Agora GmbH & Co KG: wenn Versammlungsfreiheit Privateigentum sticht
Es waren fast apokalyptische Bilder, die eine groß angelegte Anti-Kohle-Demonstration in Garzweiler produzierte. Da durchpflügten Polizisten auf weißen Offroadjeeps eine weite Mondlandschaft und versuchten so, den weit verstreuten Demonstranten beizukommen. Diese wiederum kletterten auf riesige Bergbaumaschinen oder entwichen ihren Häschern, indem sie ihrerseits die Weite des Feldes mit verschieden Marschformationen nutzten. Über den Köpfen kreisten die Polizeihubschrauber. So nah kommt Polizeiarbeit in Deutschland wohl selten einer Mad-Max-Ästhetik. Anschließend wurde von um die 800 Strafanzeigen (vor allem wegen Hausfriedensbruchs) gegen die Demonstranten berichtet. Auch die Medienvertreter wurden von der Polizei zeitig des Feldes verwiesen. Vielleicht sind uns deswegen auch die wirkmächtigsten Bilder entgangen. Jedenfalls wurde das brutale Vorgehen der Polizei, wie es von den Demonstranten und einem Mitarbeiter des ebenfalls eingesetzten privaten Sicherheitsdienstes bemängelt wurde, auf diese Weise vielleicht nicht mehr ganz so umfänglich bebildert.
Was hier an dem Fall thematisiert werden soll, sind jedoch nicht die Fragen der Reichweite des Demonstrationsrechts in vertikaler Dimension. Es soll vorliegend also nicht vertieft werden, dass viele Aktionen der Demonstranten bewusst die Grenzen einer rechtmäßigen Demonstration überschritten und damit zu Recht von der Polizei gestoppt wurden. So darf man natürlich grundsätzlich nicht einfach einen kritisierten Betrieb lahmlegen, und selbstverständlich kann Gewalt gegen Polizisten nie vom Versammlungsrecht geschützt sein. Vielmehr ist hier die Demonstrationsfreiheit, als Konkretisierung der Meinungsfreiheit, auf ihre geistige Überzeugungskraft angewiesen (auch wenn man damit allein natürlich nicht so leicht in die Tagesschau kommt).
Eine spannendere Frage ist hier aber, wie weit die Demonstrationsfreiheit horizontal reicht. Wer ist wo an Art. 8 GG gebunden? Und hierfür bietet der Garzweiler-Protest ein anschauliches Beispiel. Kritisiert wurde nämlich unter anderem die offenbar einigermaßen enge Kooperation zwischen der Polizei und dem betroffenen Energiebetreiber. Dabei war es zunächst natürlich absolut zweckdienlich, dass sich die Polizisten von den RWE-Mitarbeitern in den weißen Jeeps transportieren ließen. Die normalen Polizeikarosserien hätten auf dem weichen Untergrund vermutlich versagt und damit noch peinlichere Bilder provoziert. Symbolisch war die enge Kooperation zwischen RWE und der Polizei jedoch durchaus wirkmächtig. Denn eigentlich wissen wir auch so, dass Energiekonzerne auf eine enge Kooperation mit dem Staat angewiesen sind. Für das Recht macht dies aber sehr oft keinen Unterschied. Formal ist auch der größte Energiekonzern zunächst genauso “privat” wie jede andere Person. Und auf diese Stellung als verfassungsprozessrechtlicher “jedermann” ziehen sich die Energiekonzerne dann auch zurück, wenn der Staat ihnen die Kooperation aufsagt, wie er es angesichts von Fukushima mit der Atomenergie tat. Von den “Big Four” hat sich deswegen auch allein EnBW nicht an der Verfassungsbeschwerde beteiligt, weil der Staat hier inzwischen wieder eine beherrschende Stellung eingenommen hat. Und als Staatsunternehmen kann man sich eben nicht gegen den Staat auf Grundrechte berufen (sog. Konfusionsargument). Für das im Eigentum des schwedischen Staates stehende Vattenfall wirft dies ebenfalls Probleme auf. (Dafür verklagt der Konzern Deutschland aber auch noch vor einem Schiedsgericht in den USA.)
