18 December 2020

Wen soll das schützen?

Die landesweiten Ausgangsverbote sind verfassungswidrig

Trotz unabweisbarer verfassungsrechtlicher Bedenken erleben landesweite Ausgangsverbote seit der Ministerpräsident*innenkonferenz vergangenen Sonntag ein Comeback. In ganz Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen darf die Wohnung bereits nur noch mit triftigem Grund verlassen werden und es ist anzunehmen, dass weitere Verordnungsgeber bald nachziehen. Angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens ist nachvollziehbar, dass die Entscheidungsträger*innen Maßnahmen erlassen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Die untertägigen Ausgangsverbote können hierzu allerdings keinen Beitrag leisten, da verfassungskonform praktisch jeder sachliche Grund den Ausgang erlauben muss. Nächtliche Ausgangsverbote sind offensichtlich übermäßig, weil einem massiven Eingriff ein höchstens rudimentärer infektionsschutzrechtlicher Nutzen entgegensteht. Dieser Grenznutzen wird dabei mittels einer solch hypothetischen Kausalitätserwägung erkauft, dass ein derart enges Ausgangsverbot selbst in den ersten Wochen der Pandemie nicht erforderlich gewesen wäre. Im zehnten Monat der Corona-Verordnungen ist es jedenfalls nicht mehr von der Einschätzungsprärogative der Exekutive erfasst.

Zweiter Anlauf

Nachdem im März 2020 die Länder Bayern, Berlin, Brandenburg, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt an Stelle von Kontaktbeschränkungen landesweite Ausgangsverbote mit Erlaubnisvorbehalt verhängt hatten, schwenkten die Verordnungsgeber mit zunehmender Dauer der Pandemie nach und nach auf das mildere Pendant um. Ende April 2020 verblieben einzig in Bayern und im Saarland noch pauschale Ausgangsverbote, die von den Gerichten mit einem Machtwort beendet wurden. Mit Beschluss vom 28. April 2020 setzte der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes das dortige Ausgangsverbot teilweise außer Vollzug. Am gleichen Tag entkleidete der VGH München das bayerische Verbot jedweden Regelungsgehaltes und entschied, als „triftiger Grund“ zum Ausgang müsse in verfassungskonformer Auslegung schlicht jeder sachliche Grund genügen. Der bayerische Verordnungsgeber nahm das Feigenblatt gerne an, das die Verfassungswidrigkeit der Regelung nur wenig überzeugend kaschierte, verlängerte das Ausgangsverbot sogar noch einmal, um es dann doch vorzeitig am 5. Mai 2020 außer Kraft zu setzen. Seither waren die landesweit unterschiedslos geltenden Ausgangsverbote Geschichte. Die außerordentlich tiefgreifende Maßnahme kam nur noch in lokal begrenzten „Hotspots“ zum Einsatz. An den neuerlichen Ausgangsverboten sind zwei Dinge neu: Zum einen greifen nun auch Länder darauf zurück, die sich in der „Ersten Welle“ mit Kontaktbeschränkungen begnügt hatten. Zum anderen sind in einigen Ländern zwei Ausgangsverbote gleichzeitig in Kraft. Denn in der Nacht – je nach Bundesland zwischen 21 und 5 oder 22 und 6 Uhr – soll die Wohnung möglichst noch seltener verlassen werden als unterm Tag. Die sprachliche Differenzierung zwischen „Ausgangsbeschränkung“ und „Ausgangssperre“ darf dabei als politisch motiviert abgetan werden – rechtlich gesehen handelt es sich jeweils um präventive Ausgangsverbote mit mehr oder weniger weiten Erlaubnisvorbehalten. In Bayern weicht das nächtliche Ausgangsverbot konstruktiv von den bisherigen präventiven Verboten ab und dürfte ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt darstellen. Die untertägigen wie auch die nächtlichen Verbote weisen erhebliche Probleme auf.

Die untertägigen Ausgangsverbote sind zweckfrei

Die untertägigen Ausgangsverbote sind mit erheblichen Ausnahmekatalogen versehen, die grundsätzlich auch nur eine exemplarische Aufzählung darstellen. In Baden-Württemberg und in Sachsen soll der Katalog abschließend verstanden werden. Dabei darf es wahlweise als kraftmeierisch, jedenfalls aber als waghalsig bewertet werden, sämtliche zu würdigenden menschliche Bedürfnisse abwägungsfehlerfrei in einem Katalog festhalten zu wollen.

Mit den im Vergleich zum Frühjahr erweiterten Ausnahmekatalogen reagieren die Länder auf die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshof des Saarlandes und des VGH München. Präventive Ausgangsverbote mit Erlaubnisvorbehalt stellen derart tiefe Eingriffe in die persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG) dar, dass eine Regelung keinen Bestand haben kann, die das Verlassen der eigenen Wohnung merklich einschränken würde. Mit dem VGH München ist deshalb zu verlangen, dass jeder sachliche Grund einen triftigen darstellt. Indem die untertägigen Ausgangsverbote den Ausgang nicht regulieren, sind sie dann zur Kontaktreduzierung, damit zur Eindämmung des Virus und schließlich zum Schutz von Gesundheit und Gesundheitssystem ungeeignet. Soweit im Katalog der triftigen Gründe die Anzahl der Personen reguliert wird, die anlässlich des Ausgangs besucht werden dürfen, erreichen sie die Wirkung einer rechtskonstruktiv ungeschickten Kontaktbeschränkung (hierauf wies Andrea Kießling bereits im März hin). Wenn ich meine Wohnung verlasse, um einen Freund zu besuchen, an dessen Haustür bemerke, dass dort bereits ein anderer Hausstand verköstigt wird – ist mein triftiger Grund dann weggefallen? Bestand er nie? Müssen die anderen Gäste auch nachhause?

