(K)ein Mythos? – Unsere Abhängigkeit vom russischen Gas
Um es vorweg zu nehmen: Russland bleibt zumindest auf mittlere Sicht das Rückgrat der Energieversorgung in Europa. Zwar existieren Puffer, sollten Lieferungen über die Ukraine ausfallen, doch ansonsten bestehen kurzfristig nur wenig Alternativen. Mittel- bis langfristig hat Europa aber Möglichkeiten zu diversifizieren.
Eigentlich gebietet es die ökonomische Vernunft, den politischen Konflikt nicht auf die Wirtschafts- und die Energiebeziehungen zu verlagern. Dennoch ist die Sorge groß, dass die Krim-Krise, die Gefahr militärischer Eskalation und eine weitere Destabilisierung der Ukraine die Gaslieferungen an und durch das Land beeinträchtigen könnten. Auch könnte sich die wechselseitige Eskalationsspirale von Sanktionen und Gegenreaktionen zwischen Russland und dem Westen auf den Energiehandel ausdehnen. Weder Russland noch die EU kann ein Interesse daran haben, die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu gefährden. Allerdings stehen ökonomische Interessen politischen heute diametral entgegen. Das heisst aber auch, dass man auf der einen oder anderen Seite einen eventuell schmerzhaften „Trade-off“ machen muss.
Russlands Energie an die EU
Russland ist Europas Hauptenergielieferant. Etwa 30 Prozent der EU-Gasversorgung kommt aus Russland. Deutschlands Abhängigkeit liegt mit etwa 36 Prozent noch höher. Andere Mitgliedsstaaten sind gar zu 100 Prozent abhängig.
Doch auch für Russland machen Öl und Gas fast 70 Prozent der russischen Exporte aus. Die Hauptmengen gehen nach Europa. Russland wäre vor allem finanziell von einer Einschränkung des Energiehandels betroffen, in einer Situation, in der sich das Wachstum ohnehin sehr abgeschwächt hat. Es wäre nicht unmittelbar für die Bevölkerung spürbar, aber die Oligarchen und ihre Konzerne würden die Folgen spüren. Erdgas trägt nur mit ungefähr 5 Prozent zum Staatshaushalt bei. Die Erlöse aus dem Ölsektor stehen für knapp 50 Prozent und sind für das Staatsbudget wesentlich wichtiger.
Zwischen Russland und der EU bestehen weitreichende Verflechtungen entlang der gesamten Lieferkette. Diese Position bedarf verstärkter Beobachtung und effektiver Kontrolle, zumal in der aktuellen Situation, denn die Gazprom hat wichtige Assets im europäischen Markt übernommen. Aber auch westliche Firmen haben in Russland ein zentrales Standbein ihrer Förderaktivitäten und ihre Marktposition hängt nicht unwesentlich von diesen Geschäftsaktivitäten ab.
Substitutionsmöglichkeiten und alternative Bezugsquellen
Einen Ausfall der Gaslieferungen durch die Ukraine könnte die EU kurzfristig (etwa drei Monate) wohl weitgehend abfangen, für die Ukraine sähe die Situation ungleich schwieriger aus. Es ist kein unwahrscheinliches Szenario, dass Russland seine Gaslieferungen an die Ukraine nutzen wird, die Regierung in Kiew unter Druck zu setzen. Das folgt dem Muster der Krisen von 2006 und 2009.
Durch das Land verläuft der größte Transportkorridor für russisches Gas nach Europa. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur wurde die Hälfte der russischen Erdgasexporte von 160 Mrd. Kubikmetern über die Ukraine nach Europa geleitet. Alternative Transportmöglichkeiten bieten Nord Stream Pipeline mit 55 Mrd. Kubikmetern, die Jamal-Pipeline mit 33 Mrd. Kubikmetern und die Blue Stream in die Türkei mit 16 Mrd. Kubikmetern Kapazität. Außerdem sind die Gasspeicher sind wegen des milden Winters allerorts gut gefüllt. Das frei handelbare Spot-Markt-Angebot beim LNG ist momentan auch eher knapp. Dennoch wären Südosteuropa und auch Italien betroffen, weil Umleitungsmöglichkeiten fehlen.
Kurzfristig nicht zu ersetzen – Langfristig aber Alternativen
Eine breite Diversifizierung ist nur schrittweise möglich und dauert je nach Option Jahre oder gar mehr als eine Dekade, wollte man den russischen Anteil signifikant verringern.