In Garzweiler war RWE aber ganz Privatier. So setzte die Polizei auch gegenüber den Journalisten in erster Linie das Hausrecht des Konzerns durch. Das Unternehmen entscheidet, wer seine Baugruben betreten darf. Einer weiteren Prüfung der Demonstrationsrechte bedurfte es dann zumindest hinsichtlich der Demonstranten eigentlich nicht mehr. Die Polizei gab deswegen wohl auch an, sie hätte das Hausrecht mit dem öffentlichen Interesse an einer Berichterstattung (und nicht mit der Demonstrationsfreiheit) abgewogen. Die Grundrechte – so lernt es jeder Jurastudent in den ersten Semestern – schützen eben in erster Linie den Bürger vor dem Staat. Von dieser Grundregel werden im Rahmen der mittelbaren Drittwirkung, also der Auslegung des einfachen Rechts, zwar Ausnahmen gemacht. Dies hat aber noch nie dazu geführt, dass man sich eine Demonstration auf “Feindesland” einklagen konnte. Einmal war das Bundesverfassungsgericht zwar schon nah dran, an dieser Grundregel zu rütteln. In der Fraport-Entscheidung bedurfte es aber keiner mittelbaren Drittwirkung, da die öffentliche Hand Mehrheitseigner des Unternehmens und damit direkt an die Grundrechte gebunden war (Stichwort: Keine Flucht in das Privatrecht).
Allerdings hatte der erste Senat schon in der damaligen Entscheidung obiter dicta darauf hingewiesen, dass der Fall vielleicht gar nicht so anders ausgehen sollte, wenn der Staat beim nächsten Mal ein paar Anteile an der Flughafengesellschaft verkauft hat. Es kann eigentlich nur überraschen, dass es so lange gedauert hat, bis dies von der Rechtspraxis aufgenommen wurde. Aber im Juli 2015 kam nun endlich auch dafür ein passender Fall. Ein – wie sollte es anders sein – im Verwaltungsrecht bewanderter wissenschaftlicher Mitarbeiter eines öffentlich-rechtlichen Lehrstuhls hat das Bundesverfassungsgericht um einstweiligen Rechtsschutz aus Karlsruhe gebeten. Zuvor hatte der Jurist zu einem “Bierdosen-Flashmob für die Freiheit” auf dem Nibelungenplatz in der Passauer Innenstadt aufgerufen. Wie man sich inzwischen im Internet ansehen kann, hat dabei eine Gruppe von Gleichgesinnten auf besagtem Platz gleichzeitig ein Bier hinuntergestürzt. Das Ganze war als Protest gegen die Privatisierung des öffentlichen Raums gedacht. Dieser führe im Ergebnis nämlich – wie eben in Passau – zu Alkoholverboten und zu Videoüberwachung. Dementsprechend hatte auch die Eigentümergesellschaft, eine GmbH & Co KG, den Flashmob bereits im Vorfeld unter Hinweis auf ihr Hausrecht untersagt. Da im Bierdosenflashmobfall der Platz nicht nur privatrechtlich organisiert war (Fraport), sondern auch wirklich in privater Hand lag, bemerkte auch die für das Eilverfahren zuständige dritte Kammer des ersten Senats, dass hier eine neue, noch nicht geklärte Situation vorliege.
Nun könnte man natürlich fragen, was ein Bierdosenflashmob in der Fußgängerzone mit der Stürmung einer Baugrube durch Demonstranten zu tun hat. Denn zwar fand beides auf formal privatem Grund statt, allerdings ist eine Flaniermeile eben frei zugänglich. Und der dort von der GmbH & Co KG geplante Warenaustausch bringt nun einmal gezwungenermaßen auch einen (potentiellen) Gedankenaustausch mit sich (wir kennen diesen Grundgedanken vom EU-Binnenmarkt). Die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts umschreibt dies so:
Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder durch private Investoren geschaffene und betriebene Plätze als Orte des Verweilens, der Begegnung, des Flanierens, des Konsums und der Freizeitgestaltung ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können (BVerfGE 128, 226 <252> [Fraport]).
