03 April 2021

Herbeireden einer Verfassungskrise oder „Es läuft doch alles prima“?

Eine Erwiderung auf Matthias Jestaedt, Anna-Bettina Kaiser, Günter Krings und einige andere

Dass der Verfassungsblog ein Symposion über die Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft in der Pandemie angestoßen hat, wird man nur begrüßen können; die Debatte, obwohl auch andernorts schon geführt, ist in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis des Faches gar nicht hoch genug einzuschätzen. Anna-Bettina Kaiser und Matthias Jestaedt haben dazu nun unter der Überschrift „Kritik ja, Verfassungskrise nein“ einen Artikel veröffentlicht, in dem sie sich, wie einige andere vor ihnen auch schon, kritisch mit der gerade von Verfassungsrechtlern an verschiedenen Elementen der Pandemiebekämpfung geäußerten Kritik auseinandersetzen: Wegen der Gefahr populistischer Vereinnahmung müsse sich gerade die Verfassungsrechtswissenschaft, so die Grundaussage, in der derzeitigen Situation ihrer Verantwortung bewusst sein und auch in ihren Formulierungen jede Zuspitzung vermeiden. In diese Kerbe schlägt nun auch der Artikel „Kritik ist kein Selbstzweck“ von Günter Krings, der sich in dem Satz zusammenfassen lässt, die Verfassungsrechtswissenschaft solle am besten alles unterlassen, was den Betrieb störe; mit ihren gefährlichen Übertreibungen und Dramatisierungen gieße sie letztlich nur „Wasser auf die Mühlen“ der Feinde der Demokratie, und ihre „inflationäre Kritik“ entwerte am Ende nur „das eigene Fach in der Politikberatung“. Damit scheint mir die Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft in der Krise doch an entscheidender Stelle falsch eingeschätzt: Ihre Aufgabe ist es, jedenfalls nach meiner Einschätzung, nicht oder jedenfalls nicht primär, zur Beruhigung der Lage oder auch der Bevölkerung beizutragen, sondern zu versuchen, die bestehenden verfassungsrechtlichen Bindungen gerade in dieser Lage zur Geltung zu bringen. Das ist und war nicht leicht, und es erfordert auch Zuspitzungen und Dramatisierungen, die sich in anderen Zeiten verbieten. Dazu einige hier notwendig kursorische Bemerkungen:

1. Ich beginne mit einer kurzen Anekdote. Als ich neulich an der Universität in meinem Büro war, hatte ich auf dem Gang die – selten gewordene, denn man trifft sich ja nicht mehr so oft in diesen Tagen – Gelegenheit, mit einem (auch jetzt noch) gut befreundeten Kollegen zu sprechen; er unterrichtet übrigens auch das Verfassungsrecht. Wie es in diesen Tagen so ist, kamen wir auf die Pandemie zu sprechen und hier auf einige kritische Äußerungen, die ich in Zeitungsartikeln oder in Rundfunkinterviews getan hatte. Er sah diese nun wiederum kritisch, während ich versuchte, meine eigene Kritik zu rechtfertigen. Die Diskussion wurde – trotz der dämpfenden Maske – rasch hitziger, wie es in diesen Tagen nun auch einmal so ist, und er beendete sie schließlich mit dem Satz: „Wenn erst einmal die Intensivstationen volllaufen, interessiert Deine Verfassung sowieso keinen mehr“. Ihn selbst also auch nicht. Tatsächlich hat er es noch etwas drastischer ausgedrückt, aber das kann ich an dieser Stelle nicht wiederholen. Die Aussage steht jedenfalls beispielhaft für einige andere Stellungnahmen aus der Verfassungsrechtswissenschaft selbst (auch auf diesem Blog), die ihrerseits in die allgemeine Empfehlung münden, es sei dies insgesamt eine Lage, in der man als deren Teil am besten erstmal die Klappe hält: „Es wird sowieso zu viel geschrieben“.

