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27 September 2013

Lob der Fünfprozenthürde

Die Fünf-Prozent-Hürde gehört zum Inventar der Bundesrepublik wie die FDP. Nach der Bundestagswahl vom 22. September, so will es scheinen, könnten diese alten Bekannten  bald schon beide im Bonner Haus der bundesdeutschen Geschichte ihre letzte Ruhestätte finden, neben der Strickjacke Helmut Kohls. Seit FDP und AfD sehr knapp an der Sperrklausel scheiterten, seit 15 Prozent der abgegebenen Stimmen auf Parteien entfielen, die den Sprung in den Bundestag verfehlten, ist die Klausel neu in die Kritik geraten. Ihre Gegner geißeln sie als undemokratisches Hemmnis, als Maginot-Linie der etablierten Parteien gegenüber den vielfältigen politischen Strömungen in der deutschen Gesellschaft. Sie rufen nach dem Aggiornamento eines politischen Systems, das in der Tat oft überbehütet und stickig daherkommt.

Im Verfassungsrecht ist der Boden für diese Kritik längst bereitet. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Ausdeutung der Wahlrechtsgleichheit unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechts schon seit einiger Zeit mit deutscher Gründlichkeit radikalisiert. Das gipfelte in der Verwerfung der Fünf-Prozent-Hürde für die deutsche Europawahl in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2011. Vor dem Wahlrecht zu den deutschen Landtagen und dem Deutschen Bundestag hat das Gericht freilich bisher Halt gemacht und die Klausel für die Bundestagswahl vor allem mit der Aufgabe begründet, stabile Regierungen zu bilden. Das muss nicht so bleiben. Verschiebungen im Parteiensystem und Änderungen des Wahlverhaltens könnten dem Gericht als Grundlage dienen, auch hier einen Positionswechsel zu vollziehen.

Wäre das politisch und demokratietheoretisch sinnvoll oder gar verfassungsrechtlich geboten? Die Antwort ist ein klares Nein. Das ist bereits ein schlichtes Gebot politischer Klugheit. Was über lange Jahrzehnte zur hohen Stabilität des bundesdeutschen politischen Systems beigetragen hat, darf man nicht unter dem Eindruck einer einzelnen Bundestagswahl zum alten Eisen werfen. Das Wahlrecht ist in den letzten Jahren schon zu vielen nur halb bedachten Änderungen ausgesetzt worden. Wahlsystem und Wahlverhalten stehen in vielfältigen Wechselbeziehungen zueinander; deshalb muss gerade das Wahlrecht äußerst behutsam gepflegt und fortentwickelt werden.

Das Wahlergebnis vom 22. September spricht auch gerade nicht für die These, die bundesdeutschen Altparteien hätten sich hinter der Klausel eingraben und verschanzen können. Wenn eine Traditionspartei wie die FDP die Hürde verfehlen, ein Neuling wie die AfD diese hingegen aus dem Stand fast überwinden kann, dann zeigt sich das Parteiensystem hier doch eher beweglich als starr und versteinert. Auch der Piratenpartei ist es gelungen, trotz der Sperrklausel in einzelne Landesparlamente zu gelangen. Das Gleiche hat sich in der Vergangenheit bei der Entstehung von Grünen und Linkspartei gezeigt. Es ist sicherlich richtig, dass die Sperrklausel einer neuen Partei einiges abverlangt. Aber einen closed shop errichtet sie heute weniger denn je.

Durchaus merkwürdig ist auch, dass die Klausel genau in dem Augenblick in die Kritik gerät, in dem sie ihren Zweck gerade erfüllt. Wenn das Parteiensystem diffuser wird, wenn vielfältige Kleinparteien in die Parlamente drängen, liegt genau die Konstellation vor, auf welche die Sperrklausel zugeschnitten ist. Die Klausel ermutigt nachdrücklich zur Konzentration des Parteiensystems. Die Stabilität, die das Parteiensystem im  Deutschen Bundestag – der noch 1949 eher gewirkt hatte wie der letzte Reichstag der Weimarer Republik – in den fünziger Jahren rasch gewann, ist maßgeblich ihr Verdienst.

