07 December 2020

Die „drohende Gefahr“ bleibt problematisch

Eine neue Reform des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes greift zu kurz

Einen Mangel an Tatendrang und Kreativität kann man dem bayerischen Gesetzgeber im Polizeirecht nicht vorwerfen. Mit dem Anfang Dezember vorgestellten „Gesetzesentwurf zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften“ sollen zum dritten Mal binnen gut drei Jahren umfassende Veränderungen am bayerischen Polizeirecht vorgenommen werden. Genauso lang versucht er, auf ein einziges, vom Bundesverfassungsgericht gewähltes Partizip („drohend“) einen Paradigmenwechsel im deutschen Polizeirecht zu gründen. Der gesetzgeberische Vorstoß hatte zu dem Vorwurf geführt, etablierte Grenzen der Dialektik von Freiheit und Sicherheit würden zu Lasten der individuellen Freiheitsrechte verschoben. Der gesellschaftliche Unmut entlud sich im Mai 2018 in einer Großdemonstration in München, zu der neben den Oppositionsparteien auch Gewerkschaften, Antifaschist*innen und Fußballfans aufgerufen hatten. Als Reaktion auf den politischen Druck beauftragte die bayerische Staatsregierung eine Jurist*innen-Kommission (PAG-Kommission) damit, kritische Befugnisnormen zu identifizieren und zu untersuchen. Mit der Reform vom Mittwoch wird nun einigen, aber nicht allen, Empfehlungen der eingesetzten PAG-Kommission entsprochen. Insbesondere die Nachbesserung bei der 2017 neu eingeführten Kategorie der „drohenden Gefahr“ sind im aktuell diskutierten Gesetzesentwurf marginal. Erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel bleiben.

Positive Anpassungen beim Gewahrsam und bei den „bedeutenden Rechtsgütern“

Während die Entscheidung aus Karlsruhe zu den bayerischen PAG-Novellen der vergangenen Jahre noch aussteht, sollen in vorauseilendem Gehorsam ein paar der schlimmsten Entgleisungen behoben werden:

Aus dem Katalog der zulässigen Untersuchungsmerkmale bei der molekulargenetischen Analyse von Spurenmaterial soll die „biogeographische Herkunft“ – eine rassistische dog whistle – gestrichen werden. Ob für präventives polizeiliches Handeln die übrige Ermächtigung zur Erhebung von DNA-Daten überhaupt zweckmäßig ist, bleibt fraglich.

Der als „Unendlichkeitshaft“ zum geflügelten Wort gewordene Präventivgewahrsam ohne zeitliche Höchstgrenze soll der Vergangenheit angehören. In dem am 1. August 2017 in Kraft getretenen „Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen“ war die in Art. 20 Nr. 3 PAG a.F. vorgesehene Höchstdauer präventiver Freiheitsentziehung von zwei Wochen gestrichen worden zugunsten einer unbegrenzt möglichen Verlängerung um jeweils bis zu drei Monate. Hiervon rückt der nun diskutierte Entwurf völlig ab. Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 PAG-E darf die durch richterliche Entscheidung angeordnete Gewahrsamsdauer nicht mehr als einen Monat dauern und kann insgesamt nur bis zu einer Gesamtdauer von zwei Monaten verlängert werden. Der bayerische Gesetzgeber bleibt mit dieser Maximaldauer im bundesweiten Vergleich aber sehr eingreifend. Die übrigen Bundesländer mit entsprechend festgelegter Höchstdauer, ordnen einen Präventivgewahrsam zwischen maximal zwei Tagen und zwei Wochen an (vgl. die Übersicht bei Löffelmann, BayVBl. 2018, 145, 153).

Der Begriff der „bedeutenden Rechtsgüter“ soll enger gefasst werden, zu deren Schutz Eingriffe schon bei drohender Gefahr möglich sind. Insbesondere fallen die „erheblichen Eigentumspositionen“ ersatzlos aus dem Katalog heraus. Dies wird der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerecht und dürfte vor allem dem Schutz zeitgenössischer disruptiver Graswurzelbewegungen im polizeilichen Vorfeld zugutekommen.  Das Rechtsgut der „Gesundheit“ bleibt indes unverändert genannt. Verfassungsrechtlich wäre hier eine weitere Einschränkung geboten gewesen. Anders als die übrigen genannten Rechtsgüter wird die Gesundheit etwa bereits durch geringfügige Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit berührt – zu denken ist zum Beispiel an Bagatelldelikte im Betäubungsmittelrecht.

Fehlender Richter*innenvorbehalt bei Body-Cams

Mit Art. 33 Abs. 4 PAG wurde erstmals der Gebrauch von Body-Cams durch Polizeibeamt*innen geregelt. Danach dürfen automatisierte Bild- und Tonaufzeichnungen auch mit Body-Cams kurzfristig erfasst und aufgezeichnet werden. Art. 33 Abs. 4 S. 3 PAG lässt das Erfassen und Aufzeichnen auch in Wohnungen zu. Ein Richter*innenvorbehalt war bislang nicht vorgesehen.