2. Auch wenn gerade Matthias Jestaedt und Anna-Bettina Kaiser – anders als Günter Krings in seiner Forderung nach einer prinzipiell unpolitischen Rechtswissenschaft – es so nicht meinen und Kritik ausdrücklich für zulässig erklären, rügen doch auch sie wie einige andere vor ihnen die Zuspitzungen und Dramatisierungen, in die die kritische Fraktion des Verfassungsrechts während der Krise verfallen ist. An diesem Vorwurf ist sicherlich manches berechtigt; wenn man die von ihnen zitierten Formulierungen liest (von mir habe ich gottlob keine gefunden, aber man hätte welche finden können), wird man aus der Rückschau in der Tat die Frage stellen können, ob man sich nun wirklich gerade so und nicht etwas zurückhaltender hätte ausdrücken können (eine Frage, die ich mir aus der Rückschau auch laufend stelle). Alle Beiträge waren freilich aus der Situation des Augenblicks heraus geschrieben und für diesen bestimmt; sie reagierten auf Entscheidungen von einer bislang beispiellosen Tragweite, an die man Dramatik nicht von außen herantragen musste, sondern die sie selbst in sich trugen. Beider eigener Beitrag und noch stärker der von Günter Krings scheint mir allerdings ein Stück weit den entgegengesetzten Fehler zu machen: nämlich Dinge schön zu reden, die man nicht schön reden sollte; Entwicklungen und auch sich darin abzeichnende Verschiebungen zu bagatellisieren, wo es vielleicht doch darauf ankäme, den Finger in die Wunde zu legen. Ich will dies kurz an den Beispielen demonstrieren, die sie selbst anführen, wobei ich von der Reihenfolge etwas abweiche; dem Format geschuldet, bleibt natürlich auch hier manches fragmentarisch:

Erstens, Grundrechtssuspension und Ausnahmezustand: An mehreren Stellen ihres Textes weisen Anna-Bettina Kaiser und Matthias Jestaedt darauf hin, dass es den „Ausnahmezustand“ oder die „Suspendierung von Grundrechten“ rechtlich gesehen bei uns gar nicht gebe; das „Gerede von der Grundrechtssuspension“ sei deshalb eben gerade dies: Gerede. Das ist eine Feststellung, die man nun auch bei vielen anderen so lesen kann, von Stephan Rixen oder Jens Kersten in ihrem Sonderband zur Lage oder gerade etwa bei Horst Dreier in der DöV, und immer mit dem Gestus, das müsse man doch endlich mal klarstellen. Günter Krings greift dies dann dankbar auf. Ich selber sowie die anderen, die mit diesen Kategorien gearbeitet haben, können darauf nur erwidern: Das ist uns bekannt. Die Frage ist nur, was mit einer solchen Klarstellung gewonnen ist und was man damit eigentlich wem erklären will. Immerhin steht sie als juristische Aussage in einem eigenartigen Kontrast zu dem, was wir in unserer unmittelbaren Lebenswelt täglich erfahren. Die Grundrechte sind zwar formell noch da, aber man kann sie gerade nicht ausüben. Man kann Eingriffe in sie weiter von Gerichten überprüfen lassen, hat aber in der Sache so gut wie nie Erfolg (dazu noch unten). Tatsächlich ist alles anders, aber das Recht tut so, als sei eigentlich gar nichts Besonderes los. Vielleicht liegt dann aber gerade hier ein Problem? Vielleicht muss oder sollte eine Rechtsordnung, die den Ausnahmezustand (ja ich weiß: abgesehen vom Verteidigungsnotstand) als eigene Kategorie abgeschafft hat und die Verwaltung von Krisen in ihren normalen Geschäftsbetrieb einzuordnen versucht, sich in besonderer Weise sensibilisieren für die Verschiebungen, die sich subkutan in der Anwendung ihrer prinzipiellen Standards abzeichnen?

Wenn demgegenüber nun, wie bei Anna-Bettina Kaiser und Matthias Jestaedt, ausgerechnet auf die Erfahrungen nach den Anschlägen vom 11. September verwiesen wird, die gezeigt haben sollen, dass man auch außerordentliche Herausforderungen im Wege der „normalen Gesetzgebung“ unproblematisch bewältigen kann, weiß ich nicht, ob das ein besonders gelungenes Beispiel ist. Von Günter Frankenberg (Staatstechnik, 2010) bis hin zu Tristan Barczak (Der nervöse Staat, 2020) gibt es eigentlich genug Literatur, aus der sich lernen ließe, dass dies zuletzt nur um den Preis geschehen ist, dass Befugnisse, die man früher dem Ausnahmezustand vorbehalten hätte, in die „normale Gesetzgebung“ integriert worden und in diese eingewandert sind, von den immer weiter ausgreifenden Vorfeldbefugnissen der Gefahrenabwehrbehörden bis hin zur Ergänzung des Strafrechts um Elemente, in den man – auf der empirischen Ebene möglicherweise nicht ganz zu Unrecht – Züge eines „Feindstrafrechts“ diagnostiziert hat. Ausnahme- und Normalzustand durchmischen sich hier zunehmend, die Grenzen zwischen ihnen sind mehr und mehr durchlässig geworden, und eine Verfassungsrechtswissenschaft, die sich um ihr Proprium sorgt, sollte vielleicht gerade dies als Problem adressieren statt mit Palmström zu erklären, das gebe es nicht, weil es das nicht geben dürfe.

