Weder Twittershow noch Maulkorb
Wissenschaftsfreiheit und öffentliche Wortmeldungen auf Twitter & Co.
Letzte Woche sorgte in der Schweiz eine Zeitungsmeldung für Gesprächsstoff und ließ viele rätseln, ob es sich wohl um einen Aprilscherz handelte. Die Universität Bern habe neue Leitlinien zu Meinungsäußerungen von Uni-Angehörigen verabschiedet, die einem „Maulkorb“ gleichkämen. „Uni Bern stoppt Twittershow der Professoren“, titelte die Regionalzeitung. Auch wenn die Universität einen Zusammenhang dementiert, arbeiten an der Universität Bern profilierte und öffentlich exponierte Epidemiolog:innen, und der Zeitungsnachricht gingen im Bundesparlament (schließlich im Rat gescheiterte) Bemühungen voran, die Redefreiheit der schweizerischen Covid-Taskforce einzuschränken.
Im Verlaufe des Nachmittags des ersten Aprils stellten die Universität und die Regionalzeitung schließlich klar, dass wir es nicht mit einem Scherz zu tun haben. Die Universität Bern verfügt seit 2013 über Richtlinien zu sozialen Medien. Für Aufregung sorgten erst die kürzlich verabschiedeten Leitlinien, in denen steht, dass wissenschaftliche Diskussionen „zunächst und grundsätzlich im Rahmen von wissenschaftlichen Zeitschriften und Foren stattfinden“ sollen und Universitätsangehörige soziale Medien nur „mit grosser Zurückhaltung“ bedienen sollen. Twitter & Co. seien „nicht ohne Weiteres“ ein geeigneter Rahmen für Meinungsäußerungen zu wissenschaftlichen Themen. Meinungsäußerungen sollen „faktenbasiert” sein, Fakten seien von Meinungen zu trennen und Meinungen als solche zu benennen. Besonders ins Auge sticht die Bestimmung, dass „Meinungsäusserungen insbesondere zu sensiblen Themen in einer Organisationseinheit in einem Mindestmaß aufeinander abgestimmt werden [sollen]“.
Wie Daniel Thym vor ein paar Tagen schrieb, sind Rechtswissenschaftler:innen aus guten Gründen nicht nur im Elfenbeinturm tätig und müssen und dürfen sich mit den Möglichkeiten und Nebenwirkungen ihrer Meinungsäußerungen im öffentlichen Diskurs auseinandersetzen. Sichtbarkeit geht mit Verantwortung einher (siehe dazu den Beitrag von Isabel Feichtner). Welche Rolle dabei einer allfälligen Regulierung durch die Universitäten zuteil kommen kann, ist Gegenstand meiner kurzen Überlegungen.
Der Chilling-Effect auf die Ausübung der Wissenschaftsfreiheit
Die neuen Leitlinien der Universität Bern enthalten vage und in der Realität schwer umsetzbare Bestimmungen, welche den Spielraum der Wissenschaftler:innen in der Kommunikation einschränken. Die Idee, dass Meinungsäußerungen in einer Organisationseinheit aufeinander abgestimmt werden sollen, führt aller Voraussicht nach dazu, dass sich insbesondere Forschende auf befristeten Stellen und solche, die in Bereichen tätig sind, welche die Öffentlichkeit als „sensibel“ wahrnimmt, gut überlegen müssen, ob Konsequenzen drohen, wenn sie sich öffentlich äußern. Es geht dabei nicht um juristische Sanktionen, sondern um subtile und kaum nachweisbare mögliche Nachteile bei der Stellensuche, bei der Promotion oder im institutionellen Bereich. Die Berner Leitlinien sind ein gutes Beispiel dafür, dass Rechtsnormen auch außerhalb von formellen Verfahren und Gerichtsräumen Wirkung entfalten. Die Unschärfe einzelner Bestimmungen der Leitlinien wird insbesondere auf Forschende auf befristeten Stellen wirken. Diese machen an Schweizer Universitäten ca. 80% des Personalbestandes aus – deshalb ist der Titel der Regionalzeitung mit dem Fokus auf „Professoren“ sehr verkürzt.
Die Wissenschaftsfreiheit ist nicht erst dann tangiert, wenn es harte Verbote gibt. Ein Einschüchterungseffekt, welcher faktisch die Ausübung des Grundrechts einschränkt, kann genügen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oder der amerikanische Supreme-Court sprechen von einem „Chilling-Effect“. In der EGMR-Rechtsprechung wird der Chilling-Effect häufig als „überindividuelle“ Überlegung bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Eingriffes thematisiert. Es liegt prozessrechtlich in der Natur der Sache, dass sich der EGMR erst mit einem Fall beschäftigt, in dem es zu einem „handfesten“ Eingriff mit einer Sanktion gekommen ist. In Fällen abstrakter Normenkontrolle kommt der Chilling-Effect aber auch als Beschreibung für den Eingriff als solcher zur Sprache. So beurteilte das Schweizer Bundesgericht ein kantonales Polizeigesetz und stellte fest, dass „die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht nur durch direkte Eingriffe wie Verbote und Sanktionen beeinträchtigt werden können. Denkbar sind auch mittelbare Beeinträchtigungen dieser Grundrechte in dem Sinne, dass der Betroffene sich aufgrund einer behördlichen Reaktion nicht mehr traut, erneut vom Grundrecht Gebrauch zu machen.”