Sie mutet dem Wähler einer neuen oder kleinen Partei das Risiko zu, dass sich seine Stimme in der Zusammensetzung des Bundestages nicht niederschlägt. Sie tastet damit die Ernsthaftigkeit seines Anliegens ab und legt ihm die nachdrückliche Selbstprüfung nahe, ob es für seine Überzeugung oder Interessenlage wirklich einer weiteren Partei im Parlament bedarf. Sie verlangt vom Wähler eine Stimmabgabe, die nicht allein höchstpersönliche Gesinnungen ausdrückt, sondern sich bereits in bescheidenem Maß einem Test auf ihre Verallgemeinerbarkeit unterzieht. Mit anderen Worten: Sie behandelt ihn als Erwachsenen.

Diese Anforderung hat freilich in Deutschland seit jeher einen schweren Stand. Aus der langen Zeit der konstitutionellen Monarchie haben wir die Leitidee geerbt, das Parlament müsse die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt und Buntheit getreulich darstellen und abbilden. Sie stammt aus den Zeiten, in denen das Parlament den herrschenden Monarchen und Bürokratien als Gegengewicht gegenübertrat. Selbstbewusste Bürger denken so nicht. Das Parlament hat nicht allein die Aufgabe, die Pluralität der Gesellschaft auszudrücken; es ist mindestens ebenso sehr der Ort, wo die Bürger durch ihre Repräsentanten zu gemeinsamen Regeln und Orientierungen kommen. Noch stärker ist diese Funktion, Gemeinsamkeit herzustellen, im parlamentarischen Regierungssystem, wo die Regierung auf die Unterstützung der Parlamentsmehrheit angewiesen ist. Der paradoxe Preis dafür, dass die Regierung vom Parlament abhängt, ist die Anleitung der Parlamentsmehrheit durch die Regierung.

Diesen Preis der demokratischen Selbstregierung zahlt man bei uns nicht gern. Vielmehr sehnt jede Gruppe, jedes Interesse sich danach, im Parlament so unverfälscht wie möglich abgebildet zu sein – ähnlich wie sie auch danach trachten, ihr jeweiliges Anliegen im Verfassungstext zur Sprache zu bringen. Das überfordert freilich das Parlament und führt umgekehrt zu der merkwürdigen Gewohnheit der allgemeinen Öffentlichkeit, fast nur die Stimmen in der öffentlichen Debatte teilnehmen zu lassen, die auch im Deutschen Bundestag Sitz und Stimme haben. Die Parlamentswahl fungiert als eine Art Platzanweisung für legitimes öffentliches Sprechen mit der Konsequenz, dass das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde gleichzeitig die Unsichtbarkeit in der öffentlichen Diskussion bedeutet. Hier verbindet sich unsere alten korporatistischen Rituale sehr unglücklich mit den Weimarer Neurosen der bundesdeutschen Anfangsjahrzehnte.

Das eigentliche Problem ist nicht die Fünf-Prozent-Klausel, sondern die allzu starke Verdrängung randständiger Personen, Meinungen und Interessen aus der öffentlichen Debatte, zumal in den öffentlichrechtlichen Medien. Der Herauswurf Rainer Brüderles aus der Bonner Runde führte das noch am Abend der Bundestagswahl in aller Anschaulichkeit vor. Nun muss man die mediale Diskussion sicherlich nicht allein mit einer Vielzahl rechtsextremer Spinner, Computernerds oder eurokritischer Honoratioren auffüllen. Aber es würde der öffentlichen Debatte in der Bundesrepublik guttun, wenn sie einem breiteren Spektrum von Ansichten Raum gäbe, als es die Bundestagsparteien zum Ausdruck bringen können, und unorthodoxe Positionen nicht allein den Untiefen des Netzes überließe. Hier liegt der eigentliche Reformbedarf, und er betrifft die Debattenkultur der Gesellschaft insgesamt.

