This article belongs to the debate » Der Klimabeschluss des BVerfG
19 May 2021

Administrierte Freiheitschancen

Klimaneutralität als alternativloses Ziel politischen Handelns hat jetzt das höchstrichterliche Plazet. Auf dem Weg dorthin muss der Gesetzgeber die emissionsgebundenen Freiheitschancen periodisch portionieren. Nur so wird Freiheitsausübung nach dem Windhundprinzip vermieden. CO2-Guthaben als Kontoauszug für Restfreiheiten mündet damit in einen Grundrechtsschutz, der dem eines Teilhabegrundrechts gleicht, geht es doch um faire Anteile an den durch völkerrechtliche Selbstbindung schrumpfenden Emissionsfreiheiten. Zugleich befördert die neue intergenerationale Vorwirkungsdogmatik einen klimapolitischen Unilateralismus, der so manche ökonomische Binsenweisheit in den Wind schlägt: Trittbrettfahren und carbon leakage werden bei unilateralem Vorpreschen noch für klimapolitische Ernüchterung sorgen.

Mustergültig sputet sich der Gesetzgeber, den klimapolitischen Gürtel nicht nur länger, sondern auch enger zu schnallen. Angetrieben von den Sporen des Gerichts sind ein legislatives laisser-faire, eine gesetzgeberische Abstinenz keine Handlungsoption für den aktiven Umweltstaat. Er darf den Klimawandel nicht „tatenlos hinnehmen“ (Rn. 185); muss die Gesellschaft zur Klimaneutralität transformieren (Rn. 248); hat durch hoheitliche Emissionsreduktionspfade den Marktteilnehmern Planungssicherheit und Entwicklungsdruck zu vermitteln (Rn. 249). Vor Freiheitsbeschränkungen darf der aktive Umweltstaat nicht zurückschrecken: Je weiter der Klimawandel voranschreitet, umso mehr muss er Freiheitsbetätigungen zurückdrängen (Rn. 185). Das Gericht räumt auf mit einer Marktgläubigkeit, dem Klimawandel sei allein durch sich von selbst entfesselnden Technologieschüben beizukommen. Stattdessen findet sich der Gesetzgeber in der Rolle eines CO2-Budgetverwalters wieder, der jeder Dekade auf dem Weg zur Klimaneutralität ein gerechtes Stück vom schrumpfenden CO2-Kuchen zuweisen soll.

Hoheitlich gesteuerte Teilhabe statt privater Haftung

Schaltet und waltet der Gesetzgeber als intergenerationaler Verteiler von Freiheitsoptionen lohnt es sich, die dogmatische Ableitung der Schutzpflichten aus der objektiven Funktion der Grundrechte zu hinterfragen. Steht hinter der Verteilungslogik nicht vielmehr ein Teilhabegedanke und damit ein grundrechtliches Teilhaberecht? Schließlich geht es doch um faire Aufteilung der Freiheitsäquivalente aus dem CO2-Restguthaben. In der Logik eines derivativen Teilhaberechts hätte der Gesetzgeber durch die völkerrechtliche Selbstbindung an das 1,5-Grad Ziel und das äquivalente CO2-Budget ein hoheitliches Leistungssystem geschaffen, aus dem der Grundrechtsträger bedient werden will. In der Dogmatik der Teilhaberechte weitergesponnen wäre der Gesetzgeber aufgrund des knappen CO2-Budgets verpflichtet (und spiegelbildlich der Grundrechtsträger berechtigt), eine sachgerechte, mehr oder wenige gleichmäßige Verteilung vorzunehmen.

Hinter dem Rollenverständnis des hoheitlichen Verwalters über knapper werdende Freiheitsanteile verschwimmt aber auch die originär private Konkurrenzsituation um CO2-Emissionsrechte. CO2-Emissionen als ausgeübte Freiheitsoptionen sind private, keine hoheitlichen Entscheidungen. Positive Emissionsfreiheit heute ist negative Emissionsfreiheit morgen und umgekehrt. Der Gesetzgeber tritt – verfassungsrechtlich in Stellung gebracht durch Art. 20a GG – lediglich als hoheitlicher gatekeeper zwischen die auf der Zeitachse konkurrierenden CO2-Emittenten. In seiner freiheitsallozierenden Mittlerrolle absorbiert er somit die Zuweisungsverantwortung der von Privaten ausgehenden CO2-Emissionen wie auch die daraus resultierende politische Verantwortung, ein knappes Gut fair zu verteilen. Gegenüber den Emittenten ist er einerseits zur CO2-Repression verpflichtet, gegenüber den Grundrechtsträgern aber gleichzeitig zur minimalen Freiheitsinvasion angehalten. Eine Zwickmühle, denn Emittenten verklagen ihn auf Basis von Handlungs- und Berufsfreiheiten; und Jungkläger belangen ihn für die Verkürzung ihrer zukünftigen Freiheiten.

