19 December 2020

Fingerzeig an die Karlsruher Kollegen

Der Kunduz-Beschluss des BVerfG

Mehr als 10 Jahre ist der tödliche Bombenabwurf in der Region Kunduz unter Beteiligung der Bundeswehr her. Jetzt hat eine Kammer des BVerfG dazu einen Beschluss veröffentlicht und damit einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Anwendbarkeit des nationalen Amtshaftungsrechts auf den Einsatz von Streitkräften im Ausland geleistet. Die Kammer ist dabei insbesondere der ablehnenden Haltung des BGH mit gewichtigen verfassungsrechtlichen Argumenten entgegengetreten. Die Entscheidung stärkt damit den Grundrechtsschutz, aber endgültig klären kann sie die amtshaftungsrechtliche Problematik leider noch nicht.

Der Fall Kunduz

Der Sachverhalt, der der Kammerentscheidung des BVerfG zugrundeliegt, hat in den vergangenen zehn Jahren alle Instanzen der ordentlichen Gerichtsbarkeit beschäftigt: Afghanen haben die Bundesrepublik auf Zahlung von Schadensersatz und Entschädigung wegen eines Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan verklagt. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) unter Führung der Nato eingerichtet, um die neu gewählte Regierung Afghanistans zu unterstützen. Daran beteiligten sich auch deutsche Streitkräfte. In den frühen Morgenstunden des 04.09.2009 gab ein Oberst der Bundeswehr, der zum damaligen Zeitpunkt das Kommando über das sog. „Provincial Reconstruction Team“ (PRT) für die Region Kunduz im Norden Afghanistans innehatte, den Befehl zum Bombenabwurf auf zwei Tanklastwagen. Diese waren am Tag zuvor durch Taliban-Kämpfer entführt worden, später jedoch beim Versuch, den Fluss Kunduz zu überqueren, auf einer Sandbank manövrierunfähig im Schlamm steckengeblieben. Durch den Einsatz verschiedener Aufklärungsmittel ließ sich der zuständige Oberst bestätigen, dass sich in der Nähe der Tanklastwagen keine Zivilisten befanden. Doch tatsächlich wurden infolge des Bombenabwurfs nicht nur die Tanklastwagen zerstört, sondern auch zahlreiche Personen, darunter auch Zivilisten verletzt bzw. getötet.

Angehörige einiger Todesopfer machten gegenüber der Bundesrepublik daher einen Amtshaftungsanspruchs gemäß § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG geltend. Die Klagen blieben allerdings durch alle Instanzen hindurch erfolglos, und auch der gegen diese Entscheidungen erhobenen Verfassungsbeschwerde blieb nun der Erfolg versagt. Weder ergebe sich, so der BGH, aus dem Völkerrecht ein unmittelbarer Anspruch Einzelner (Rn. 15 ff.), noch seien die Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs nach nationalem Recht gegeben. Während das LG Bonn und das OLG Köln (Rn. 28 ff. m.w.N.) das Amtshaftungsrecht grundsätzlich für anwendbar hielten, allerdings keine schuldhafte Amtspflichtverletzung festzustellen vermochten, lehnte der BGH bereits die Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs auf Haftungsfälle im Rahmen eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr ab (Rn. 14, 20 ff.).

Der Streitstand bis zum Urteil des BGH

Die Frage, ob das nationale Amtshaftungsrecht auf derartige Fallgestaltungen anwendbar ist, war nicht nur zwischen den Gerichten, sondern auch in der Literatur umstritten. Der BGH selbst hatte sie in früheren Entscheidungen für die Zeit vor Inkrafttreten des Grundgesetzes abgelehnt („Distomo“), für die Zeit danach jedoch ausdrücklich offengelassen („Varvarin“). Argumentiert wurde insofern mit einer möglichen Verdrängung des Amtshaftungsrechts durch das völkerrechtliche „ius in bello“ als spezielleres Recht (Raap, NVwZ 2013, 552 [554]): Die im Frieden geltende Rechtsordnung werde im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung durch das anzuwendende humanitäre Völkerrecht überlagert und das völkerrechtliche Haftungsregime genieße daher als das speziellere Vorrang. Allerdings kommt es hier mangels konkretem Konflikt auf die Frage einer etwaigen Spezialität des Völkerrechts gar nicht an (s. bereits Ackermann, NVwZ 2017, 96).

