04 February 2022

Objektivitätsillusionen des Verfassungsrechts

Abwehrkämpfe gegen eine kulturtheoretische Befruchtung der Grundrechtsdogmatik

In der Diskussion zwischen Ute Sacksofsky und Klaus Ferdinand Gärditz, an der sich jetzt auch Hans Peter Bull beteiligt hat, treffen zwei grundsätzlich unterschiedliche Weltverständnisse aufeinander. Gärditz nähert sich der Welt und dem in ihr zu beobachtenden Geschehen mit der Konstruktion einer eindeutigen Dichotomie: „Objektivität“, „Wahrheit“ und „Richtigkeit“ auf der einen Seite und „Subjektivismus“, „radikalrelativistische Beliebigkeit“ und „bizarre Esoterik“ auf der anderen Seite. Ein Dazwischen gibt es nicht. Natürlich operiert das Recht für ihn auf der erstbeschriebenen Seite – es kennt (nur) eine gemeinsam geteilte Tatsachenbasis, stützt sich auf wissenschaftlich ausgewiesenes Wissen und verarbeitet Interessen und individuelle Werte. In diesen Operationen ist alles „objektiv“. So gibt es etwa eine „tatsächliche Eingriffswirkung“, und sowohl die eingriffsrechtfertigenden Sachgründe als auch die Gegengründe der Betroffenen sind „objektiv“ vernünftig – oder sie werden vom Rechtssystem zurückgewiesen. Für subjektives Empfinden, subjektive Weltdeutungen und Selbstverständnisse ist kein Raum. Eigentlich ist es eine verarmte Welt, in der die Vielzahl von Sinnsystemen, in denen und mit denen wir leben, keinen Platz haben. Nein, ich war zu schnell: Für die Religion, die „transzendentale Wahrheitsansprüche“ zum Gegenstand habe, wird eine Ausnahme gemacht, aber auch nur für die Schutzbereichsebene. In den Abwägungsprozeduren wird dann aber auch bei Art. 4 GG wieder „objektiv“ entschieden. Die Objektivität der Gesamtoperation wird dadurch gesichert, dass „(b)ei der Gütergewichtung in der Verhältnismäßigkeit (…) die Wertigkeit der jeweils auf dem Spiel stehenden Güter einzubeziehen (ist), die aber verfassungsinhärent angelegt ist (…) .“

Die kulturtheoretisch sensibilisierte Sichtweise Ute Sacksofskys entwirft eine vollständig andere Welt. Sacksofsky stellt nicht in Frage, dass es wissenschaftlichen Wissen gibt, das in den Alltagsoperationen des Rechtssystems sinnvollerweise zugrunde gelegt werden sollte; sie stellt deshalb auch nicht in Frage, dass es Realaussagen gibt, die schlechterdings nicht bestritten werden können. Sie beobachtet aber, dass es eine Vielzahl von Handlungen und sozialen Praktiken gibt, deren Sinn man nur angemessen erfassen und beschreiben kann, wenn man nach den Sinnmustern fragt, die die betroffene Person (und ggf. die beobachtende Gesellschaft) damit verbindet. Die Handlung, seine Haut durchlöchern zu lassen und sich einer pharmakologischen Behandlung unterziehen zu lassen, lässt sich als Heileingriff deuten, mit dem man sich fit macht, vielleicht auch Solidarität mit den Mitmenschen zeigt; sie kann aber auch als schädigender Akt der Intervention der Medizinbürokratie angesehen werden. Die Vorstellung, dass man hier „objektiv“ entscheiden könnte, welches Weltverständnis „richtig“ oder „wahr“ ist, beruht auf einem Kategorienfehler. Da es hier nicht um wissenschaftliches Wissen geht, würde auch der Verweis auf die Wissenschaften nicht greifen. Natürlich kann man in einer solchen Situation versuchen, mit mehr oder weniger starken Worten eine der beiden Deutungen des Impfeingriffs als „irrational“, „esoterisch“ oder unsinnig abzutun. Das ist aber letztlich nur laute Sprachlosigkeit.