Zweitens, „parlamentarische Selbstentmächtigung“ (Christoph Möllers): Auch was die Anmahnung einer stärkeren Beteiligung der Parlamente in den Prozess der Krisenbewältigung anbelangt, stören sich Anna-Bettina Kaiser und Matthias Jestaedt nicht nur an dem Ton, in dem sie geäußert worden ist (Hindenburg-Klausel etc.), sondern sehen auch in der Sache selbst wenig Grund zur Kritik; streiten könne man vielleicht über Einzelheiten wie darüber, ob die Neuregelung der infektionsschutzrechtlichen Eingriffsbefugnisse in § 28a IfSG „den vom Bundesverfassungsgericht fein ausziselierten verfassungsrechtlichen Anforderungen“ in all ihren Regelungshalten Genüge tut. Auch hier ist es vielleicht sinnvoll, zunächst daran zu erinnern, wie es überhaupt zu dieser Neuregelung gekommen ist: Fast acht Monate lang wurde der „massivste kollektive Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik“ (erneut Möllers, aber als Tatbestand ja gar nicht zu bestreiten) auf eine generalklauselartige Ermächtigung gestützt, in der nicht viel mehr drinstand, als dass die je zuständigen Stellen beim Auftreten irgendeiner Infektion wo auch immer die ihnen je notwendig erscheinenden Maßnahmen ergreifen können. Das war ein Zustand, der mir nach allen Standards, die hier bisher galten (und nicht nur nach den „fein ausziselierten“ Anforderungen des BVerfG), seine Verfassungswidrigkeit geradezu auf der Stirn geschrieben trug, ohne dass lange irgendwelche Anstrengungen unternommen worden sind, daran etwas zu ändern. Dies geschah erstmals im November, als mit dem BayVGH erstmals ein Obergericht aussprach, dass sich „die Zweifel an der Tragfähigkeit dieser Regelung mittlerweile geradezu aufdrängten“, die darauf gestützte Verordnung allerdings mit der – rechtlich ziemlich dubiosen – Begründung durchwinkte, man arbeite allem Anschein nach ja gerade an einer Neufassung. Dadurch aufgeschreckt wurde eine rudimentäre Neufassung des § 28a in aller Eile noch in einen Regierungsentwurf eingeschleust, der eigentlich ganz anderen Zwecken zu dienen bestimmt war, und nur durch die massive Kritik aller geladenen Vertreter des Faches ist es gelungen, hier zumindest ein Minimum an rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen zu sichern.

Die verstärkte Einbindung gerade der Parlamente in den Vorgang der Krisenbewältigung ist davon abgesehen immer noch ein zentrales Desiderat, an das der frühere Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, gerade vor ein paar Tagen unter expliziter Bezugnahme auf einzelne Kritiker in der FAZ noch einmal nachdrücklich erinnert hat. Und es sind nicht die abwiegelnden und staatstragenden Kommentare von einigen Vertretern der Zunft, die hier zumindest zu einer partiellen Besserung beigetragen haben, sondern es sind gerade die vielen Kritiker und Kritikerinnen, die diesen Punkt immer wieder aufgegriffen haben. Auch hierzu vielleicht eine abschließende persönliche und auf die politische Praxis bezogene Bemerkung: Viele derer, die in ihren öffentlichen Stellungen auf diesem Blog oder anderswo zu rhetorischen Techniken der Überspitzung gegriffen haben, stehen in regelmäßigem Austausch gerade mit den Rechtspolitikern in den Parlamenten; ich selbst werde immer wieder von zwei Fraktionen (nicht der AfD!) dazu angefragt. Diese haben derzeit keinen leichten Stand, wie man auch daran ablesen kann, dass für alle Änderungen des Infektionsschutzgesetzes der Gesundheits- und nicht der Rechtsausschuss federführend ist; Gesundheitspolitiker nehmen die Erinnerung an verfassungsrechtliche Grundanforderungen eher als lästiges Störfeuer von der Seite wahr. Und gerade die vom praktizierten Modus der Krisenbewältigung tendenziell profitierende (ok, im Augenblick vielleicht gerade nicht so) Exekutive hat an einer stärkeren Einbindung der Parlamente tendenziell kein Interesse. Gerade aus den Parlamenten wird man deshalb geradezu dazu ermutigt, dieses Problem immer wieder anzupacken: Schreiben Sie doch mal was, wir brauchen das als Argumente, höre ich immer wieder. Und gerade gelegentliche Zuspitzung und Dramatisierung, so kann man es zusammenfassen, haben sich hier als ein sinnvolles Mittel erwiesen, den Bundestag oder auch die Landesparlamente zumindest stärker in Stellung zu bringen, als es mit einer Rhetorik des „Läuft doch alles prima“ gelungen wäre.

