Auf Antisemitismus (oder das, was manche dafür halten) kommt es bei der Meinungsfreiheit nicht an
Dürfen Kommunen die Überlassung ihrer Räume für Veranstaltungen verweigern, auf denen die Forderungen der Palästinensischen BDS-Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“) diskutiert werden sollen, weil sie diese Bewegung für antisemitisch halten? Der Bayerische VGH hat diese seit Jahren umstrittene Frage mit dem Urteil vom 17.11.2020((AZ. 4 B 19.1358)) verneint. Die Stadt München ist dazu verpflichtet, einem Münchner Bürger einen Veranstaltungsraum für eine in diesem Themenkomplex angesiedelte Podiumsdiskussion zu verschaffen. Damit liegt zum ersten Mal ein ausführliches Urteil eines oberen Verwaltungsgericht vor. Ein vergangener Beschluss des OVG Lüneburg aus dem Jahre 2019((Beschluss v. 27. 03. 2019, AZ. 10 ME 48/19 -juris)), mit dem die Stadt Oldenburg zur Raumüberlassung verpflichtet worden ist, hat sich nur kursorisch mit der Angelegenheit befasst. Bei dem Münchner Fall handelt es sich hingegen um eine Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren, die sich deshalb wesentlich ausführlicher mit der Materie auseinandersetzt.
Der Ausgangspunkt
Ausgelöst wurde das Verfahren durch einen Antrag des Klägers an das Stadtmuseum München, ihm für eine Diskussionsveranstaltung zu dem Thema „Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? Der Stadtratsbeschluss vom 13. Dezember 2017 und seine Folgen“ einen Saal zur Verfügung zu stellen. Dieser Beschluss sieht vor, dass „Organisationen und Personen, die Veranstaltungen in städtischen Einrichtungen durchführen wollen, welche sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben, (…) von der Raumüberlassung bzw. Vermietung von Räumlichkeiten ausgeschlossen“ werden.
Auf dieser Grundlage wurde eine Reihe von Veranstaltungen unterbunden. So konnte z.B. die Aufführung des Dokumentarfilms ‚BROKEN – A Palestinian Journey Through International Law and Justice‘ mit dem Regisseur Mohammed Alatar nicht stattfinden, weil, so das Münchner Kulturreferat, „davon auszugehen (ist), dass bei lebensnaher Betrachtung die Diskussionsveranstaltung nicht ohne eine Befassung mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne auskommt“((Schreiben des Kulturreferats der Landeshauptstadt München v. 12. 03. 2019 an den Trägerkreis des Eine-Welt-Haus e.V.)). In einem anderen Fall sahen sich die jüdische deutsch-israelische Musikerin Nirit Sommerfeld und ihre Band Shlomo Geistreich im Vorlauf zu ihrem Jubiläumskonzert „20 Jahre KlezMeshugge“ zu der Versicherung aufgefordert, dass auf der Veranstaltung „keine antisemitischen Inhalte geäußert werden“ und auch nicht „für die Inhalte, Themen und Ziele der BDS-Kampagne“ geworben werde. Zugleich wurde „vielmals um Verständnis dafür (gebeten), dass wir andernfalls von unserem außerordentlichen Kündigungsrecht Gebrauch machen“((Schreiben des Kulturzentrums Gasteig v. 22.09. 2019)).
Auch der Antrag des Klägers wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die geplante Veranstaltung „nicht ohne eine Thematisierung von BDS sowie deren Inhalten, Themen und Zielen auskomme“((Bayerischer VGH (Fn. 1) Rn. 6)). Dies hielt er für eine unzulässige Beschränkung seiner Meinungsfreiheit bei der Benutzung gemeindlicher Einrichtungen, zu der er als Bürger der Stadt München nach § 21 der Bayerischen Gemeindeordnung berechtigt ist. Nachdem seine Klage in 1. Instanz abgelehnt worden war, bekam er vor dem VGH Recht.
Das Urteil
Das Urteil ist nicht nur wegen des Ergebnisses, sondern vor allem wegen seiner Begründung interessant. Im Ausgangspunkt geht es um das Verhältnis zwischen kommunaler Satzungsautonomie und übergeordneten Grundrechten. Es gibt keinen Anspruch auf die beliebige Benutzung kommunaler Einrichtungen. Die Art der Nutzung kann durch satzungsgemäße Widmung nach gleichen Grundsätzen beschränkt werden. Anders formuliert bedeutet das, dass die Stadt München in der Benutzungssatzung der jeweiligen Einrichtung festlegen kann, für welche Zwecke diese zur Verfügung stehen soll. Die Widmung des Versammlungsraumes im Stadtmuseum war auf Veranstaltungen beschränkt, die im Zusammenhang mit Ausstellungen des Museums stattfinden. Darin liegt keine Verletzung von Grundrechten, sodass der Antrag auf Überlassung dieses Raumes abgewiesen wurde. Die Widmung des Bürgersaals Fürstenried sieht keine derartigen Beschränkungen vor. Dem Hilfsantrag auf Überlassung des Bürgersaals wurde dementsprechend stattgegeben, da seine Verweigerung das Grundrecht der Meinungsfreiheit und den Gleichheitssatz verletzt hätten.