Von den Vollzugsbehörden scheinen die Ausgangsverbote indes durchaus überschießend ausgelegt zu werden. Wie bereits im Frühjahr häufen sich die Berichte, dass etwa Betteln oder das Driften mit dem eigenen Auto mangels Triftigkeit zu Ordnungswidrigkeitsverfahren geführt haben. Das ganze mutet skurril an, hat aber verfassungsrechtliche Implikationen. Die Unbestimmtheit der triftigen Gründe darf keinesfalls dazu führen, dass den Ordnungsbehörden die Entscheidung überlassen bleibt, inwieweit sanktionsbewehrte Grundrechtseingriffe erfolgen dürfen. Insbesondere im Hinblick auf die untertägigen Ausgangsverbote sind außerdem zumindest kommunikativ shifting baselines zu beklagen. Sie erklären das Verlassen der eigenen Wohnung zum begründungsbedürftigen Ausnahmefall und verschieben damit die Rechtfertigungslast zwischen Staat und Bürger im gesamten öffentlichen Leben. Den Berliner Verfassungsrichter*innen Seegmüller und Schönrock ist zuzustimmen, wenn Sie dieses grundlegende Verhältnis von Freiheit und Eingriff zum Bestandteil des Kernbereichs der allgemeinen Handlungsfreiheit erklären. Es wird den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Implikationen nicht gerecht, wenn landesweite Ausgangsverbote inklusive der aus dem Frühjahr bekannten Probleme hinsichtlich Vollzug und Bestimmtheit jetzt als gängiges Verwaltungshandeln hingenommen werden. Wenn die Ausgangsbeschränkungen nun als mildere Mittel im Vergleich zu den nächtlichen Ausgangssperren erscheinen, darf außerdem nicht der Fehler gemacht werden, die im März und April geregelten und vollzogenen Ausgangsverbote im Nachhinein zu relativieren. Die Exekutive hatte sie ähnlich wie nun die nächtlichen Ausgangsverbote kommuniziert als generelles Verbot, den öffentlichen Raum zu betreten, was im Einzelfall die Fortbewegungsfreiheit des Einzelnen in jede Richtung hin aufgehoben hat. Aufgrund der außerordentlichen Dauer und des strengen Vollzuges wird man sie in geeigneten Einzelfällen als Freiheitsentziehung einordnen können. Christoph Möllers bezeichnete sie zu Recht als den massivsten kollektiven Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik.

Die nächtlichen Ausgangsverbote sind übermäßig

Die Ausnahmekataloge bei Nacht sind in allen drei Ländern abschließend geregelt, wobei die Verordnungen in Bayern und Baden-Württemberg mit „sonstigen gewichtigen und unabweisbaren Gründen“ zumindest eine auslegbare Generalklausel enthalten. Die Erlaubnisvorbehalte sind deutlich drastischer und enger formuliert. Die Verordnungsgeber nehmen damit Bezug auf die vom VGH München geforderte verfassungsgemäße Auslegung und stellen klar, dass des Nachts ausdrücklich nicht jeder sachliche Grund zum Ausgang genügen soll. Einige Gründe, die bei Tag als triftiger Grund genannt werden, tauchen im nächtlichen Katalog nicht auf. Durch Auslegung ergibt sich, dass die Verordnungsgeber in diesen Fällen regelmäßig keinen „sonstigen gewichtigen und unabweisbaren Grund“ vermuten, der auch bei Nacht das Verlassen der Wohnung gestatten würde. Die Teilnahme an Versammlungen wird in Bayern etwa unterm Tag in § 2 Satz 2 Nr. 13 11. BayIfSMV als triftiger Grund genannt, nicht aber im Katalog der nächtlichen Ausgangssperre. Nach systematischer Auslegung herrscht demnach in Bayern ab 21 Uhr ein generelles Versammlungsverbot. Die Unvereinbarkeit mit Art. 8 Abs. 1 GG liegt auf der Hand. Im Rückschluss zu § 2 Satz 2 Nr. 5, 6 11. BayIfSMV ist in Bayern nachts außerdem der Ausgang zum Besuch anderer Haushalte, sowie zum Besuch bei Ehegatten und Lebenspartner*innen untersagt. Die Landesregierung Baden-Württemberg wies in ihren zwischenzeitlich bereits geänderten FAQs zur Auslegung der Landesverordnung ausdrücklich auf Folgendes hin:

„Sie dürfen nach 20 Uhr nicht mehr aus dem Haus, um zu Ihrem Partner fahren. Dies ist jedoch erlaubt, wenn Sie nach der Arbeit auf direktem Weg zu Ihrem Partner fahren.

Wenn Sie nach 20 Uhr noch bei Ihrem Partner sind, müssen Sie über Nacht bleiben und dürfen nicht mehr Heim fahren.“

Die Verfassungswidrigkeit ist insoweit bereits auf Eingriffsseite offensichtlich. Die Intimsphäre als engster, von der Menschenwürde garantierter Kern des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist frei von jeglicher staatlichen Kontrolle und darf durch einen Eingriff gar nicht erst berührt werden. Oder um es plakativ zu machen: Wo, bei und in letzter Konsequenz mit wem ich schlafe, geht den Staat nichts an. Soweit Ehegatten von der Regelung betroffen sind, scheint es jedenfalls nicht fernliegend, auch hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 GG über eine Berührung des Kernbereiches nachzudenken.

