03 February 2022

Lektion erteilt, Lektion gelernt

Der Künast-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts und was das LG Berlin inzwischen weiß

Für letztes Jahr angekündigt, gestern veröffentlicht: Mit Beschluss vom 19.12.2021 hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde von Renate Künast entschieden, mit der sie zivilrechtliche Urteile des Landgerichts und Kammergerichts Berlin angriff.

Der Fall Künast

In den Berliner Verfahren ging es um 22 Kommentare auf Facebook, gegen die Frau Künast zivilrechtlich vorgehen wollte.

Wir erinnern uns: Die streitgegenständlichen Kommentare bezogen sich auf einen Facebook-Post von Anfang 2019. Hintergrund war eine Bundestagsdebatte aus dem Jahr 1986 zum Thema Pädophilie und häusliche Gewalt. Auf die Zwischenfrage eines CDU-Abgeordneten, wie Frau Künast zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen zur Entkriminalisierung von sexuellen Handlungen an Kindern stehe, fügte sie laut Protokoll hinzu: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“. Der Zwischenruf wurde entkontextualisiert und einem Foto von Künast Folgendes in den Mund gelegt: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“ In den Kommentaren unter diesem Facebook-Post wurde Künast menschenverachtend und insbesondere sexistisch beschimpft (die Äußerungen sind im Beschluss numerisch aufgelistet und brauchen hier nicht zu wiederholt werden).

Um gegen die anonymen Facebook-Nutzer:innen zivilrechtliche Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche überhaupt durchsetzen zu können, musste Künast zunächst gem. §§ 1 Abs. 3 NetzDG, 14 Abs. 3 TMG a.F. Bestandsauskunft bei Facebook verlangen. Facebook darf diese Auskunft aber nur erteilen, wenn es sich um rechtswidrige Inhalte iSv § 1 Abs. 3 NetzDG handelt, zum Beispiel Beleidigungen (§ 185 StGB). Die „Annahme einer Beleidigung nach § 185 StGB“ ist also der „Schlüssel“ zum Auskunftsanspruch, wie das BVerfG anschaulich schreibt (Rn. 29).

Doch das LG Berlin hielt sämtliche Kommentare zunächst für nicht strafbare Meinungsäußerungen. Auf die Beschwerde der Klägerin ordnete es dann per Abhilfebeschluss immerhin sechs Kommentare als Beleidigungen ein und gestattete die Beauskunftung. Das Kammergericht änderte im März 2020 den Beschluss hinsichtlich weiterer sechs Kommentare ab, doch stellte im Übrigen fest: „Die geltende Rechtsordnung und die dazu ergangene Rechtsprechung des BVerfG bieten derzeit keinen Raum für eine Aufwertung des Persönlichkeitsschutzes von Personen des politischen Lebens“ (2. Leitsatz).

Bereits die BVerfG-Beschlüsse vom Mai 2020 zur Beleidigungsdogmatik lassen sich als eine Antwort auf diese Rechtsprechung lesen. In diesen vier Kammer-Beschlüssen hatte das BVerfG die verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Beleidigungsdelikte bereits betont „klargestellt“. Dabei ging es in allen vier Verfahren um Beleidigung von Amtspersonen. Das BVerfG räumte mit dem fachgerichtlich weit verbreiteten Missverständnis auf, es spräche pauschal eine Vermutung für den Vorrang der Meinungsfreiheit und Politiker:innen müssten sich alles gefallen lassen, was nicht gerade Schmähkritik sei. Diese Beschlüsse wurden im letzten Jahr ausführlich besprochen und als besonderen Wink an die Berliner Fachgerichte verstanden.

Nach dem Baukastenprinzip

Nun hat die Kammer des Ersten Senats – inzwischen mit Ines Härtel in neuer Besetzung – die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der verbleibenden zehn Facebook-Kommentare für „offensichtlich begründet“ befunden.