Drittens, Verhältnismäßigkeit und Rechtsschutz: Auch hier, meinen Anna-Bettina Kaiser und Matthias Jestaedt, sei doch im Großen und Ganzen alles bestens; gerade die Verwaltungsgerichte hätten ein „alles in allem überzeugendes Beispiel verfassungsstaatlicher Resilienz“ geliefert. Das wird man, zurückhaltend ausgedrückt, auch anders sehen können. Ein befreundeter hoher Ministerialbeamter in Hessen schrieb mir unlängst stolz, dass sie von den rund 60 Verfahren vor dem dortigen VGH bis auf ein halbes alle gewonnen hätten, während ich von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen, die in diesem Bereich tätig sind (keine Verschwörungstheoretiker!), immer wieder resigniert zu hören bekomme, sie könnten an Argumenten aufbieten, was sie wollten, es werde doch alles abgeschmettert. Und es gibt dann immer wieder spektakuläre Beispiele eines vollständigen Kontrollausfalls, bei denen man sich (oder ich mir) nur an den Kopf fassen kann: Wenn etwa sowohl das örtliche Verwaltungsgericht als auch der VGH Baden-Württemberg den Bewohnern eines Pflegeheims auch nach deren vollständiger Durchimpfung verwehren, die Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen und so in den für manche vielleicht letzten Lebensmonaten zumindest für einen kurzen Moment von Lebensfreude zu sorgen, scheint mir dies eine nicht nur rechtlich fragwürdige, sondern auch zutiefst inhumane Entscheidung, und man kann nur hoffen, dass das BVerfG, bei dem der Fall nun liegt, zumindest in diesem Fall korrigierend eingreifen wird; sonst hört man ja gerade von ihm nicht viel.

Tatsächlich liefern Anna-Bettina Kaiser und Matthias Jestaedt für ihre entgegengesetzte These auch keinen einzigen Beleg, übrigens im Unterschied zu den Kritikern, die von Anfang an zahlreiche solcher Belege vorgebracht haben. Auch Günter Krings begnügt sich insoweit dankbar mit der Feststellung, die Gerichte hätten doch alles überprüft. Um die These so in den Raum zu stellen, müsste man sich indes die einzelnen Entscheidungen näher ansehen, sie je für sich daraufhin untersuchen, ob sie die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes tatsächlich zur Geltung bringen (oder nur so tun), und sie schließlich in den größeren Zusammenhang der Entscheidungspraxis insgesamt einordnen. Wenn man dies versucht, könnte man die interessante Beobachtung machen, dass sie einen relativ gleichförmigen Verlauf zeigen: Die Entscheidungen folgen nicht nur dem Verlauf der Infektionskurven, sondern ziemlich exakt auch dem Auf und Ab der öffentlichen Stimmung, was die Bewertung der je zu ihrer Abflachung ergriffenen Maßnahmen anbelangt. Kritischer überprüft und im Einzelfall auch aufgehoben werden diese erst zu einem Zeitpunkt, an dem sich auch wachsende öffentliche Kritik an ihnen oder an einzelnen von ihnen entzündet. Das war in der ersten Welle der Pandemie so, und in zweiten und dritten Welle bzw. der gegenwärtigen Dauerwelle ist es nicht anders (s. zuletzt hier). Und es wäre dies eine Frage, die man dereinst vielleicht gründlicher einmal aufarbeiten sollte, was man aber ebenfalls nicht kann, wenn man vornherein gar nicht sieht, wo da überhaupt ein Problem sein könnte.