Die Eingriffstiefe

Neben den Eingriffen in die Allgemeine Handlungsfreiheit, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und Art. 6 Abs. 1 GG bewirken die nächtlichen „Ausgangssperren“ vor allem eine Einschränkung der persönlichen Freiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Wer sich ordnungsgemäß verhält, hat die eigene Wohnung in dem Geltungszeitraum (und grundsätzlich auch tagsüber) nicht zu verlassen. Bei einem kinderlosen Adressaten ohne Haustiere oder sterbende Angehörige wird durch die nächtliche Ausgangssperre die persönliche Fortbewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin durch den psychischen Zwang aufgehoben, den die Furcht vor Strafverfolgung auslöst. Im Gegensatz zu sämtlichen bislang auf Landesebene geltenden Ausgangsverboten wird nicht einmal die Bewegung an der frischen Luft als triftiger Grund genannt. Die nächtliche Ausgangssperre wird dann nur wegen ihrer vergleichsweise kurzen Dauer, die regelmäßig durch die untertägigen Ausgangsverbote unterbrochen wird, „lediglich“ als Freiheitsbeschränkung einzuordnen sein.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird nicht nur durch das Verbot nächtlicher Jogging-Runden belastet. Nächtliche Ausgangssperren werden vorrangig in kriegerischen Auseinandersetzungen angewandt und Lindner rügt zurecht, dass der neuerliche Lockdown politisch vor allem in Bayern mittels Einschüchterung (er spricht von „Horrorszenarien“) kommuniziert wird. Gerade die nächtlichen Verbote und ihre Inszenierungen sind daher in erheblichem Maße geeignet, die psychische Gesundheit negativ zu beeinträchtigten. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch die kaum folgerichtigen Ausnahmekataloge liegt zusätzlich nahe.

Anders als dies in der Rechtsprechung bislang häufig angenommen wurde, wird der Eingriff auch nicht dadurch wesentlich entschärft, dass die jeweiligen Landesverordnungen auf vier Wochen befristet sind. Anhaltende Eingriffe in die Grundrechte haben mit dem Zeitablauf eine irreversible Komponente, weshalb regelmäßig gefordert wird, dass mit anhaltender Dauer umso genauer zwischen den betroffenen Rechten abgewogen werden muss. Bei langfristigen, zusammenhängenden Eingriffen ist daher eine Gesamtbetrachtung der miteinander im Zusammenhang stehenden Maßnahmen erforderlich. Im nunmehr zehnten Monat, in dem die Exekutive zur Pandemiebekämpfung praktisch jeden Lebensbereich detailliert reguliert, folgt aus der langen Dauer nicht nur ein formeller Begründungsaufwand für den Staat, sondern die betroffenen Rechte sind auch materiell umso stärker belastet. Eine immer genauere Differenzierung zwischen Art des Eingriffs und Adressat der Maßnahme, wie sie nach klassischer verfassungsrechtlicher Kategorisierung gefordert wird, ist nicht zu erkennen, wenn die nächtlichen Ausgangsverbote noch strenger als im Frühjahr pauschal auf Millionen von Normadressaten Anwendung finden.

Die banale Schutzwirkung

Dem massiven kollektiven Grundrechtseingriff steht ein nur theoretisch konstruierter Schutz entgegen.

Die nächtlichen Ausgangsverbote verbieten den Aufenthalt im öffentlichen Raum. Die Schutzwirkung für Gesundheit und Gesundheitssystem ist damit ohnehin nur über eine hypothetische Kausalität gegeben, indem Begegnungen untersagt werden, bei denen möglicherweise ein Infizierter anwesend ist, der möglicherweise den Virus weitergibt, wodurch möglicherweise die Krankheit später bei einer Person auftritt, die dann möglicherweise behandelt werden muss. Die Zahl der durch das Verbot tatsächlich unterbundenen Begegnungen im öffentlichen Raum dürfte im späten Dezember, nachts um drei gegen Null gehen – gerade in der Oberlausitz, im Bayerischen Wald oder auf der Schwäbischen Alb.

Die Ausgangssperre soll deshalb nach Willen der Verordnungsgeber vor allem dazu dienen, den abendlichen Besuch in fremden Hausständen unattraktiv zu machen, indem der Rückweg untersagt und ggf. sanktioniert wird. Wer einen anderen Hausstand besucht, muss um 21 Uhr zuhause sein oder dort übernachten. Da durch eine Übernachtung der Kontakt verlängert wird, dürfte schon fraglich sein, ob diese Wirkung zur Förderung des Infektionsschutzes überhaupt geeignet ist. Jedenfalls wird der Weg nachhause (Art. 14 Abs. 1 GG!) stets in verfassungskonformer Auslegung nach Art. 14 Abs. 1 GG einen triftigen Grund darstellen, den öffentlichen Raum zu durchqueren.

Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum – anders als seit Inkrafttreten des (durchaus kritisch zu sehenden) § 28a IfSG etabliert – die Ausgangsverbote landesweit ohne Rücksicht auf regional durchaus unterschiedliche Inzidenzwerte angeordnet werden. Die Reform des Infektionsschutzgesetzes hatte zwar nur einen geringen Gewinn an Klarheit der wesentlichen Eingriffsvoraussetzungen gebracht. Deutlich wird in § 28a Abs. 2 und 3 IfSG aber gerade, dass einzig ein subsidiäres Vorgehen auf regionaler Ebene den tiefgreifenden Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gerecht wird.