Diese Hochzonung der Grundrechtskonkordanz auf die staatliche Ebene wäre entbehrlich und könnte stattdessen dem Zivilrecht zum Interessenausgleich zugewiesen werden, wenn sich das anthropogene Phänomen in eindeutige Ursache-Wirkung-Beziehungen aufdröseln ließe. Die Klage eines peruanischen Bauern gegen den Energiekonzern RWE vor einem Zivilgericht ist so spektakulär wie voraussichtlich aussichtslos – auch wenn die Richter des Oberlandesgerichts Hamm zur Beweisaufnahme die Reise nach Südamerika antreten, werden sie die Kausalbeziehung und Zurechenbarkeit zwischen Kohlekraftwerken und schmelzenden Gletscherkappen vermutlich vergeblich suchen. Solange das spiegelbildliche Verhältnis von Freiheitsausübung und Freiheitsbeeinträchtigung unscharf bleibt (und solange man sich in der Gewaltentrias keine aktivistische Judikative wünscht), muss sich der Gesetzgeber mit seiner Rolle als Administrator von Freiheitschancen abfinden.

Wider die ökonomische Kooperationslogik

Wenn die Euphorie über die verfassungsrechtliche Verfestigung eines CO2-Abbaupfades in globaler Klimabetrachtung doch irgendwann in Ernüchterung umschlagen sollte, dann auch weil das Gericht die rechtliche Innovation mit ökonomischer Naivität bezahlt. Es ist die Verve, mit der das Gericht Deutschland zur klimapolitischen Pionierrolle aufruft, die so mancher ökonomischer Gewissheit zuwiderläuft: Dass Umweltschutz als Öffentliches Gut mit einem free-rider Problem behaftet ist und andere Staaten einlädt, sich auf den klimapolitischen Bemühungen des Vorreiters auszuruhen – ficht das Gericht nicht an. Dass carbon leakage unilaterale Klimaschutzpolitik entweder unwirksam oder gar kontraproduktiv werden lässt, weil CO2-intensive Produktion ins Ausland abwandert – lässt das Gericht unter den Tisch fallen. Wenn Deutschland aber weniger Öl und Kohle verbraucht, fällt der Weltmarktpreis und die Nachfrage nach fossilen Energieträgern in anderen Ländern steigt – damit haben diese Länder noch weniger Anreiz zur klimapolitischen Kooperation.

Worauf das Gericht stattdessen Deutschlands heroische Rolle des klimapolitischen Pioniers stützt, ist eine benevolente, aber spieltheoretisch fragile Attitüde. Geleitet von einer Reputationskostenlogik müsse das Pariser Abkommen aus Sicht der Richter strikt umgesetzt werden, um „für andere Staaten keine Anreize zu setzen, dieses Zusammenwirken zu unterlaufen“ (Rn. 203). Doch selbst ein völkerrechtlich verbindliches Paris-Abkommen sichert – bei gleichzeitig frei wählbaren Länderzielen und ohne Sanktionsinstrument – keine synchronen Klimaschutzbemühungen. Schon gar nicht, wenn unilateralen Klimaschutzpionieren durch ihr Vorpreschen wirtschaftliche Marktanteile abgeluchst werden können. Zu hoffen bleibt da nur, durch die klimapolitische Vorreiterrolle technologische spillover-Effekte auszulösen und damit die Kosten der CO2-Reduktion auch in anderen Ländern zu senken – mit der Folge, dass es sich für diese Länder (zB China oder Indien) lohnt, verstärkt in Klimaschutz investieren.


One Comment

  1. Michael Ott Tue 21 Sep 2021 at 19:45 - Reply

    Interessante Argumentation, allerdings hinkt ihr Argument bzgl. des sinkenden Weltmarktpreises von Kohle und damit verbundener steigender Nachfrage. Denn wenn feststeht, dass die Kohlevorräte der Erde nicht vollständig aufgebraucht werden dürfen, um dem Klimawandel Einhalt zu gebieten (und das steht fest), dann ist es eine zwangsläufige Folge, dass 2050 noch viel Kohle vorhanden, aber keine Nachfrage mehr gegeben ist, also der Weltmarktpreis völlig (!) zusammenbricht. Das ist unvermeidbar. Die Herausforderung ist daher, alle Akteure zu überzeugen, diese billige Energiequelle dann nicht mehr zu nutzen. Es wäre aber vor diesem Hintergrund falsch, das zum Scheitern verurteilte Ziel eines hohen Weltmarktpreises zu verfolgen und mit dieser Begründung weiter Kohle zu verbrennen.

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