Wenn die öffentliche Debatte als allzu verriegelt erlebt wird, dann ist die Zugangshürde zum Parlament bei wachsender Pluralisierung der Meinungen und Orientierungen kaum noch erträglich. Es tritt dann der paradoxe Effekt ein, dass sofort in das Parlament hineindrängen muss, wer in der öffentlichen Debatte überhaupt vorkommen will. Die Fünf-Prozent-Klausel strukturiert und kanalisiert die spätere parlamentarische Willensbildung vor. Um so freier, offener und vielfältiger muss aber im Gegenzug die öffentliche Diskussion im vorparlamentarischen Raum sein. Die Zugangshürde verliert ihre demokratische Legitimität, wenn ihr angesonnen wird, zugleich Ideenpolizei des öffentlichen Raums zu sein. Wir brauchen beides: die Hürde und die Debatte!


15 Comments

  1. egal Fri 27 Sep 2013 at 09:35 - Reply

    Mit einer 20 %-Hürde wäre das Regieren sogar noch stabiler!

    Aber Scherz beiseite. Das Problem an der ganzen Geschichte ist ja nicht der Wunsch nach einem stabilen Parlament, das ist ja der Grundkonsens schlechthin. Das Problem viel mehr ist der Maßstab. Und der leitet sich aus der Verfassungs selbst ab, während die Prozenthürde nunmal nur aus einem normales Gesetz herrührt, also jederzeit frei disponibel ist. Insoweit braucht es schon eine besondere Berechtigung, wenn die sich aus der Verfassung ergebenen hohen Standards an Wahlen erfüllt werden sollen.

    Denn schließlich darf man auch nicht vergessen, dass das Wahlrecht letzten Endes den Gewinner bestimmt. Käme die AfD beispielsweise ins Parlament, würden einige Optionen der Regierungsbildung sicherlich wegfallen, obwohl der Wählerwille genauer ausgedrückt wurde, was ja auch Sinn eines Verhältniswahlsystems ist. Die Fünfprozenthürde dann als “guten Kompromiss” zu verkaufen, ist mehr als enttäuschend und das als Prüfstein für die Vermeidung “diffuser” Wählerentscheidungen anzusehen, hat schon starke antidemokratische Züge.

    Denn wer soll nun das Parlament bestimmen, das Wählvolk oder die Regierenden, die mit der Fünfprozenthürde das Angebot der wählbaren Parteien deutlich reduzieren. Es wird ja auch immer wieder betont von den staatstragenden Politikern, welche Stimme verschwendet sei und welche nicht. Gleichermaßen nutzen vor allem die Volksparteien dann die Nichtvertretung der weggefallenen Stimmen zur eigenen Regierungsbildung.

    Bei so einer Konstellation kann man schon mehr als nur Zweifel am demokratischen Ergebnis einer Wahl haben.

    Natürlich kann und vermutlich sollte man Regelungen treffen, damit Kleinstströmungen nicht unbedingt wie eine Volkspartei im Parlament auftreten, aber die gibt es ja derzeit schon, etwa die Unterschiede im Fraktions- und Gruppenstatus. Kann beispielsweise ein freier Abgeordnete, der mal angenommen nur 100.000 Stimmen für einen Sitz benötigt, und ohne Fraktion oder Gruppe im Bundestag sitzt, wirklich soviel Schaden anrichten?

    Das Problem der Koalitionsbildung existiert doch tatsächlich gar nicht, wir haben da momentan ein Luxusproblem, wo sich bestimmte Parteien nicht einigen wollen. Da wird nichts dem System wegen verhindert, alle im Bundestag vertretenen Parteien können miteinander koalieren und wenn mal eine Partei dabei ist, mit der es schwierig ist, dann bleiben sicherlich noch 2/3 der restlichen Sitze für eine Koalition offen. Das zeigt sich beispielsweise aus den Bundesländern, wo Antidemokraten ins Parlament gewählt werden.