18 Comments

  1. Dr. Ulrich Demlehner Fri 18 Dec 2020 at 10:06 - Reply

    Man sollte im Kontext dieser Diskussion das Verbot des “kleinen Grenzverkehrs” nicht vergessen, der in Bayern derzeit gilt. Während die Staatsregierung noch halbherzig versucht hat, das nächtliche Ausgangsverbot mit imaginierten Infektionsrisiken zu begründen, wurde dies beim Verbot des “kleinen Grenzverkehrs” nach meinem Wissensstand nicht einmal versucht. Eine Begründung wäre auch kaum möglich, wenn auf beiden Seiten der Grenze ein vergleichbares Infektionsrisiko herrscht (oder wie in einigen Fällen auf der bayerischen Seite sogar ein höheres).

    Wie sagte der österreichische Bundeskanzler Kurz so richtig: “Es ist mir völlig egal, ob das, was wir tun, verfassungswidrig ist. Bis ein Gericht entscheidet, ist die Sache schon lange vergessen”.

  2. Jonas Ganter Fri 18 Dec 2020 at 12:22 - Reply

    Vielen Dank für den spannenden Beitrag und vor allem die Beleuchtung der einzelnen Aspekte der Unverhältnismäßigkeit mancher Maßnahme. Ein Gedanke noch zur Kritik an der politischen Formulierung von “Horrorszenarien”: Das bewusste erzeugen von Ängsten und einer daraus folgenden Selbstbeschränkung des Verhaltens der Bürger ist ja kein gänzlich neues Phänomen. Wenn ich Bilder von Raucherlungen auf Zigarettenschachteln drucken lasse, um damit Gefühle wie Ekel und Angst zu triggern, dann geschieht dies ebenfalls mit dem Ziel, Personen von bestimmten Verhaltensweisen abzuschrecken. Der Abschreckungseffekt als Grundrechtseingriff lässt sich naturgemäß nur schwer bemessen. Er zeichnet sich zudem durch eine hohe Streubreite und geringe Präzision aus. Aber einmal angenommen, die Pandemie ließe sich nur dadurch wirksam bekämpfen, dass die Bevölkerung systematisch in (berechtigte) Angst vor dem Virus versetzt wird, weil die Menschen dann intuitiv Abstand halten, Kontakte einschränken und Masken tragen, dann wäre der gezielte Einsatz von Horrorszenarien in der politischen Kommunikation und entsprechender Symbolpolitik (der Hinweis, dass Ausgangssperren aus Kriegszeiten stammen, passt hier sehr gut) zumindest ein geeignetes und eventuell auch erforderliches Mittel. Ob dieses auch angemessen ist, steht natürlich auf einem anderen Blatt, genau so wie die Frage, wie “manipulativ” das Gefahrenabwehrrecht operieren darf und wo höherrangiges Recht dieser Strategie Grenzen setzt.

  3. Felix Schmitt Fri 18 Dec 2020 at 13:19 - Reply

    Ein wichtiger Gedanke, der im Beitrag leider keinen Platz mehr hatte:

    In Baden-Württemberg und in Bayern verbietet das nächtliche Verbot momentan nicht mehr das Verlassen der eigenen Wohnung, sondern umgekehrt das Betreten des öffentlichen Raums. Dies macht auch in der Sache einen Unterschied: Das nächtliche Ausgangsverbot soll ja gerade die Rückkehr vom Besuch in fremden Haushalten untersagen.

    § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG regelt recht dürftig “Ausgangsbeschränkungen”. Der Gesetzgeber hatte dabei vor allem diejenigen Verbote im Blick, die bereits im Frühjahr Anwendung gefunden hatten, also Verbote, die eigene Unterkunft zu verlassen. Aufgrund der Eingriffsintensität und der zentralen Rolle des Parlaments bei der Bestimmung der wesentlichen Rahmenbedingungen von Grundrechtseingriffen, wird man meiner Meinung nach begründet daran zweifeln können, ob die Verbote, den öffentlichen Raum zu betreten, von § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG überhaupt erfasst sind. Verneint man dies, ist ein Rückgriff auf die Generalklausel jedenfalls versperrt.

  4. TV Fri 18 Dec 2020 at 13:33 - Reply

    Ich verstehe es nicht. Reihenweise werden Rechtskommentare geschrieben, wie stark und wie wenig gerechtfertigt die Eingriffe in die Grundrechte sind. Es werden wissenschaftliche Studien veröffentlicht, die den Maßnahmen nur eine geringe Wirkung bescheinigen. Und dennoch werden weiter fröhlich Verbotsmaßnahmen erlassen. Es wird nicht dagegen geklagt, und wenn, dann weisen die Gerichte mit dem Totschlagargument alles ab, der Gesundheitsschutz wiege höher.
    Wie funktionierts denn nun? Darf sich die Landesregierung erstmal alles erlauben und dann mal sehen, ob man mit den Strafen durchkommt (die Wahrscheinlichkeit scheint ja nicht schlecht zu sein, wenn die Gerichte pauschal alles durchwinken)? Beim neuen IfSG hat wurden ja auch unzählige Kommentare geschrieben, dass es verfassungsrechtlich bedenklich sein. Und? Es ist da, es wird auf der Basis fleißig verordnet, verboten, regiert etc.

    • MB Sat 19 Dec 2020 at 18:40 - Reply

      Sehr berechtigter Einwurf.

      Es scheint nahezu einhellige Meinung der Staats- und Verfassungsrechtler zu sein, dass gerade die (gegenüber den übrigen Bundesländern) noch strengeren bayerischen Maßnahmen verfassungswidrig sind.