Der Protest, der Ute Sacksofsky entgegenschallt, zeigt, welch weiten Weg das Verfassungsrecht zu gehen hat. Der Versuch, die Sinnsysteme zu erschließen und verfassungsrechtlich zu verarbeiten, auf die sich die Akteure (in ihrer jeweiligen Rolle) stützen, beschädigt das Verfassungsrecht nicht, sondern befruchtet es – jedenfalls macht es sichtbar, was sich sonst halt subkutan vollzieht. Dies im Rahmen der Grundrechtsinterpretationspraxis im Hinblick auf das individuelle Selbstverständnis der Berechtigten zu machen, trägt zur Rationalisierung von Anwendungs- und Abwägungsprozessen bei. Sie zerstören nicht „Objektivität“, sondern erschließen Gesichtspunkte und Gründe, die anderenfalls unerschlossen blieben. Um es nochmals zu betonen: Die Sichtweise führt weder dazu, dass die Existenz einer Realwelt in Frage gestellt wird, noch impliziert sie, dass alles nur als „konstruiert“ angesehen wird. Wer sich der Welt so nähert, verfällt auch nicht in einen radikalen Konstruktivismus. Für diese Ansätze ist aber der Versuch, die Welt mit den Kategorien „objektiv“ und „subjektiv“ beschreiben zu wollen, sinnlos geworden.

Der Protest zeigt im Übrigen ein Missverständnis: Die Sichtbarmachung und verfassungsrechtliche Verarbeitung haben (unmittelbar) keinen normativen Anspruch. Es geht allein darum, die Abgründigkeit von Begründungspraktiken aufzuzeigen, die – um auf den konkreten Streit zurückzukommen – bei staatlich angeordneten Heileingriffen mit Kategorien wie „tatsächlicher“ oder „objektiver“ Belastungswirkung operieren. Verfassungspositive Entscheidungen über die Zuteilung von Grundrechtsschutz liegen auf einer anderen Ebene. Dies gilt nicht nur für die Entscheidung darüber, welche Handlungen überhaupt (prima-facie) Schutz erhalten sollen, sondern auch für die Entscheidung über die Gewichtung der grundrechtlichen Geltungsansprüche der Grundrechtsträger. Natürlich präjudiziert die Beobachtung eines bestimmten Welt- oder Selbstverständnisses auf dieser Ebene nicht die Entscheidung. Man kann die Position Ute Sacksofskys normativ in Frage stellen, in der Folge der Beobachtung eines bestimmten körperlichen Selbstverständnisses eine Übergewichtung gegenüber den hinter einer Impfpflicht stehenden Gemeinwohlbelangen vorzunehmen. In der Tat geht es ja auch letztlich (jedenfalls bei einer Diskussion im Verfassungsblog) wieder nur um eine Fremdzuschreibung. Die Menschenrechtspraxis hat sich deshalb längst der Idee der „Authentizität“ geöffnet. Dort ist man längst dazu übergegangen, Menschenrechtsträgerinnen und Menschenrechtsträger persönlich auftreten und ihre Erfahrungen schildern zu lassen. Manches geht hier zu weit – den Allgemeinheitsanspruch des Rechts (nicht: „Objektivitätsanspruch“), den Hans Peter Bull so betont, sollten wir nicht verspielen. Aber das führt über das Thema dieses kurzen Beitrags hinaus. Mein Punkt war allein die Feststellung, dass es schlechterdings unsinnig wäre zu glauben, dass die Grundrechtspraxis dadurch beschädigt würde, wenn man die Augen öffnete und (auch) nach den Sinnsystemen forschte, die eine Grundrechtsträgerin bei der Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit anleiten, und in der Folge zu bestimmen versucht, was das für das grundrechtsgeschützte (!) individuelle Handlungsverständnis bedeutet.


One Comment

  1. Claudio Franzius Sat 5 Feb 2022 at 21:21 - Reply

    Lieber Martin,

    vielen Dank, das sehe ich genauso. Es wäre verfehlt, hier einen Glaubenskrieg anzuzetteln und wenig ratsam, eine so gewaltige Überhöhung der Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv anzunehmen, die in der Grundrechtsdogmatik zu keiner Zeit wirklich gepasst hat. Objektivität, so wichtig sie in unseren Zeiten sein mag, ist bei den Grundrechten ein zweischneidiges Schwert. Deshalb vielen Dank für die gebotene Relativierung, der sicherlich unsere beiden Protagonist:innen zustimmen können, oder?

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