    Dass es offenbar großen Bedarf an unterschiedlichen Stimmen hat man übrigens grad erst in der jetzt auslaufenden Legislaturperiode gesehen. Wenn selbst der Bundestagspräsident die Geschäftsordnung biegen muss, damit aus einer Volkspartei nicht nur immer die Ja-Sager rankommen dank des Fraktionsprinzips, sondern auch mal halbwegs kritische Stimmen sprechen sollen, weil diese – auch wegen der Fünfprozenthürde – sonst nicht im Parlament sprechen könnten, sagt das viel über den Zustand unseres parlamentarischen Systems aus.

    Es fehlt nämlich der (konstruktive) Widerspruch und das echte Ringen um eine Lösung statt der schlichten Vorgabe von Ideen aus der Ministerialverwaltung und Fraktionsspitze.

  2. martin Fri 27 Sep 2013 at 09:45 - Reply

    Mit diesem Kommentar bin ich vollständig einverstanden. Fast hätte ich gesagt: Meine Rede… :-)
    In jüngerer Zeit gab es ja eine ganze Reihe von Diskussionen um verschiedene Aspekte des Wahlrechts: negatives Stimmgewicht und Ãœberhangmandate, Wahlbeteiligung und Wahlpflicht, jetzt die Sperrklausel. Dabei spielen, sicherlich zu Recht, Gerechtigkeitsaspekte eine große Rolle. Es spiegelt sich darin aber auch eine für meine Begriffe unverständliche relative Ãœberhöhung der Bedeutung demokratischer Wahlen und Parlamente. Zweifellos sind Parlamente ein Ort öffentlicher Debatten, in denen in der Öffentlichkeit vorhandene Positionen möglichst breit abgebildet sein sollten – aber sie sind weder der einzige Ort öffentlicher Debatten, noch gar wäre das Wahlrecht die vorzüglichste Form, in der Bürgerinnen und Bürger ihre Meinungen kundzutun hätten. Insofern scheint sich in diesen Diskussionen tatsächlich ein vorhandenes Unbehagen abzubilden, dass sich nicht allein politische Entscheidungsprozesse, sondern öffentliche Debatten überhaupt ohne Berücksichtigung diverser partikularer Meinungen ablaufen würden, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da jeder Einzelne jede noch so idiosynkratische Meinung zu jedem beliebigen Thema leichter denn je einer breiten Öffentlichkeit vortragen kann. Mir ist das im Grunde unverständlich. Gewiss ist das Wahlsystem nicht in Stein gemeißelt und gegebenenfalls sollte man es auch ändern. Aber doch bitte nicht überstürzt und nicht aus der Vorstellung heraus, dass alles – nicht nur das politische Entscheiden, sondern auch das öffentliche Debattieren – an Wahlen hinge.

  3. Hans-Werner Hilse Fri 27 Sep 2013 at 11:02 - Reply

    Der Artikel strotzt voller Prämissen, für die aber jede Evidenz fehlt. Es wird einfach nur das liebgewonnene Vokabular dekliniert, ohne die wirklich wichtige Leistung zu erbringen, es zu hinterfragen. Ich möchte an einem sehr grundsätzlichen Punkt ansetzen: “Was über lange Jahrzehnte zur hohen Stabilität des bundesdeutschen politischen Systems beigetragen hat, darf man nicht unter dem Eindruck einer einzelnen Bundestagswahl zum alten Eisen werfen.” – Nun, wie hat es denn beigetragen? In welcher Legislatur (sagen wir mal nach den ersten zehn Jahren, in denen die Fünf-Prozent-Hürde ja noch nicht da bzw. durch Direktmandat-Bruch leichter, aber nicht leicht, zu überwinden war) hätte denn nicht trotzdem eine Koalition mit zwei Parteien zustandekommen können? Ich habe es nicht en detail durchgerechnet, aber viele Jahre können es kaum gewesen sein.