      Weshalb gerade die bayerischen Obergerichte das überwiegend anders beurteilen, kann man m. E. nicht allein auf den Prüfungsmaßstab in den Eilverfahren zurückführen. Durch die Schaffung von Präzedenzfällen im Frühjahr, vor allem durch den BayVerfGH, haben sich die Gerichte in eine Pfadabhängigkeit begeben. Da bereits die erste Ausgangsbeschränkung Bestand vor BayVGH und BayVerfGH hatte, fällt es nun leichter, im Einklang mit vorherigen Beschlüssen zu entscheiden.

      Eine Abkehr davon würde stets auch eine gewisse Einsicht implizieren, dass die ursprünglichen Entscheidungen im April und Mai schon abwägungsfehlerhaft waren.

      Im Hinblick auf die ausstehenden Hauptsache-Entscheidungen bereitet mir diese Pfadabhängigkeit große Sorge. Obergerichte müssten argumentativ von dutzenden Beschlüssen der Eilverfahren abweichen, Kammern ihre eigenen Beschlüsse als unzutreffend bewerten. Ob sie das tun werden?

  5. Beate Büttner Fri 18 Dec 2020 at 13:39 - Reply

    Die in Bayern seit dem 16.12.2020 geltende landesweite nächtliche Ausgangssperre fällt aus dem rechtlichen Rahmen. Ob sie mit § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG zu vereinbaren ist, werden die Gerichte noch zu entscheiden haben. Während z.B. die aktuelle Corona-Verordnung des Landes Baden-Württemberg von einer erweiterten Ausgangsbeschränkung spricht (vgl. § 1c Abs. 2 Satz 1 CoronaVO) mit weniger triftigen Gründen, die Wohnung in der Nacht als unter Tags zu verlassen, ist die nächtliche Ausgangssperre in Bayern eine repressive Verbotsnorm. Sie ist ein Betretungsverbot des öffentlichen Raums zwischen 21.00 Uhr und 5.00 Uhr. Das ist grundsätzlich etwas anderes als eine auch erweitere Ausgangsbeschränkung.

    • Felix Schmitt Sat 19 Dec 2020 at 16:34 - Reply

      Liebe Beate,

      wie Du weißt, gebe ich Dir bei der Einordnung der bayerischen Regelung recht. Das bayerische Verbot, den öffentlichen Raum zu betreten, wirkt strukturell anders als die bislang genutzten Verbote, die Unterkunft zu verlassen. Das Betretungs/Aufenthalts-Verbot greift damit auch in anderer Weise in die Grundrechte ein, als es die Ausgangsverbote bislang taten. Ob sich das Betretungs/Aufenthalts-Verbot als “Ausgangsbeschränkung” im Sinne des § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG subsumieren lässt, ist dann jedenfalls begründungsbedürftig. Im Ergebnis würde ich die Frage verneinen.

      Leider sind die Gesetzgebungsmaterialien zur jüngsten IfSG-Reform sehr dünn. Es wird aber insbesondere deutlich dass sich der Gesetzgeber auf die “bewährten Ausgangsbeschränkungen” bezogen hat. Mit dem Wesentlichkeitsgebot wird man bei derart tiefgreifenden Maßnahmen und bei der außerordentlichen Dringlichkeit, mit der im November der Bundestag endlich tätig geworden ist, fordern müssen, den historischen Bezug auf die Ausgangsverbote sehr ernst zu nehmen. Bei der unterschiedlichen Wirkweise von Ausgangsverbot und Betretungs-/Aufenthalts-Verbot handelt es sich dann nicht lediglich um eine juristische Spitzfindigkeit.

      Das nächtliche Betretungs-/Aufenthalts-Verbote im öffentlichen Raum in Bayern ist ein rechtliches aliud, das nicht unter § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG fallen. Ein Rückgriff auf die Generalklausel versperrt sich.

      Für die derzeitige Detailgenauigkeit und Schwerpunktsetzung der Oberverwaltungsgerichte dürfte indes symptomatisch sein, dass das OVG Lüneburg einer solchen Argumentation beim vergleichsweise milden Böllerverbot folgt, der VGH München und das BayVerfGH beim einschneidenderen Betretungs-/Aufenthaltsverbot mit “Ungenauigkeiten” aber kein Problem hat.

  6. Philip Nedelcu Fri 18 Dec 2020 at 14:00 - Reply

    Vielen Dank für den spannenden Beitrag! Zwei Anmerkungen/Fragen:

    1. Während ich Ihnen zustimme, dass sich die Reichweite der Einschätzungsprärogative (auch) daran orientiert, wie neu/plötzlich ein Geschehen ist, würde ich gleichzeitig für die derzeitigen Maßnahmen auch die Tatsache einbeziehen, dass die Infektionslage schlechter ist als im Frühjahr. Führt dies dann nicht ebenfalls zu einem besonders weiten Einschätzungsspielraum, der eventuell gar nicht weniger weit geht als im Frühjahr?
    2. Bezüglich des legitimen Ziels sprechen Sie von einem „nur theoretisch konstruierte[n] Schutz“, den die Maßnahmen mit sich bringen. Muss man hier aber nicht (auch oder sogar primär) auf den von staatlicher Seite kommunizierten Zweck, Kontakte schlicht in jeder Form zu vermeiden, abstellen? Das verschiebt die Rechtfertigungs-/Begründungslast natürlich zugunsten des Verordnungsgebers, ließe sich aber doch – im Falle eines Falles – auf Ebene der Erforderlichkeit/Angemessenheit „abfangen“.