Dabei konnte sie sich am Baukasten ihrer Mai-Beschlüsse bedienen. So setzt sie den Beschluss auch nahezu vollständig aus Satzbausteinen der dort sorgfältig vorbereiteten Maßstäbe zusammen:

Über die wertungsoffenen Tatbestände der §§ 185, 193 StGB strahlen Grundrechte ein, die deren Anwendung und Auslegung im Lichte der Meinungsfreiheit einerseits und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts andererseits erforderlich machen. Diese interpretationsleitende Berücksichtigung der Grundrechte fordert von den Fachgerichten einen Dreischritt: (1.) Erst müssen sie den Sinn der Äußerungen ermitteln. (2.) Dann dürfen sie prüfen, ob eine der drei Ausnahme vom Abwägungserfordernis vorliegt, nämlich eine Schmähkritik, Formalbeleidigung oder Menschenwürdeverletzung. Sind nach gehaltvoller Begründung die strengen Voraussetzungen einer der Ausnahmen erfüllt, dürfen die Fachgerichte also einen Shortcut nehmen – dann, und nur dann darf die Abwägung entfallen. (3.) Andernfalls müssen die Fachgerichte im dritten Schritt sorgfältig zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht abwägen, und zwar unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, die das BVerfG in seiner Bedienungsanleitung aus dem Mai 2020 zusammengeschrieben hat. In dieser Abwägung liegt der Kern jeder fachgerichtlichen Prüfung von § 185 StGB.

Dass das BVerfG diesen Dreischritt in den Mai-Beschlüssen noch einmal so genau erläutert hat, liegt jedoch daran, dass Schritt 3 oft vergessen wird. Viele Fachgerichte wollen so oder so per Shortcut entscheiden: Entweder die Äußerung ist so drastisch, dass eine der Ausnahmen vorliegt – oder sie sei eben hinzunehmen. So auch die Berliner Fachgerichte.

Hierfür hat ihnen die Kammer nun die Leviten gelesen:

Die Kammer kritisiert das „Fehlverständnis hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen“ von § 185 StGB, nämlich die Ineinssetzung von Schmähkritik und Beleidigung. Die Fachgerichte hätten eine Abwägung ankündigt, aber tatsächlich nie durchgeführt (Rn. 42) – ein „praktisch vollständiger[r] […] Abwägungsausfall“ (Rn. 46). Dabei „dispensiert“ das Vorbringen der Klägerin, es handele sich bei der Äußerung um Schmähkritik, „das Fachgericht nicht davon, bei Nichtvorliegen einer besonderen Anforderungen unterworfenen Schmähkritik die einfache Beleidigung, die eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen erfordert, in Betracht zu ziehen und zu prüfen“ (Rn. 45).

Klare Worte findet die Kammer auch für die Art, wie das Kammergericht mit dem Aspekt der Machtkritik umging: „Die vom Fachgericht begründungslos verwendete Behauptung, die Beschwerdeführerin müsse den Angriff als Politikerin im öffentlichen Meinungskampf hinnehmen, ersetzt die erforderliche Abwägung nicht“ (Rn. 47).

Auch die übrigen Ausführungen des Kammergerichts belegten, so das BVerfG, dass es die Frage, ob bei den verfahrensgegenständlichen Äußerungen der für die datenschutzrechtliche Beauskunftung notwendige Straftatbestand des § 185 StGB einschlägig ist, rechtsfehlerhaft am Sonderfall der Schmähkritik beantwortet. Es misst das Vorliegen des § 185 StGB in verfassungsrechtlich relevanter Weise am falschen Maßstab und unterlässt die notwendige Abwägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung der Facebooknutzer“ (Rn. 48).

Leider keine neuen Bausteine

Dogmatisch nutzt die Kammer den Beschluss, um das Verhältnis zwischen Schmähkritik und Beleidigung weiter zu präzisieren: Schmähkritik sei eine „Sonderform“ (Rn. 42) beziehungsweise ein „Sonderfall“ (Rn. 48) der Beleidigung – und eben nicht der einzige Fall. Die Kammer scheidet scharf zwischen „einer – abwägungsfreien – Schmähung“ und „einer abwägungspflichtigen Beleidigung“ (Rn. 44).

Hierbei betont sie nicht nur abstrakt (Rn. 35), sondern auch in der konkreten Anwendung, dass bei der Abwägung „auch zu berücksichtigen wäre, dass ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern auch im öffentlichen Interesse liegt“ (Rn. 47). So stärkt sie die demokratiepraktische Bedeutung von Hassrede.