Trotz der Fracking-Revolution in den USA hat Russland sich als größter Energieexporteur weltweit behauptet. Russland fördert knapp 13 Prozent des Erdöls und weit über 17 Prozent des Erdgases weltweit. Europa hätte im Falle von Lieferkürzungen das Nachsehen, da es einen Großteil des benötigten Öls und Gases aus Russland bezieht. Andere wichtige Konsumentenländer haben ihre Hauptlieferanten im Mittleren Osten oder verfügen wie die USA wegen der Fracking-Revolution über einen veritablen Puffer gegen externe Energiekrisen sowie relativ niedrige Energiepreise.
Mittelfristig bestehen wenig Alternativen: Auf dem zu über 80 Prozent pipelinegebundenen Gasmarkt spielen die traditionellen Lieferländer Norwegen, Russland und Algerien weiterhin eine Schlüsselrolle. Allerdings ist Algeriens Förderplateau überschritten und die Nachfrage in ganz Nordafrika steigt rasant. Norwegen hat gewisse Spielräume, aber auch hier gibt es Grenzen. In Uk, den Niederlanden und Deutschland wird immer weniger eigenes Erdgas gefördert. So wächst die Importabhängigkeit und die Chancen, auf Krisen flexibel mit erhöhter Inlandsproduktion zu reagieren, sinken drastisch.
Mit dem Fukushima-Nachfrageeffekt 2011 hat sich die Angebotssituation für LNG in der EU wieder verengt. Zwar kann als sicher gelten, dass sich ab 2016/17 das LNG-Angebot sukzessive verbessern wird, wenn vor allem US-amerikanisches und australisches LNG auf die Märkte kommt, so dass 2020 der relative Lieferengpass überwunden sein dürfte. Aber auch dieses Gas müsste teuer bezahlt werden, denn am asiatischen LNG-Spotmarkt erzielt man heute Preise von 19 US-Dollar per MBtu, in Europa nur 10,50 US-Dollar. Viel hängt also von der Nachfrageentwicklung in Asien ab. Übrigens drängt auch Russland mit LNG- und Ölexporten auf den ostasiatischen Markt.
Potentiell hat Europa ein reiches Erdgasangebot in der Nachbarschaft (Östliches Mittelmeer, Kaspischer Raum, Afrika). Diese Felder müssen jedoch erschlossen und mit der nötigen Transportinfrastruktur angebunden werden. Hinzu kommen Möglichkeiten Deutschlands und der EU, das System robuster zu machen, nämlich durch Energieeinsparungen, mehr Effizienz und einen breiten Energiemix. Ambitionierte Klimaziele sollten dafür als Hebel genutzt werden. Nicht zuletzt müssten der Wärmesektor und der Transportsektor in den Umbau des Energiesystems einbezogen werden. Um mehr Resilienz des europäischen Gasmarktes zu erreichen, müsste weiter in Richtung strategische Speicherkapazitäten, klare Verantwortlichkeiten, Anbindung von LNG-Terminals, aber auch eine leichtere Umsetzung integrierter strategischer Förder- und Transportprojekte gearbeitet werden. Dazu wäre ein europäischer Konsens nötig.
Fazit und Empfehlungen
Das Verhältnis zu Russland und die russisch-ukrainischen Gaskonflikte waren für gemeinsame Außen- und Energiepolitik stets Dreh-, Angel- und Streitpunkt. Es läuft auf vor allem auf zwei Fragen hinaus: Welche Rolle soll Gas noch im Energiemix der EU spielen (ein wichtiger Punkt für die Eindämmung klimaschädlicher Emissionen)? Wie soll die EU gegenüber der Putin-Administration agieren vor dem Hintergrund, dass Russland eigentlich ein strategischer Partner für die Beilegung internationaler Krisen ist, Energiesicherheit nur kollektiv erreicht werden kann und eine Dekarbonisierungspartnerschaft mit Russland der Verminderung des CO2-Ausstoßes dienen würde? Sauberem Erdgas haftet nun wieder der Ruch der Geopolitik an. Das wird die Debatte um die Klima- und Energieziele 2030 beeinflussen. Diversifizierung ist geboten, wird aber kostspielig sein und ist nur im europäischen Verbund zu leisten. Diversifizierung brächte auch die Dividende eines erweiterten außenpolitischen Handlungsspielraums mit sich.
Dieser Text basiert auf SWP-Aktuell 11/2014.
[…] (K)ein Mythos? – Unsere Abhängigkeit vom russischen Gas Sanktionen gegen Russland zu verhängen würde wegen der Abhängigkeit Europas vom russischen Gas die Energiewende in Gefahr bringen. Stimmt das überhaupt? […]