  7. JF Lindner Fri 18 Dec 2020 at 15:08 - Reply

    Ein schöner Beitrag. Der Umgang der Politik mit der Corona-Pandemie zeigt ein stetig abnehmendes Maß an Differenzierungsbereitschaft. Jegliche repressive Maßnahme ist so angelegt, dass sie eine möglichst große Zahl an Bürgerinnen und Bürgern trifft. Als unhinterfragtes Ziel wird ja eine Verringerung der Kontakte insgesamt ausgegeben, nicht etwa der risikobehafteten. Dass dabei auch Verhaltensweisen verboten werden, die gar nicht mit Kontakten verbunden sind (Spazierengehen, Jogging etc.), wird gar nicht mehr als Problem gesehen. Auch die Gerichte haben offensichtlich kapituliert: Der BayVGH hat diese Woche im Rahmen eines Verfahrens nach § 47 Abs. 6 VwGO die bayerische Regelung zur nächtlichen Ausgangsbeschränkung für rechtmäßig erachtet: Beschl. v. 14.12.2020 – 20 NE 20.2907.
    Würden die maßgeblichen politischen Akteure in dieser Krise ihren Ehrgeiz weniger auf die Inszenierung breitgesteuter Repression als auf zielgerichteten präventiven Schutz der besonders gefährdeten Menschen legen, wären wir weiter – und Hunderte von Toten noch am Leben. Aber das würde eben Kreativität voraussetzen.

    • Felix Schmitt Sat 19 Dec 2020 at 17:25 - Reply

      Sehr geehrter Herr Prof. Lindner,

      herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Den Begriff des “Untätigkeitsparadox”, den Sie für das beschriebene Phänomen in einem Kommentar zu Ihrem jüngsten Blogbeitrag genutzt haben, halte ich für sehr erkenntnisreich und diskurswürdig!

      An der von Ihnen zitierten Entscheidung des VGH München ist besonders interessant, dass sie zur 10. BayIfSMV erging. also zu einer “Ausgangssperre”, die nur in Gebieten mit einer Sieben-Tage-Inzidenz größer 200 angeordnet war. Meinem Empfinden nach betont der VGH in der Entscheidung auch oft die Beschränkung auf ebendiese Regionen. In einer Entscheidung zur 11. BayIfSMV müsste sich der VGH dezidiert damit auseinandersetzen, warum eine unterschiedslos geltende Regelung nun doch verhältnismäßig sein soll.

      Die nächtliche “Ausgangssperre” hat indes der Bayerische Verfassungsgerichtshof mit gestriger Entscheidung gehalten. Das Gericht verneint dabei bereits den Eingriff (!) in Art. 102 BV. Das halte ich – um es einmal ganz drastisch zu formulieren – für schlicht unvertretbar.

  8. Henrik Eibenstein Sat 19 Dec 2020 at 19:47 - Reply

    Ein sehr belebender Beitrag!
    Meines Erachtens besonders herauszustellen ist der von Ihnen zu Recht mehrfach deutlich angesprochene Problemkreis der mit Ausgangssperren intendierte infektionsschützende Effekt.
    Es ist wenig nachvollziehbar, warum – bei allem Respekt und auch verfassungsrechtlich freilich gebotener Achtung der Entscheidungsprärogative der Verwaltung – gerade bei den besonders grundrechtsintensiven Ausgangssperren nicht ein verständlicher Maßstab an die Prüfung der Geeignetheit angelegt wird. Statt sich mit dem Topos “muss nur den Zweck fördern” zu begnügen, wäre doch schon in Zweifel zu ziehen, warum und wie konkret Ausgangssperren die Gefahr von Infektionen minimieren würden, solange keine fachwissenschaftliche Evidenz dafür existiert, dass es allein durch einen aushäusigen Aufenthalt – trotz strikter Einhaltung eines Mindestabstands und allen sonstigen verordneten Präventionsmaßnahmen – zu Übertragungen des SARS-CoV-2-Virus in relevantem Maße kommen wird.
    Dabei dürfte es im Übrigen kaum zur inhaltliche differenzierten Auseinandersetzung beitragen, Maßnahmen mehr oder minder pauschal unter dem Hinweis auf ein vom Verordnungsgeber verfolgtes Gesamtkonzept zu billigen.

  9. Tobias Demann Sun 20 Dec 2020 at 00:58 - Reply

    In Niedersachsen regelt die aktuelle CoronaVO in par. 6, dass private Zusammenkünfte und Feiern in der “eigenen” Wohnung bis zum 23.12. nur mit fünf Erwachsenen (über 14 Jahren) aus maximal zwei Haushalten zulässig sind. Über Weihnachten sind “anstelle” des dort genannten Personenkreises “auch” (?) Zusammenkünfte des eigenen Haushaltes mit bis zu vier zusätzlichen engsten Verwandten Erwachsenen über 14 erlaubt.

    Es ist schon nicht eindeutig, ob man über Weihnachten überhaupt noch nicht-Verwandte empfangen darf. Nach dem Wortlaut gilt wohl dass mein einer Bruder und mein Vater mit meiner Frau und mir gemeinsam meinen anderen Bruder in Oldenburg in deren eigener Wohnung mit seiner Frau und seinen Söhnen (2 über 14) besuchen dürfen. Dagegen darf dieser Bruder nicht zu uns kommen, weil wir dann mit Personen des eigenen Haushaltes und insgesamt sechs engen Verwandten über 14 Jahren zusammen sind. Man muss also dahin fahren, wo schon die meisten Personen wohnen? Aus deren Perspektive scheint die VO zählen zu wollen. Es wäre indes auch die Lesart denkbar, dass der 4 Verwandte empfangende Bruder korrekt handelt, wir anderen aber eine Ordnungswidrigkeit begehen, weil wir uns mit mehr als 4 Erwachsenen treffen. Allerdings ist es aus unserer Sicht weder eine Feier in unserer eigenen Wohnung, noch in der Öffentlichkeit. Dafür habe ich noch keine Regelung in der Verordnung entdeckt.