Dem Wortlaut des § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG lässt sich jedenfalls keinerlei Einschränkung entnehmen. Weder ergibt sich aus der Formulierung der Normen eine Beschränkung auf rein inländische Sachverhalte, noch sind Maßnahmen der Streitkräfte vom Anwendungsbereich ausdrücklich ausgeschlossen. Tatsächlich würde die Einschränkung des Anwendungsbereichs angesichts des offenen Wortlauts eine teleologische Reduktion darstellen, die entsprechend begründet und gerechtfertigt werden müsste. Zudem sprechen eine Reihe von Gründen für einen – dem Wortlaut entsprechenden – weiten Anwendungsbereich: Immerhin gilt auch in bewaffneten Konflikten grundsätzlich weiterhin die Rechtsbindung des Staates, und es fehlt an einer gesetzlichen Befugnis zur Suspendierung des allgemeinen Deliktsrechts außerhalb der engen Grenzen eines Verteidigungsfalls i.S.d. Art. 115 a ff. GG (Dutta, AöR 133 (2008), 191 [217 f.]). Ist die Bundesrepublik insbesondere auch an Kriegsvölkerrecht gebunden, dann – so zurecht bereits das OLG Köln (Rn. 97 ff.) – bedarf es auch einer effektiven Sanktion etwaiger Verstöße. Dies wäre zugleich Ausdruck der zunehmenden Anerkennung des Individuums als partielles Völkerrechtssubjekt (dazu Dutta, aaO, S. 210 f.).

Auch der BGH hat die Problematik erkannt, hier gewissermaßen gegen den Wortlaut der Anspruchsgrundlage zu argumentieren (Rn. 22), und verweist insofern u.a. auf die Normgeschichte. Die Entscheidung, den Anwendungsbereich von § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG auszudehnen (s. auch Raap, aaO, S. 554), sei dem Gesetzgeber selbst vorbehalten (Rn. 39), auch mit Blick auf die vom BGH angenommene mögliche Einschränkung des außenpolitischen Handlungsspielraums der Bundesregierung. Tatsächlich war bzw. ist eine solche Änderung durch den Gesetzgeber aber ja gar nicht erforderlich, um etwa auch Bundeswehreinsätze im Ausland zu erfassen (s. bereits Schmahl, NJW 2017, 128 [131]). Auch ein weiteres Argument des BGH erscheint nicht zwingend: Weder bei Erlass des § 839 BGB, noch bei Erarbeitung des Art. 34 GG habe der Gesetzgeber derartige Fallgestaltungen – die Erfassung von „Kriegsschäden“ im Ausland – im Sinn gehabt. Dass Fälle wie der vorliegende nicht erfasst sein sollten, zeige sich auch angesichts der Regelungen des § 839 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 BGB. Diese kämen hier nämlich in aller Regel von vornherein nicht zum Tragen (Rn. 33). Dass Haftungsbeschränkungen allerdings in bestimmten Fallkonstellationen regelmäßig nicht vorliegen, spricht keineswegs zwingend gegen die grundlegende Anwendbarkeit der jeweiligen Anspruchsgrundlage in derartigen Konstellationen (s. auch Schmahl, NJW 2017, 128 [131]).

§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG im Lichte der Grundrechte

Hinzu tritt, wie die Kammer des BVerfG nunmehr zurecht betont, die grundrechtliche Einbettung des Amtshaftungsanspruchs: Wo es nicht möglich ist, die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar vor nicht gerechtfertigten Eingriffen des Staates in ihre Grundrechte – hier Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG – zu schützen, ergeben sich aus ihnen grundsätzlich auch Kompensationsansprüche, sei es als Schadensersatz-, sei es als Entschädigungs- oder Ausgleichsleistungen (grundlegend: Höfling, VVDStRL 61 [2002], 260 ff.). Es ist also ein Gebot effektiven Grundrechtsschutzes, derartige Sekundäransprüche den (primären) Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen als ein Minus zur Seite zu stellen, um „zumindest das vollständige Leerlaufen der in Rede stehenden grundrechtlich geschützten Interessen [zu verhindern]“ (Rn. 25, vgl. bereits Schmahl, ZaöRV 2006, 699 [711]). Abstützen lässt sich dieser Gedanke einerseits durch Art. 14 Abs. 3 GG, der eine (Enteignungs-)Entschädigung explizit einfordert, und Art. 41 EMRK, der es dem EGMR erlaubt, „gerechte Entschädigungen“ zuzusprechen und dabei nicht auf bestimmte Konventionsverletzungen beschränkt ist, andererseits (Rn. 27 f., näher zu letzterem: Dutta, aaO, S. 200 f. einschließlich der Frage der Anwendbarkeit der EMRK, mit der der EGMR derzeit befasst ist).