3. als ein kurzes Fazit: Das Verfassungsargument, darin würde ich Anna-Bettina Kaiser und Matthias Jestaedt zustimmen, hat sich in der Bundesrepublik nach einer ersten Phase zu Beginn der Pandemie insgesamt als durchaus wirkmächtig erwiesen; man kann das an Beispielen aus den Nachbarländern demonstrieren, in denen selbst so offenkundig sinnlose und über das Ziel hinausschießende Maßnahmen wie die Anordnung, die eigene Wohnung nur mit Passierschein und dann nicht über einen Umkreis von einem Kilometer hinaus zu verlassen, offenbar rechtsschutzlos hingenommen werden müssen. Aber es kostet Kraft, dieses Argument gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen Sachzwänge der Pandemiebekämpfung immer wieder in den Diskurs einzubringen und es gegen den allgegenwärtigen Primat des Lebens- und Gesundheitsschutzes zumindest punktuell zu behaupten; wie meine Anekdote zu Beginn dieses kleinen Textes zeigt, ist es nicht einmal in der Verfassungsrechtswissenschaft selbst noch hinreichend konsentiert. Und gerade der Beitrag eines Parlamentarischen Staatssekretärs auf diesem Blog belegt in seinem gesamten Duktus unfreiwillig, wie notwendig das beständige Beharren auf diesem Argument ist: gerade weil es den Betrieb einer Exekutive stört, die am liebsten unter sich bleiben und ohne lästiges Störfeuer der Verfassungsrechtswissenschaft ihre Arbeit machen möchte. Die „gesicherten Verfassungsmäßstäbe“, auf deren darstellende Beschreibung sich die Verfassungsrechtswissenschaft seiner Ansicht nach beschränken sollte, sind eben gerade dies nicht: gesichert. Was es an Maßstäben gibt, ist in sich elastisch und dehnfähig, damit aber gerade in der Krise für Verschiebungen offen, die sich dann langfristiger im Rechtssystem festsetzen könnten.

Gerade auf diese Gefahr aufmerksam zu machen, ist Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft. Gelegentliche Übertreibung und Zuspitzung – auch die angeführten Zitate sind ja immer nur einzelne Fetzen aus Texten, in denen auch viel zur Sache (und sachlich!) geschrieben worden ist – sind dann keine Entgleisungen, aus denen man einen Generalvorwurf ableiten sollte, sondern unvermeidlich.


One Comment

  1. Ulrich Demlehner Sat 3 Apr 2021 at 13:24 - Reply

    Ich stelle zum x-ten Male fest, dass sich anscheinend ausschließlich die seriösen Kritiker der Corona-Maßnahmen die Mühe machen, differenziert und sachlich fundiert zu argumentieren. Diese Aussage gilt sowohl für die juristische wie auch für die naturwissenschaftliche und statistische Argumentation (wobei ich als Naturwissenschaftler naturgemäß letztere deutlich besser beurteilen und einschätzen kann als erstere). Der Beitrag von Hr Krings legte in dieser Beziehung die Messlatte nochmals um einige Einheiten tiefer, wie man neidlos konzedieren muss.

    Alleine diese Beobachtung beschreibt recht gut, mit welcher Haltung die Exekutive dem Bürger und seinen Grundrechten entgegen tritt. Daran schließt sich dann die weitere Beobachtung an, dass ganz offensichtlich Gerichte wenig bis nichts an diesem Vorgehen auszusetzen haben, sondern im Gegenteil anscheinend mit dem Gedanken liebäugeln, dass man Grundrechte auch nicht verantwortungsvoll wahrnehmen kann. Welche Urteile man auf dieser gedanklichen Basis dann fällen kann, will man sich gar nicht ausmalen. Nach einem Jahr Pandemie mag auch das Argument von Fr Kaiser und Hr Jestaedt nicht mehr wirklich überzeugen, dass die Gerichte gar keine Zeit haben, sich mit der Thematik auseinander zu setzen und daher der Exekutive einfach Glauben schenken müssen. Dies scheint mir dann doch eine Art Beweislastumkehr zu sein, dass nicht der, der Grundrechte einschränkt, die Begründung dafür liefern muss, sondern der, dessen Grundrechte eingeschränkt werden.

    Wenn man dies alles zusammen betrachtet und unsere Verfassungsgrundsätze auch ernst nimmt, dann könnten einem durchaus umgangssprachlich die Begriffe “Verfassungsverstoß” und “Verfassungskrise” über die Lippen kommen.

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