    Je länger man sich mit den wöchentlich wechselnden Bestimmungen beschäftigt, desto absurder kommen einem die Ergebnisse vor.

    Ich bin Rechtsanwalt. Was soll ich meinen Mandanten raten?

  10. Jan-Philipp Schöneseiffen Sun 20 Dec 2020 at 01:25 - Reply

    Vielen Dank für den sehr lesenswerten Beitrag!
    Ein Aspekt, der bei solch weitreichenden Maßnahmen wie Ausgangssperren/-beschränkungen nicht zu kurz kommen sollte, ist aus meiner Sicht, dass eine Überregulierung im Ergebnis wohl dazu führt, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet: während Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen wohl nur von selbsternannten „Querdenkern“ und „Corona-Leugnern“ angezweifelt werden, sind Ausgangsbeschränkungen auch abgesehen von den hier eindrucksvoll aufgezeigten juristischen Argumenten für den gemeinen Bürger, welcher einfach nur einen Abendspaziergang machen oder aber seinen Lebensgefährten besuchen möchte, nur schwer zu akzeptieren. Das scheinbar verfolgte Ziel, ein „Horrorszenario“ aufzumalen, ist mE nicht zielführend, um die Gesellschaft für wohl noch einige schwere Monate von den Maßnahmen zu überzeugen.

  11. A. Groß Mon 21 Dec 2020 at 13:27 - Reply

    Wenn das BVerwG 2012 urteilte: “Eine Person ist ansteckungsverdächtig im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG, wenn die Annahme, sie habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. ” Muss man sich dann wundern, dass die Exekutive mit ihren Verfügungen durchkommt?

  12. Wolfgang A Sat 26 Dec 2020 at 23:21 - Reply

    Sehr guter Artikel und interessante Diskussion! Was für mich als Laien schwer verständlich ist, ist folgendes:

    Nach der Rechtsauffassung, soweit ich sie verstanden habe, muss ein Eingriff in Grundrechte a) einem genau definierten Zweck dienen, er muss b) das mildest-mögliche Mittel darstellen und er muss c) im Hinblick auf das, was damit erreicht erreicht werden kann, verhältnismäßig sein.

    Bei der gegebenen Ausgestaltung der Ausgangssperre (ich lebe in Bayern) werden Verhaltensweisen untersagt, die keinerlei Relevanz für den Gesundheitsschutz haben. Darunter fallen sämtliche Anlässe, die nicht dazu dienen, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, wie etwa beispielsweise das nächtliche Zigaretten holen jenes Pärchens aus Amberg. In derartigen Fällen ist weder a), noch b), noch c) gegeben und die Intention der Ausgangssperre, Kontakte zu beschränken, gegenstandslos. Hier ist die Ausgangssperre ein reiner Selbstzweck ohne jeden plausiblen Bezug zur Corona-Krise.

    Alleine schon damit müsste die pauschale Ausgangssperre doch eigentlich hinfälliger als hinfällig sein. Wieso gibt es sie noch?

  13. Sebastian Jeschke Wed 20 Jan 2021 at 19:04 - Reply

    Der Beitrag greift auf, von welchem Gedanken die Exekutive beim Erlass der Verordnung geleitet wurde:

    “Wer einen anderen Hausstand besucht, muss um 21 Uhr zuhause sein oder dort übernachten.”

    Der Zweck der Norm ist es also gerade nicht, Ansteckungen im öffentlichen Raum, sondern im privaten Umfeld zu verhindern. Genau hier greifen aber schon die Kontaktbeschränkungen, § 4 Abs. 1 S.1 der 11. BayIfSMV.

    Mein rechtliches Störgefühl konzentriert sich daher zunehmend auf folgende Überlegung:

    Neben der im Beitrag dargestellten Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme stört mich an der nächtlichen Ausgangssperre, dass dem Bürger eine objektive ungefährliche Tätigkeit mit der Begründung verboten wird, er werde sich (gewissermaßen aus einer ex-ante Sicht) nicht an einen anderen bußgeldbewehrten Tatbestand der selben Verordnung halten, wofür es aber keinen – zumindest von Ort und Tag unabhängigen – allgemeinen Erfahrungssatz gibt.

    Vielmehr hat der Staat dem Bürger meiner Meinung nach die Vermutung gesetzestreuen Verhaltens entgegenzubringen, was sich darin widerspiegelt, dass die Rechtsordnung gerade durch ihre partielle Bewehrung eben jenes normgerechte Verhalten einfordert.

    Das Rechtstaatsprinzip, Art. 20 III GG, erfordert es meiner Meinung nach, eine bereits erlassene Regelung – hier die Kontaktbeschränkung – konsequent durchzusetzen. Sofern auf die beschränkten Kontrollmöglichkeiten abgestellt wird, so muss das Bußgeld entsprecht erhöht werden, um eine Abschreckungswirkung zu erzielen.

    Das Erlassen einer zweiten Norm (der Ausgangssperre), mit der allen (!) Bürgern der Vorwurf des Gesetzesbruchs von Staats wegen gemacht wird, halte ich für ein fatales Signal an Behörden und Bürger und sehe hier auch ein Spannungsverhältnis zum Demokratieprinzip, Art. 20 I GG: denn dieses wird gerade durch das Vertrauen, welche die Bürger dem Staat- repräsentiert durch gewählte Vertreter – entgegenbringen.