Der beabsichtigte Ort der Versammlung steht zwar im Eigentum einer Privaten, ist zugleich aber für den Publikumsverkehr offen und schafft nach den Feststellungen des Landgerichts einen Raum des Flanierens, des Verweilens und der Begegnung, der dem Leitbild des öffentlichen Forums entspricht (vgl. hierzu BVerfGE 128, 226 <253 f.> [Fraport]). (Rz. 5)
Schließlich werden auch die dem Rechtsvergleich zugewandten Verfassungsrechtler einwenden, dass man so etwas in den USA ja schon lange kenne. Auch private, der Öffentlichkeit zugängliche Straßen bleiben öffentliches Forum. Allerdings gehen hier beide Einwände nicht ganz durch. Zum einen ist alles andere als klar, ob die zitierte Entscheidung des US Supreme Courts heute noch so Bestand hat. So hat der Supreme Court seit den 1970ern den Forumsgedanken für Fälle abgelehnt, in denen in Shopping Malls demonstriert werden sollte. Der Flughafen, als Teil der Infrastruktur, wird hier zwar noch teilweise anders bewertet, sicher ist dies aber nicht. Wieso sollte es auch darauf ankommen? Besucht man eine Einkaufspassage freiwilliger als den Shoppingbereich der Landseite (also vor dem Sicherheitscheck) des Flughafens? Diese Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Manche Einkaufspassagen dienen zweifellos als Teil des städtischen Verkehrsnetzes (siehe Passau) und in vielen Einkaufszentren befinden sich öffentliche Ämter oder Bibliotheken. Auf der anderen Seite kann man in vielen Flughäfen zumindest einen Großteil der Shoppingbereiche auch umgehen. Eine solche Differenzierung ist also nicht nur schwierig und vom Einzelfall abhängig, sie bringt auch die Gefahr mit sich, dass Demonstranten auf die dem Eigentümer genehmen Pfade beschränkt würden.
Diesen Aspekt hat auch der Bundesgerichtshof jüngst betont. Skurriler Weise hatte dieser nur wenige Wochen vor dem Bierdosenflashmob seinerseits die Möglichkeit, die Fraport-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (die ihn ja korrigiert hatte) fortzubilden. Ein Berliner Jesuitenpater wollte diesmal zwar auch am in öffentlicher Hand stehenden Flughafen (Berlin Schönefeld), aber eben nicht in der warmen Shoppinghalle demonstrieren. Vielmehr wollte er auf die Schattenseiten der Flughafenwelt hinweisen und vor dem sog. “Abschiebegefängnis” derselben demonstrieren. Anders als die Einkaufspassage des Flughafens, handelte es sich hier um ein Gelände, das formal nicht für die Allgemeinheit gedacht war. Zwar gab es keine regelmäßigen Eingangskontrollen, dennoch war Nichtanliegern der Zugang auf das “Privatgelände” verwehrt. Anders als die Vorinstanzen, erkannte hier der Bundesgerichtshof – ganz im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht – trotzdem ein öffentliches Forum:
Dies [Grundrecht aus Art. 8 GG] gewährleistet den Grundrechtsträgern auch das Recht, selbst zu bestimmen, wo eine Versammlung stattfinden soll. Die Bürger sollen damit selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen – gegebenenfalls auch mit Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen – am wirksamsten zur Geltung bringen können. Die Versammlungsfreiheit verschafft allerdings kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten. Insbesondere gewährt es dem Bürger keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird. (Rz. 11)
Was also ein Forum sein soll, können auch die Demonstranten mitentscheiden. Und dass es mit dem “bestimmten Zweck” der Zugangsgewährung eine schwierige Sache ist, wurde bereits oben thematisiert. Natürlich müssen wir insbesondere noch die eigentliche Senatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten. Wenn wir die beiden bisherigen Entscheidungen zusammen nehmen, dann steckt hier viel Potential, dann lauert aber auch viel Rechtsunsicherheit. Es deutet sich an, dass auch Zivilgerichte in Zukunft nicht mehr einfach zwischen öffentlich und privat unterscheiden können, wenn sie die Wirksamkeit eines Hausverbots prüfen, dass gegenüber Demonstranten ausgeübt wird. Die Frage wird maßgeblich davon abhängen, ob der entsprechende Raum als öffentliches Forum bezeichnet werden kann. Und dies wiederum richtet sich nicht einfach danach, was sich der Eigentümer dabei als Zweck gedacht hat. Wenn es ausschließlich danach ginge, dann wären Fußgängerpassagen dem Warentausch vorbehalten und Flughäfen könnten ihre Schattenseiten erfolgreich abschirmen.