    Ich kaufe das Argument der Instabilität nicht ab. Die ergibt sich auch anders durch politische Verhältnisse. Der Glauben, dass eine Gesellschaft durch wahlrechtliche Abstriche in Sachen Representativität vor Zersplitterung bewahrt werden kann, blendet viel aus und fokussiert sich zu sehr auf den Ausschnitt Parlament.

    Die Fünfprozenthürde mag eine Einrichtung sein, die durch das programmatische Aneinanderketten von Volksparteien zu einer politischen Behäbigkeit führt (“keine Experimente!”). Und das scheint mir auch der Subtext vieler Proponenten zu sein. Stabile Politik ist auch eine Form von “Stabilität”, aber die lässt sich schwieriger begründen als eine vorgebliche Schwierigkeit, stabile Regierungen zu bilden.

  4. Johannes Fri 27 Sep 2013 at 11:03 - Reply

    Interessant, dass Professor Schönberger sich an einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Durchbrechung der Wahlrechtsgleichheit hier nicht einmal mehr versucht, sondern in den Bereich „politischer Klugheit“ abdriftet. Schon dieser Begriff deutet an, dass der Autor einem konservativen politiktheoretischen Grundverständnis verhaftet ist, das in der alten Bundesrepublik sogar das Mehrheitswahlrecht rechtfertigte. So scheint es kein Zufall, dass er noch immer von einer „Bonner Runde“ spricht, obwohl die gefühlt seit Jahrzehnten (de facto: seit 1999) anders heißt.

    Dazu passt auch das uneingeschränkte Lob der „Stabilität“, als sei dieser Gesichtspunkt nicht mindestens ambivalent, jedenfalls aber nur einer unter mehreren bei der Bewertung eines politischen Systems. (Historisch dürfte es übrigens schwer vertretbar sein, die Konzentration im bundesrepublikanischen Parteiensystem der 50er Jahre maßgeblich auf die 5%-Klausel zurückzuführen. Als wichtigere Faktoren des Erfolgs der CDU auf der rechten Seite drängen sich das „Wirtschaftswunder“ und die Persönlichkeit Adenauer auf; links war die langjährige Verfolgung der Parteikommunisten mitentscheidend.) Dass sich laut Professor Schönberger nur als „Erwachsener“ verhält, wer große Parteien wählt (und dass massenhafte Zustimmung – ausgerechnet in Deutschland – ein Ausdruck von „Verallgemeinerungsfähigkeit“ einer Position sei), wirft schließlich schlechtes Licht auf sein Verständnis von Pluralismus und Minderheitenschutz.

  5. Rensen Fri 27 Sep 2013 at 12:02 - Reply

    Erfordert eine sowohl stabile als auch handlungsfähige Regierung unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik nicht eine aus einer geringen Zahl von Koalitionspartnern bestehende parlamentarische Mehrheit?

    Verringert eine größere Zahl von Koalitionspartnern nicht entweder die Handlungsfähigkeit oder die Stabilität einer von einer parlamentarischen Mehrheit abhängigen Regierung?

    Erfordert nicht die Selbstbestimmung als hinter dem Demokratieprinzip stehende ratio in der parlamentarischen Demokratie ein ebenso handlungs- wie regierungsbildungsfähiges Parlament?

    Welche Chancen bestehen gerade für langfristige politische Ziele, wenn Regierungen, und zwar auch die (nach eigener Vorstellung) guten Regeriungen, entweder instabil oder handlungsunfähig sind?

    Noch haben wir ein handlungsfähiges Parlament, können eine Regierung abwählen und dadurch jedenfalls in gewissem Umfang einen Politikwechsel herbeiführen.

  6. Stephan Fri 27 Sep 2013 at 12:48 - Reply

    Für mich passt eine starre Sperrklausel nicht zu den Wahlrechtsgrundsätzen. Wo 5 Millionen Zweitstimmen verloren gehen können, spricht dies weder für eine allgemeine, unmittelbare, freie noch für eine gleiche Wahl. Und wenn es “nicht allein auf höchstpersönliche Gesinnungen” ankommen soll, können wir uns das “geheim” auch gleich schenken? Bedenkliche Worte für einen Juraprofessor!