Bedauerlich ist jedoch, dass die Kammer an keiner Stelle auf die sexistische Dimension der Äußerungen eingeht. Gerade der Fall Künast hätte Gelegenheit gegeben, die gleichheitsrechtliche Leerstelle in der Abwägungsdogmatik zu füllen: Obwohl Hass nicht alle gleich, sondern überwiegend marginalisierte Gruppen trifft, tauchen gleichheitsrechtliche Aspekte in der Abwägung nämlich nicht auf. Dabei ließen sich die gleichheitsrechtlichen Gehalte der widerstreitenden Grundrechte leicht aktivieren. Auf Seiten des Persönlichkeitsrechts würde so jene strukturelle Diskriminierung sichtbar, entlang derer sich Hassrede oft entzündet. Auf Seiten der Meinungsfreiheit würde relevant, dass die Demokratie nicht nur leidet, wenn sich Bürger:innen aus Angst vor staatlichen Sanktionen zurückziehen („chilling effect“) – sondern auch, wenn sie es aus Angst vor privatem Hass tun („silencing effect“). Hierfür bietet die Rechtsprechung des BVerfG auch schon einen Ansatzpunkt, wenn sie auf die demokratiepraktische Relevanz von Hassrede verweist (s.o.). Um einen demokratischen Diskurs in tatsächlich „gleicher Freiheit“ (so das BVerfG schon in Lüth) zu gewährleisten, bräuchte es auch eine dergestalt gleichheitsrechtlich konturierte Abwägung.

Doch der Beschluss bot für diese wichtige Ergänzung wohl keinen Anlass: Mangels fachgerichtlicher Abwägung gab es nichts, was die Kammer hätte nachvollziehen und verfassungsrechtlich schärfen können.

Lektion gelernt

Allerdings scheint das LG Berlin den Wink schon im Sommer 2020 verstanden zu haben. Mit (noch nicht rechtskräftigem) Urteil vom 16.12.2021 (Az. 27 O 195/21) hat dieselbe Kammer wie im Künast-Fall (mit zu 2/3 gleicher Besetzung!) der SPD-Politikerin Sawsan Chebli wegen sexistischer Satire von Roland Tichy ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 € zugesprochen und damit seine zuvor erlassene einstweilige Verfügung (Beschluss vom 3.12.2020, Az. 27 O 388/20) bestätigt.

In einer satirischen Rubrik von „Tichys Einblick“ war Sawsan Cheblis politische Eignung in unmissverständlicher und zugleich sexualisierter Weise auf ihr Geschlecht reduziert worden. Die Kammer, die im Fall Künast noch übelste Beleidigungen durchgewunken hatte, trennte nun sauber zwischen Aussagegehalt und satirischer Einkleidung und zog die Grenze der Meinungsfreiheit mit gleichheitsrechtlich angespitztem Stift:

„Die satirische Einkleidung ist extrem sexistisch und reduziert die Antragstellerin auf ein [sic] Sexobjekt. Damit zielt die Antragsgegnerin darauf ab, der Antragstellerin nicht nur als Politikerin und damit öffentliche Person, sondern losgelöst von ihrem politischen Handeln jeden Achtungsanspruch auch als private Person abzusprechen. Die in dem Intimbereich übergreifende Verächtlichmachung der Antragstellerin durch die satirische Äußerung […] verletzt daher die Menschenwürde der Antragstellerin. Gerade die Darstellung sexuellen Verhaltens, das beim Menschen auch heute noch zum schutzwürdigen Kern seines Intimlebens gehört, dient dazu den Betroffenen als Person zu entwerten, ihn seiner Würde als Mensch zu entkleiden.“

Zwar hat die LG-Kammer keine hilfsweise Abwägung vorgenommen (wie das BVerfG in seinen Mai-Beschlüssen und auch im Künast-Beschluss empfiehlt, dort Rn. 25), doch hat sie präzise festgestellt, dass die sexistische Äußerung den Achtungsanspruch als Gleiche verletzt und eine Abwägung deshalb ausnahmsweise entfallen durfte.

Auch im Fall Luisa Neubauer hat das Landgericht Frankfurt am Main sexistische Beleidigungen als solche erkannt und Schadensersatz in Höhe von 6.000 € zugesprochen.

