Regierungsvertreters gelernt hat.
Die Sharpston-Affäre beim EuGH hat für die hitzigsten Diskussionen auf dem Verfassungsblog seit langem gesorgt, und mit CARL BAUDENBACHER hat sich jetzt der ehemalige Präsident des EFTA-Gerichtshofs in sie eingeschaltet: Im Gegensatz zu vielen anderen Autor_innen stellte er sich allerdings nicht die Frage, ob die Aussetzung der Amtszeit von Generalanwältin Eleanor Sharpston allgemein rechtmäßig war, sondern, ob sich ihr Ausschluss aus dem Europäischen Gerichtshof mit dem EU-Recht vereinbaren lässt, und greift hierfür auf einen Fall des EFTA-Gerichtshofs aus dem Jahre 2016 zurück.
Einen Impfstoff gegen Covid-19 gibt es noch nicht, aber wenn es ihn gibt, löst er schwierige Verteilungsfragen aus. ANIKA KLAFKI gibt einen rechtlichen Überblick über die Fragen, die sich die Regierung vor einer Entscheidung über die Priorisierung des Zugangs zum Impfstoff stellen sollte.
Wie kann effektiv Rechtsschutz gegen rechtswidrige Polizeieinsätze geleistet werden? Der verwaltungsgerichtliche (Eil-)Rechtsschutz kommt meistens zu spät und die Aufarbeitung von rechtswidrigen Polizeieinsätzen durch die Strafjustiz funktioniert nicht. Ein aktuelles Urteil des Landgerichts Köln dazu kommentiert DAVID WERDERMANN.
In Indonesien macht die Regierung die populäre Anti-Korruptions-Kommission zu einem zahnlosen Tiger, wie MULKI SHADER und ABDURRACHMAN SATRIO kritisieren.
Das wär’s dann wieder für diese Woche. Ihnen alles Gute, vergessen Sie nicht uns über Steady zu unterstützen bzw. uns den Geldbetrag zu schicken (paypal@verfassungsblog.de), den Sie für diese Woche für angemessen halten. Vielen Dank dafür!
Ihr
Max Steinbeis