  7. Aufmerksamer Leser Fri 27 Sep 2013 at 13:02 - Reply

    Ich möchte mich bei Herrn Schönberger für den sehr klugen Beitrag bedanken!
    Die pöbelnden Kommentare sollte man nicht zu ernst nehmen. Insoweit bin ich zu 65 % sicher, dass sie nicht von Richtern des Zweiten Senats unter Pseudonym verfasst worden sind (ausgenommen, wie meist, Herr Rensen).

  8. Hans-Werner Hilse Fri 27 Sep 2013 at 13:48 - Reply

    @Rensen: Und wo wäre in der Vergangenheit jemals die Regierungsbildungsfähigkeit gefährdet gewesen, wenn die Fünfprozenthürde nicht da gewesen wäre? Es wäre jedes einzelne mal trotzdem Raum für “eine aus einer geringen Zahl von Koalitionspartnern bestehende parlamentarische Mehrheit” gewesen.

    Übrigens haben wir durchaus schon äußerst instabile Regierungen erlebt, die aus lediglich zwei Koalitionspartnern bestanden haben.

  9. Matthias Fri 27 Sep 2013 at 14:02 - Reply

    Sehr guter Artikel! I.Ãœ. kann man wohl schlecht Ergebnisse der letzten (oder der ersten bundesrepubklikanischen) Jahre einfach durchrechnen und dann denken, zu klaren Ergebnissen zu kommen. Man müsste eben auch berücksichtigen, dass die 5%-Hürde durchaus “Vorwirkungen” in dem Sinne entfaltet, dass auf kleine Splitterparteien eben schon weniger Stimmen entfallen.

  10. Rensen Fri 27 Sep 2013 at 14:53 - Reply

    @Hans-Werner Hilse:

    1. Wenn man wissen will, wie die Lage in der Vergangenheit ohne Sperrklausel gewesen wäre, kann man schon wegen der von Matthias angesprochenen Vorwirkungen einer Sperrklausel nicht ohne weiteres und einfach das Wahlergebnis nehmen und die Sperrklausel wegdenken. U.U. hätten schon die Parteienlandschaft und hätte auch das Wahlverhalten vollkommen anders ausgesehen, wenn man nicht einen Erfolgswert “0” bei der Wahl bestimmter Parteien zu befürchten gehabt hätte. Auch hätte sich evtl. die für eine Regierungsbildung in Frage kommenden Fraktionen im Bundestag im Zuge von Sondierungen, Koalitionsverhandlungen usw. anders verhalten. So zu argumentieren, bringt also überhaupt nichts: Es gibt kein “Reagenzglas” mit einer Vergangenheitsvariante “B”.

    2. Zieht man hingegen die Gegenwart zu Rate, lassen sich interessante Hinweise gewinnen: Man sieht doch gerade sehr schön, wie schwer sich die potentiellen Koalitionspartner tun und wie leicht SPD und Grüne auf die Verantwortung des jeweils anderen für eine Regierungsbildung verweisen. Es fällt nicht schwer, das Verhalten von Parteien und Fraktionen zu prognostizieren, wenn ein Wahlergebnis noch mehr Parteien zum Einzug in den BT verhilft und noch mehr Alternativen in Betracht kommen, auf die verwiesen werden kann.

  11. Lurker Sat 28 Sep 2013 at 15:19 - Reply

    Dass das politische System einer gewissen Stabilität bedarf und eine x%-Hürde daher gerechtfertigt werden kann, lässt sich vielleicht noch gut begründen – dass der Wähler aber “erzogen” werden darf (oder sogar muss?) und nur dann “erwachsen” ist, wenn er vom Gesetzgeber zum antizipierten Konsens gemaßregelt wird (anstatt diese Frage den Koalitions- bzw. Sachverhandlungen zu überlassen), ist infam.