Präferenz traditioneller Medien
Zudem äußern die Berner Leitlinien eine Präferenz, welche Medien Forschende benutzen sollen. Soziale Medien, insbesondere Twitter, sind heute für viele Forschende zu einem wichtigen Arbeitsinstrument geworden. Soziale Medien ersetzen Fachpublikationen selbstverständlich nicht, aber viele von uns nutzen Twitter zur Vernetzung, zum Einholen von Feedback oder zum Austausch mit der Forschungsgemeinschaft und der breiten Öffentlichkeit. Die Wissenschaftsfreiheit betrifft bekanntlich nicht nur den Inhalt der Forschung, sondern auch die Art, wie diese betrieben und verbreitet wird. Wer auf Nummer sicher gehen will, zieht sich gemäß den Leitlinien am besten in den Elfenbeinturm zurück und lässt die Finger von sozialen Medien. Deshalb ist auch die Äußerung der Universität zur Präferenz von traditionellen Medien für die Wissenschaftsfreiheit – und wohl auch für die Universität – nachteilig.
Die Wissenschaftsfreiheit der breiten Öffentlichkeit
Die Leitlinien sind auch ein Verlust für die Freiheit der breiten Öffentlichkeit, Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und von den wissenschaftlichen Errungenschaften profitieren zu können. Das gelingt besser, wenn Forschende sich mit der Öffentlichkeit ungezwungen austauschen können, auch – oder gerade besonders – zu Themen, die als kontrovers wahrgenommen werden.
Sachgerechtigkeit und Mut
Universitäten und Forschende weltweit stellen sich die Frage, was sie sagen dürfen und sollen, und stehen zum Teil auch unter großem Druck. Versuche, Meinungsäußerungen von Forschenden in gewisse Bahnen zu lenken, sind nichts Neues, aber sie scheinen weltweit gegenwärtig eher zu- als abzunehmen. Gleichzeitig ist wichtig festzuhalten, dass Universitäten selbstverständlich legitime Interessen haben und die Nutzung von sozialen Medien durch Uni-Angehörige bis zu einem gewissen Grad regulieren dürfen. Während traditionelle Medienhäuser redaktionelle Ressourcen abbauen mussten, haben die Universitäten ihre Kommunikationsabteilungen oft deutlich ausgebaut. Dabei besteht gemäß der Analyse des Wissenschaftsjournalisten Urs Hafner die Gefahr, dass Universitäten die sozialen Medien primär zur Imagepflege verwenden und wie Unternehmen kommunizieren, anstatt wirkliche Brücken zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu schlagen und einen offenen Diskurs zu führen.
Dass die Trennung von Fakten und Meinungen in den Rechtswissenschaften eine vielschichtige Sache ist, darauf brauche ich nach den gehaltvollen Reflexionen im Symposium kaum einzugehen (siehe dazu z.B. den Beitrag von Alexandra Kemmerer). Wenn eine Universität reguliert, dann ist das Kriterium der „Sensibilität“ der Stellungnahme jedenfalls völlig unangebracht, denn was als sensibles Thema in den Rechtswissenschaften gilt und was nicht, ist zuweilen hochpolitisch. Darüber muss man unbedingt auch öffentlich reden dürfen, und ganz bestimmt auch dann, wenn die Positionen innerhalb einer Organisationseinheit einer Universität verschieden sind. Judith Shklar schrieb 1986 in Legalism: „Law, in short, is politics (…).” Die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit schützen eben gerade nicht nur Äußerungen, die günstig aufgenommenen oder als unschädlich oder unwichtig angesehen werden.
Medien haben im Einklang mit der Pressefreiheit über die Jahre publizistische Leitlinien erarbeitet, bei denen die „Sachgerechtigkeit“ der Berichterstattung als Kriterium zentral ist. Analog dazu könnte man sich vorstellen, dass Universitäten und wir (Rechts-)Wissenschaftler:innen überlegen, was es heißt, „sachgerecht“ über verfassungsrechtliche Themen zu kommunizieren, ohne uns Regeln oder Geboten zu beugen, die öffentliche Stellungnahmen zu „sensiblen“ Themen vermeiden wollen. Das Sachgerechtigkeitsgebot ist gemäß der Rechtsprechung der schweizerischen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen dann erfüllt, wenn die Empfänger:innen in die Lage versetzt werden, „sich aufgrund der vermittelten Fakten und Meinungen eine eigene Meinung zu den behandelten Themen bilden zu können“ und umstrittene Ansichten oder Unsicherheiten als solche erkennbar sind. Die Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber ist jedenfalls nicht ausreichend, die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, wenn Forschende sich öffentlich in ihrem Wissenschaftsbereich äußern und dies der Universität nicht gefällt. Als ich mich letzte Woche – selbstverständlich auf sozialen Netzwerken – umhörte, welche anderen Universitäten Regulierungen zu öffentlichen Stellungnahmen auf sozialen Medien verabschiedeten, schickte mir jemand aus Australien ein m.E. gelungenes Beispiel der Monash University, welches hier abrufbar ist.
Wenn (Rechts-)Wissenschaftler:innen mit ihren eigenen Accounts auf sozialen Medien öffentlich Stellung nehmen, bewegen sie sich in einem Spannungsfeld von Interessen, in dem es nicht darum gehen darf, sich darauf zu beschränken, „eigene Fehlpässe zu vermeiden“, sondern vielmehr – um beim Titel von Thorsten Kingreens Beitrag zu bleiben – Bälle aufzunehmen und den Austausch mit der Öffentlichkeit zu pflegen. Dies auch dann, wenn kein Heimspiel ansteht.
Die Autorin dankt Dr. Raphaela Cueni für den telefonischen Austausch zum Thema. Der Inhalt des Beitrages liegt in der alleinigen Verantwortung der Autorin.