Das VGH hat dabei festgestellt, dass es für die Grundrechtsprüfung unerheblich ist, ob die BDS-Bewegung als antisemitisch zu qualifizieren ist oder nicht. „Denn selbst wenn sich dies anhand objektiver Kriterien eindeutig nachweisen ließe, ergäbe sich allein daraus noch keine Rechtfertigung für eine Beschränkung der Meinungsfreiheit“ (RN 55). Die Qualifizierung als antisemitisch reicht „für sich genommen nicht aus, um entsprechende Meinungsäußerungen auch im Rahmen politischer Informations– oder Diskussionsveranstaltungen behördlicherseits von vornherein zu untersagen oder darauf einen Nutzungsausschluss zu stützen“ (RN 56). Dies sei erst dann möglich, wenn antisemitische Meinungsäußerungen „den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zur Aggression oder Rechtsbruch markieren. Von einer solchen sich abzeichnenden konkreten Rechtsgutgefährdung, die eine staatliche Schutzpflicht auslösen würde, kann aber im Zusammenhang mit der BDS–Kampagne nach den gegenwärtig erkennbaren Umständen nicht gesprochen werden“ (RN 58).
Der Antisemitismusvorwurf
In diesem Punkt unterscheidet sich der bayerische VGH von dem OVG Lüneburg. Das OVG Lüneburg ist inhaltlich auf den Vorwurf des Antisemitismus((Insgesamt dazu Lothar Zechlin, Antisemitismus als Rechtsbegriff. Wann ist Israelkritik antisemitisch und wann ist sie es nicht? Veröffentlichung vorgesehen in Kritische Justiz (1) 2021)) gegenüber der BDS-Bewegung mit der Bemerkung eingegangen, dass die „Kampagne wegen ihrer Heterogenität nicht pauschal als antisemitisch bezeichnet werden kann“((Fn. 2, Rn.8; ebenso VG Köln, Beschluss vom 12.09.2019 (AZ: 14 L 1765/19) openJur 2019, 31281, Rn. 25)). Es hat die Beweislast für den Vorwurf des Antisemitismus bei der Kommune gesehen und dem Antrag auf Raumüberlassung stattgegeben, weil dieser Nachweis nicht geführt werden konnte((So auch VG Köln (Fn. 7) Rn. 31)).
Der Lösungsweg des VGH, der auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur gestützt wird((Uwe Schulz, Anti-BDS-Beschlüsse im Licht des kommunalrechtlichen Anspruchs auf Nutzung öffentlicher Einrichtungen der Gemeinde. KommJur 7/2020, 245 – 248 m.w.N.)), erscheint überzeugender. Im Kern liegt ihm die in jahrzehntelanger Rechtsprechung gefestigte Auffassung zugrunde, dass die Meinungsfreiheit zwar gesetzlich eingeschränkt werden kann, diese Gesetze sich aber nicht gegen bestimmte Meinungen richten dürfen. Sie müssen inhaltlich neutral sein, sonst handelt es sich nicht um zulässige Beschränkungen durch „allgemeine“ Gesetze, sondern um unzulässige Beschränkungen auf Grund von „Sonderrecht“. „In den städtischen Einrichtungen, die ansonsten als öffentliches Forum der Meinungsbildung dienen, soll zu dieser Streitfrage (der BDS–Thematik) gerade kein Meinungsaustausch stattfinden. Die Widmungsbeschränkung ist damit nicht meinungsneutral“, schreibt der VGH((Bay. VGH (Fn. 1) Rn. 51)).
Es sind dieselben Gründe, die dazu führen, dass z.B. auch die NPD juristisch nicht von der Überlassung von Stadthallen ausgeschlossen werden kann, wie an dem „Fall Wetzlar“ deutlich wurde((Vgl. die Darstellung bei Uwe Berlit, Ronen Steinke, „Keine Nazis in unserer Stadthalle“. Die Stadt Wetzlar verweigert den Gerichten den Gehorsam. In: Nele Austermann u.a., Recht gegen Rechts. Report 2020, Frankfurt am Main 2020, S. 215 – 221)). Wie aber sollte plausibel gemacht werden können, dass der NPD, deren Antisemitismus sogar durch das BVerfG((Urteil vom 17. Januar 2017- 2 BvB 1/13 – Juris)) bestätigt ist, Stadthallen zur Verfügung stehen, während Veranstaltungen zu der BDS-Kampagne, der gegenüber dieser Vorwurf zumindest unplausibel ist, davon ausgeschlossen sein sollen?
Revision und Ausblick
Der VGH hat die Revision zugelassen, und die Stadt München hat angekündigt, diesen Weg zu beschreiten. Dadurch wird sich auch das Bundesverwaltungsgericht mit der Thematik der Raumüberlassung für Veranstaltungen mit BDS–Bezug befassen. Die bisherige Rechtsprechung ist durch eine klare Tendenz gekennzeichnet, die sich gegen die Verweigerung der Raumüberlassungen durch staatliche oder kommunale Träger richtet. Dazu gehört auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 11.6.2020((Baldassi et autres c. France, Nr. 15271/16, 11.6.2020. Vgl. dazu Kai Ambos, Freiheit im politischen Meinungskampf: Der EGMR urteilt zu BDS, VerfBlog, 2020/6/16)). Es wäre deshalb überraschend, wenn das Bundesverwaltungsgericht zu einer grundlegend anderen Auffassung als der VGH kommen sollte. Für die zahlreichen Kommunen, die ähnliche Beschlüsse wie der Münchner Stadtrat verabschiedet haben, wird es also Zeit, ihre Praxis zu überdenken.