  14. R. Bader Sun 31 Jan 2021 at 18:46 - Reply

    Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag! Als Jura-Laie lese ich den Verfassungsblog seit Beginn der Coronakrise immer wieder sehr gerne. Der Beitrag zu den nächtlichen Ausgangssperren ist hochinteressant. Mein persönlicher Eindruck bei den verhängten Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus ist, dass mittlerweile nur noch die „viel hilft viel“-Devise gilt. Offenbar scheint es auch für diverse Gerichte völlig ausreichend zu sein, einzig und allein mit dem Gesundheitsschutz zu argumentieren. Mit diesem Argument dürften jedoch schon längst keine Zigaretten oder sonstige legalen Drogen mehr vertrieben werden.

    Die nächtlichen Ausgangssperren stoßen mir insbesondere negativ auf, da ich noch keine Statistiken gesehen habe, die den Nutzen genau dieser Maßnahme quantifizieren. Stattdessen werden Maßnahmenpakete erlassen und infolge dessen verringern sich Infektionszahlen mehr oder weniger stark und damit erhalten auch solche Maßnahmen politische Legitimität durch einen (zweifelhaften) Nutzen, der noch nirgends eindeutig erwiesen wurde.

    Die Ausnahme der Handlungen zur Versorgung von Tieren ist löblich, sorgt aber dennoch regelmäßig für Diskussionsbedarf. Ich wurde bereits mehrfach auf dem Rückweg von meinem Pferd kontrolliert. Mal in Arbeitskleidung – da waren nach längerem Hin und Her immerhin meine Schuhe dreckig genug. Ein anderes Mal hatte ich meine Reithose an, da war es wieder nicht in Ordnung. Stattdessen wurde eine Verkehrskontrolle durchgeführt und ich musste mich noch erklären, in welchem Verhältnis ich zum Fahrzeughalter stünde – obwohl ich den original KFZ-Schein vorgelegt hatte. Zudem fuhr mir die Streife noch bis zur Wohnungstür hinterher. Man wird behandelt wie ein Straftäter – es gibt wohl keine Unschuldsvermutung mehr, stattdessen sind wir alle erstmal grundsätzlich strafverdächtig und werden ebenso behandelt.

    Da die triftigen Gründe für die Ausnahmen von der nächtlichen Ausgangssperre in Baden-Württemberg offensichtlich abschließend sind, habe ich noch ein weiteres Beispiel für einen unverhältnismäßigen Freiheitseingriff. Wir renovieren gerade eine von uns gekaufte Immobilie. Diese ist 70 Kilometer von uns entfernt. Durch die nächtlichen Ausgangssperren müssen wir nun jedes Wochenende zu einer Zeit die Immobilie verlassen und nach Hause fahren, zu der wir eigentlich noch hätten arbeiten können. Da Hotels geschlossen wurden und man die eigene Familie nur noch alleine besuchen kann, ist es damit auch unmöglich, vor Ort zu übernachten.

    Wie kann man als Privatperson eigentlich gegen solche Maßnahmen vorgehen? Die juristische Lage ist für mich völlig undurchsichtig.

  15. Jan G. Mon 22 Feb 2021 at 20:10 - Reply

    Danke für die wissenschaftliche Erläuterung!
    Seit April 2020 klage ich in Bayern beim Verfassungsgerichtshof gegen die Ausgangsbeschränkungen mit Eilanträgen im Rahmen des Popularklageverfahrens. Wie bekannt ohne Erfolg. Immerhin Anfang Mai ein Brief des Präsidenten, der auch an die bayer. Staatsregierung ging, dass es nicht fernliege, dass der Verfassungsgerichtshof seine Meinung zur Rechtmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen ändert, wenn die Entwicklung weiter günstig verläuft. Tags darauf die Kabinettsitzung und Ende der Ausgangsbeschränkungen verkündet.
    Seit kurz vor Weihnachten wieder Eilanträge gegen die Ausgangssperre.
    Man wird hingehalten. Brief der Generalsekretärin, es bestehe kein Bedürfnis zu einer Entscheidung. Dann, im Januar, es wird in einem anderen Verfahren, AZ Xy darüber entschieden. Jenes Verfahren behandelt aber inhaltlich nicht speziell die Ausgangssperre, sondern einen Rundumschlag eines Anwalts gegen sämtliche Maßnahmen.
    Wieder hingeschrieben, dass sie sich deshalb doch bitte mit meinem Eilantrag beschäftigen möchten, der sich ausschließlich und fundiert gegen die Ausgangssperre als stärkste Grundrechtseinschränkung richtet. Im Februar dann der Hinweis, 1.500 € einzahlen als Kostenvorschuss, mit dem Hinweis, dass der Antrag als offensichtlich unbegründet eingeschätzt wird. Bezug wird dabei auf einen früheren Schriftsatz genommen, unklar bleibt, ob mein aktueller Antrag bei dem Beschluss vorlag. Wenige Tage später wird die Ausgangssperre in ihrer inzidenzunabhängigen Form aufgehoben.
    Erneuten Antrag gestellt gegen die aktuell gültige Form der Ausgangssperre.
    Ich vermute, dass es anderen Klägern ähnlich erging. Entweder ist es wirklich eine Arbeitsüberlastung des Gerichtshofs oder eine systematische eigene Politik, die betrieben wird. Kann ich nicht beurteilen.

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