  12. Meier Hans Sun 29 Sep 2013 at 23:28 - Reply

    Der Stellungnahme von “Lurker” schließe ich mich an.
    Es wirkt für meinen Eindruck sehr unerfreulich und autoritär, wenn ein Verfassungsrechtler das Volk, den Bürger zum Erziehungsobjekt des Staates erklärt.
    Wenn uns die repräsentative Demokratie stets gegenüber der direkten angepriesen wird, so soll sie wenigstens wirklich “repräsentativ” sein.
    Im Ãœbrigen befindet sich der Autor im Gegensatz zum Grundgesetz, das in Art. 38 “gleiche Wahlen” garantiert.
    Es tut dies keineswegs unter Vorbehalt, etwas mit einer Klausel wie “Die Gleichgewichtung der Stimmen kann eingeschränkt werden, wenn dies der Verringerung der Anzahl der im Bundestag einziehenden Parteien und damit der Erleichterung der Regierungsbildung dient.”
    Eine solche Klausel steht dort nicht. Sie wird aber permanent suggeriert. Das ist für mich eine unseriöse Gesprächsführung.

  13. Maximilian Steinbeis Mon 30 Sep 2013 at 11:57 - Reply

    @Meier Hans: Die Formel, dass die Wahlrechtsgleichheit angesichts des Zwecks der Wahl, ein handlungsfähiges Parlament zu produzieren, eingeschränkt werden kann, gehört, ob man sie nun mag oder nicht, seit fast 60 Jahren zum festen Repertoire der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung. Das sollte man zumindest wissen, bevor man anderen “unseriöse Gesprächsführung” vorwirft.

  14. Lurker Tue 1 Oct 2013 at 10:30 - Reply

    @Maximilian Steinbeis:

    Ich habe den leisen Verdacht, daß der von Ihnen gerügte Kommentator eine konkrete Vorstellung von der ständigen Rechtsprechung des BVerfG hat….

    Unabhängig davon: Auch wenn eine Hürde gerechtfertigt werden kann, sollte dabei nicht vergessen werden, dass sie die (begründungsbedürftige) Ausnahme von der Regel ist – und nicht der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt, der sich in der Tat unmittelbar aus Art. 38 I GG ergibt. Ob die Begründung des BVerfG jemals überzeugt hat und auf dem heutigen Stand der Bundesrepublik noch überzeugen kann , muss daher jeweils diskutiert und begründet werden.

  15. AB Wed 2 Oct 2013 at 14:51 - Reply

    In der Debatte klingt eine ziemliche deutsche (im Gegensatz z.B. zur britischen) Tendenz an: Sobald man mit dem Ergebnis eines Wettbewerbs nicht einverstanden ist, will man die Regeln ändern, anstatt die Strategie in Frage zu stellen. Oder anders ausgedrückt: Stets wird das materiale gegenüber dem prozeduralem Element betont. Man könnte sich auch die Frage stellen: Verzerrt das Wahlrecht (genauer: die 5%-Hürde) den Wettbewerb? Bei einer 10% (siehe Türkei) spräche viel für eine solche Annahme. Die 5%-Hürde ist nicht unüberwindbar. Das Beispiel der Fusion von WASG und PDS zur LINKEN zeigt einen gangbaren Weg auf – auch z.B. für FDP und AfD.
    Die 5%-Klausel ist in einer historischen Situation entstanden und hat seither Bestand, auch wenn die Ursprungssituation längst nicht länger besteht. Pfadabhängigkeit nennt man dies in den Sozialwissenschaften. Schlecht ist es deswegen nicht ohne weiteres.
    Eine perfekte Regelung wird man sowieso nicht finden, wenn man Prinzipien der Mehrheits-, und Verhältniswahl mit dem Bundesstaatsprinzip unter einen Hut bringen will. Man kann deswegen auch mit guten Gründen das BVerfG-Diktum zu Überhangmandaten als unangemessen erachten. Denn auch diese sind letztlich nur eine Kosequenz aus jenem Trilemma und an sich gut vertretbar. Unter einer Verfassung ist viel Platz, wenn man nur etwas Vertrauen in den politischen Wettbewerb hat.

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