Die Bindung deutscher Staatsgewalt an die Grundrechte ist nicht auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt. Etwas anderes ergibt sich insbesondere nicht aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes (dazu: BND-Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, Rn. 89). Es bleibt daher bei der Grundaussage des Art. 1 Abs. 3 GG, wonach die (nachfolgenden) Grundrechte Gesetzgebung, Rechtsprechung und vollziehende Gewalt – die Bundeswehr eingeschlossen (BT-Drucks. 2/2150, S. 2) – als unmittelbar geltendes Recht binden (vgl. Hohnerlein/Schwander, JuWissBlog Nr. 80/2016). Zwar mag die Schutzwirkung der einzelnen Grundrechte im In- und Ausland unterschiedlich ausfallen. Steht aber, wie hier, die Abwehrdimension des Grundrechts auf Leben als einem Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung (Suizidhilfe-Urteil, Rn. 232) in Rede, verbietet sich eine entsprechende Herabstufung (so im Ergebnis auch Rn. 31).

Zu all dem findet sich im Urteil des BGH nichts (vgl. dort Rn. 27 ff.). Anzuknüpfen gewesen wäre an das Gebot verfassungskonformer Auslegung, genauer an den Grundsatz der Grundrechtseffektivität. Dabei ist „derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, ‚die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet‘“ (so bereits BVerfGE 6, 55 [72]). § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG ist nämlich offen formuliert; weder der einen noch der anderen Norm lassen sich in Bezug auf Auslandseinsätze der Bundeswehr nach dem oben Gesagten Einschränkungen entnehmen, wie auch der BGH zu verstehen gibt (Rn. 22). Selbst von seinem Standpunkt aus hätte es also – zurückhaltend formuliert – jedenfalls nahegelegen, unter dem Eindruck der Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG die Anwendbarkeit des Amtshaftungsrechts grundsätzlich zu bejahen.

Schluss und Ausblick

Das heißt noch nicht notwendig, dass der BGH im Ergebnis falsch entschieden hat. Weder bestehen – bei unterstellter Anwendbarkeit der § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG – Anhaltspunkte für eine Amtspflichtverletzung in Gestalt einer Verletzung des humanitären Völkerrechts (Art. 57 Zusatzprotokoll I zur Genfer Konvention) noch für ein Verschulden des ehemaligen Bundeswehr-Obersts (näher zu Ersterem: Schmahl, NJW 2017, 128; allgemein zu Letzterem: Dutta, aaO, S. 207). Damit ist indes zugleich ein Defizit des deutschen Amtshaftungsrechts angesprochen: das Verschuldenserfordernis. Die Kammer weist – wenn auch eher beiläufig – darauf hin, dass zahlreiche Staaten im europäischen Rechtsraum „eine grundsätzlich umfassende und verschuldensunabhängige Haftung des Staates für jegliches Verwaltungshandeln“ kennen (Rn. 26 [Hervorhebung nur hier]). So begrüßenswert der Trend in der Rechtspraxis erscheint, das Verschuldenserfordernis im Einzelfall zu lockern (Anscheinsbeweis, Verschuldensvermutung, etc.), am eigentlichen Problem geht er dennoch vorbei. Deshalb bleibt zu hoffen, dass der vorliegende Beschluss die „alte“ Diskussion, ob das Verschuldensprinzip ein unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten angemessenes Kriterium ist, wiederbelebt (s. bereits Brade, DVBl 2017, 621 [624] m.w.N.).

Leider hat die Kammer die Frage, ob das Amtshaftungsrecht auf Einsätze der Bundeswehr im Ausland anzuwenden ist, letztlich offen gelassen (und musste sie angesichts der in der Rechtsprechung des BVerfG nach wie ungeklärten Fragen zur Herleitung und Reichweite des Amtshaftungsanspruchs wohl auch offen lassen). Immerhin fallen die Ausführungen zur Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG vergleichsweise deutlich aus und gehen dabei wesentlich über den Varvarin-Kammerbeschluss aus dem Jahr 2013 (dazu etwa: Fischer-Lescano, VerfBlog, 2013/10/24) hinaus, sodass das Fehlen einer entsprechenden Senatsentscheidung nur einen kleinen Wermutstropfen darstellt.


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