Fall Künast, nächstes Kapitel

Diese jüngsten fachgerichtlichen Entscheidungen lassen hoffen, dass Fachgerichte im Umgang mit (sexualisierter) Hassrede inzwischen sorgfältiger arbeiten und den vom BVerfG bereitgestellten Baukasten routinierter zur Hand nehmen.

Denn gerade bei Fällen digitaler Hassrede ist es fatal, wenn wie im Fall Künast zwischen der Rechtsverletzung und der Rechtsdurchsetzung fast drei Jahre vergehen – wohlgemerkt: Hiermit ist nach drei Jahren erst die Voraussetzung für die Auskunft geschaffen, die Unterlassens- und Schadensersatzansprüche sind damit immer noch nicht eingeklagt. Jahre, in denen die Hasskommentare stehen bleiben, von einem anonymen Publikum gelesen und geteilt werden können.

Dass Frau Künast – unterstützt von der Organisation HateAid – viel Zeit und Geld in ihre Rechtsdurchsetzung investiert, verdient Beachtung. Denn sie streitet damit nicht nur für ihr eigenes Recht, sondern schafft Präzedenzfälle für all jene Betroffenen, die die nötigen Ressourcen nicht aufwenden können. Hassrede ist nicht nur ein Regulierungs-, sondern vor allem ein Durchsetzungsproblem, und selten ist die Wendung „justice delayed is justice denied“ so treffend wir in Fällen digitaler Gewalt.

Deswegen führen Künast und HateAid schon den nächsten Grundsatzprozess gegen Facebook und haben gerade mündlich verhandelt: Obiges Falschzitat geistert weiterhin als Meme durch Facebook und wird tausendfach geteilt. Mit dem Prozess soll Facebook verpflichtet werden, rechtswidrige Inhalte nicht nur nach Meldung im Einzelfall, sondern proaktiv zu löschen.

Denn für Betroffene ist es eine sisyphusartige Zumutung, immer wieder neue Posts mit demselben, bereits verbotenen Inhalt selbst zu suchen und die Löschung zu beantragen. Facebook/Meta beruft sich dagegen darauf, dass die Löschung rechtswidriger Inhalte angesichts der schieren Masse für das Unternehmen nicht zumutbar sei. Dagegen verfügt Facebook sowohl über die technische Infrastruktur als auch über die personellen Ressourcen, um rechtskräftig rechtswidrige Posts selbst zu identifizieren und zu löschen. Ob dem das Europarecht entgegensteht (was also die genauen Implikationen des Glawischnig-Piesczek-Urteils des EuGH sind), wird in diesem Verfahren zu klären sein. Das Urteil wird noch in diesem Jahr erwartet – und könnte die Lasten neu verteilen.


2 Comments

  1. Hako Sat 5 Feb 2022 at 10:45 - Reply

    Warum wurde die Beschwerde überhaupt vom Bundesverfassungsgericht angenommen?

    Mehr als 3 Viertel aller Beschwerden werden grundlos (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG) vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen (vgl. Jahresstatistik 2020), selbst wenn sie umfangreich begründet sind und sich intensiv mit der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung auseinandersetzen.
    Auf eine 50-seitige Beschwerdebegründung erhält Otto-Normal-Beschwerdeführer nur den lapidaren Satz: “Auf eine Begründung wird verzichtet.”

    Wieso wird bei Prominenten nicht entsprechend verfahren?
    Gibt es beim Bundesverfassungsgericht einen Prominenten-Bonus?

  2. Karsten Gulden Sat 5 Feb 2022 at 11:58 - Reply

    Liebe Frau Bredler, vielen Dank für die vielschichtige Darstellung der Problematiken. Tatsächlich machen es sich die Gerichte mE derzeit noch viel zu einfach und stellen das Funktionieren von Social-Media-Plattformen und Suchmaschinen über alle restlichen Belange der Menschheit. Es wird etlicher, weiterer juristischer und gesellschaftspolitischer Verfahren bedürfen, bis ein Sinneswandel eintreten dürfte. Bis dahin werden sich die Unterinstanzen wohl weiterhin dem ökonomisch ausgerichteten Diktat der bisherigen Rechtsprechung unterwerfen. Mit vereinten Kräften wird ein Wandel vollzogen werden können. Herzlichst, Karsten Gulden aus Mainz.

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