Ein solcher Einsatz von Bodycams erfüllt aber die Voraussetzung der „technischen Überwachung“ im Sinne des Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG und ist daher grundsätzlich nur auf Grund richterlicher Anordnung möglich. Die PAG-Kommission hatte konsequenterweise einen Richter*innenvorbehalt in Art. 33 Abs. 4 PAG gefordert (Abschlussbericht der PAG-Kommission, S. 65). Denn für die Einschlägigkeit der Art. 13 Abs. 3, 4, 5 GG ist es ohne Belang, ob das technische Mittel offen oder verdeckt zum Einsatz kommt. Der Wortlaut von Art. 13 Abs. 4 GG ist insoweit eindeutig und differenziert nicht nach der Art des Einsatzes. Für die Auswirkung auf die Unverletzlichkeit der Wohnung, deren Schutz Art. 13 Abs. 4 GG dient, macht es ebenfalls keinen Unterschied, ob der Staat diesen heimlich oder offen optisch überwacht. Geschützt wird der Einzelne vor dem Übergriff durch Aufzeichnung der Wohnung als räumliche Sphäre des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der vor dem Eingriff des Staates geschützt ist (entsprechend argumentieren auch Moini/Ollig,  S. 11f.).

Der neue Gesetzesentwurf kommt dem nicht nach und will lediglich für die Verwertung der durch die Body-Cam-Aufzeichnungen gewonnenen Erkenntnisse die Überprüfung durch ein*e Richter*in vorsehen. Die verfassungsrechtliche Tragweite von Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG wird hier verkannt.

Die drohende Gefahr bleibt problematisch

Die verfehlte Kategorie der drohenden Gefahr wird in den Art. 11a PAG-E ausgegliedert. Eine erstmalige Legaldefinition der „Gefahr“, gemeint ist die konkrete Gefahr, in Art. 11 Abs. 1 S. 2 PAG-E soll die Abgrenzung des polizeilichen Vorfelds zum Regelbegriff verdeutlichen. Dies ist dringend nötig. Denn wenn die PAG-Kommission in ihrem Abschlussbericht feststellt, dass sich die drohende Gefahr in der Vollzugspraxis bereits zum „allgemeingültigen Gefahrenbegriff“ entwickelt, scheint die befürchtete Entgrenzung der staatlichen Eingriffssphäre bereits eingetreten (Abschlussbericht der PAG-Kommission, S. 28).

Das eigentliche Problem dieses neuen Gefahrenbegriffs wird indes nicht beseitigt. Art. 11a Abs. 1 PAG-E erlaubt als Generalklausel weiterhin, „die notwendigen Maßnahmen [zu] treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung der Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkungen zu erwarten sind.“

Wegen der Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe in der Generalklausel wurde berechtigte Kritik an ihrer Bestimmtheit geübt (etwa hier). Insoweit bringt der erneute Gesetzesentwurf keine Besserung. Vor allem aber werden die erheblichen materiellen Einwände nicht berücksichtigt, die gegen den Begriff der drohenden Gefahr bestehen.

Der Begriff muss verfassungsgemäß so ausgelegt werden, dass er nicht die geforderte Wahrscheinlichkeitsschwelle absenkt (so auch Möstl, BayVBl. 2018, 156, 158). Stattdessen reduziert er „lediglich“ die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufes. Trotzdem reguliert er also den polizeilichen Vorfeldbereich. In diesem sind lediglich Gefahrerforschungseingriffe zulässig. Dies stellt das Bundesverfassungsgericht sowohl in dem vom bayerischen Gesetzgeber referenzierten Urteil zum Bundeskriminalamtsgesetz (BVerfGE 141, 220) klar, als auch in dem Beschluss zur Bestandsdatenauskunft, auf den sich der aktuelle Gesetzentwurf beruft (Beschluss vom 27. Mai 2020 – 1 BvR 1873/13, 1 BvR 2618/73). In beiden Entscheidungen macht der Erste Senat sehr deutlich, dass er sich lediglich auf eingriffsintensive Maßnahmen der Gefahrenaufklärung bezieht und nicht etwa auch auf Eingriffe durch die Polizei in den Kausalverlauf.

Es ist also zu unterscheiden: Soweit Art. 11a Abs. 1 PAG-E bzw. der bestehende Art. 11 Abs. 3 PAG die Behörde zur Aufklärung des Sachverhalts ermächtigt, wird lediglich die anerkannte Fallgruppe der Gefahrerforschungseingriffe in geltendes Recht überführt. Die bemühte Analogie zu Art. 11 Abs. 1 PAG ist seither nicht mehr notwendig.

Die Generalklausel erlaubt aber auch kausalverlaufsrelevante Eingriffe im Gefahrenvorfeld, die die Entstehung der Gefahr verhindern sollen. Außerdem ist seit dem PAG-Neuordnungsgesetz vom 18. Mai 2018 die „drohende Gefahr“ jedenfalls mittelbar auch als Eingriffsschwelle in allen Standardmaßnahmen des PAG vorgesehen, mit Ausnahme der Wohnraumüberwachung (Art. 41 PAG) und der Rasterfahndung (Art. 46 PAG). Über Art. 17 Abs. 1 Nr. 4, Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG ist theoretisch sogar eine präventive Freiheitsentziehung bei drohender Gefahr denkbar. Der bayerische Gesetzgeber geht damit – auch wenn er dies in den Gesetzesbegründungen stets bestreitet – deutlich über die Grenzen hinaus, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung ihm setzt.

Diese Möglichkeit, schon im Gefahrenvorfeld aktionell einzugreifen, begründet überhaupt erst den Vorwurf, der bayerische Gesetzgeber wolle einen freiheitsrechtlichen Paradigmenwechsel provozieren. Die Vorverlagerung der Eingriffssphäre war letztlich auch der Auslöser für die scharfe gesellschaftliche Reaktion im Frühling 2018. An dieser entscheidenden Stelle nimmt der aktuelle Gesetzesentwurf keine Nachbesserungen vor. Er wird in dieser Form nicht geeignet sein, die grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedenken und den gesellschaftlichen Unmut zu beseitigen.


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