So begrüßenswert und zweitgemäß diese wahrscheinliche Ausweitung der Demonstrationsfreiheit auch ist; es bleibt zu hoffen, dass der erste Senat eine Formel findet, die sich nicht in reiner Abwägungsrhetorik verliert. Die deutsche Grundrechtsdogmatik ist bereits so vom Verhältnismäßigkeitsmantra durchdrungen, dass zumindest mir jede einigermaßen scharfe Definition begrüßenswerter scheint. Andernfalls liefe es wohl auf die Formel hinaus, dass das Hausrecht eben schwächer wird, je eher Zweck und Ort einer geplanten Demonstration eine Funktion als öffentliches Forum nahelegen. Die Baggergrube in Garzweiler wird wohl eher nicht dazu gehören, wenn dies den Abbaubetrieb stoppt. Aber vielleicht können wir uns bald auf Vegetarierproteste an der Fleischtheke des Supermarkts freuen. Schließlich dient auch der Gang durch das Geschäft der sozialen Kommunikation.
Wem das zu viel ist, der kann sich ja auf den Online-Versandhandel zurückziehen. Dort findet man zwar auch kritische Käuferbewertungen. Diese werden aber in der Regel ordentlich danach sortiert (und notfalls von der Plattform aussortiert), ob sie bei der Kaufentscheidung “hilfreich” sind. Ob wir es hier – ähnlich wie bei Google – mit einem grundrechtsgebundenen öffentlichen Forum zu tun haben, das wird die Gerichte dann ganz sicher auch noch beschäftigen. Wenn man so noch einmal über die Garzweilerproteste nachdenkt, dann scheinen sie einem wie eine Reminiszenz an die grüne Umweltbewegung der späten 1980er. Nicht ohne Grund ist die dazugehörige Rechtsprechung bereits Objekt zeithistorischer Forschung. Bis aber auch privat betriebene öffentliche Foren im Internet, wie facebook, von den Gerichten wirksam kontrolliert werden können, wird es vielleicht wieder einige Jahrzehnte dauern. Denn zumindest in den USA schützt die Meinungsfreiheit rassistische Botschaften faktisch besser als die Bloßstellung nackter Frauenbrustwarzen. Ob man sich jedoch eine solche Kontrolle in Zusammenarbeit von Staat und Internetunternehmen uneingeschränkt wünschen sollte, darüber kann man trefflich streiten und wundervolle Bücher schreiben.
Verhältnismäßigkeitsmantra – was fuer ein wunderbares Wort!
Aber warum soll eigentlich der erste Senat eine brauchbare Formulierung finden. Sollte das nicht besser der Gesetzgeber machen?
Das stimmt!
Das wäre eigentlich eine gute Möglichkeit der Länder, ihre seit der Föderalismusreform im Versammlungsrecht gewonnenen Spielräume kreativ zu nutzen (soweit hier das BVerfG noch Spielräume lässt).
Ich habe bisher aber noch nichts davon gehört, dass sich ein Landesparlament für solche Fragen (Demos auf privatem Grund) gesetzgeberisch eingesetzt hätte. Falls da jemand ein Gegenbeispiel hat: Das würde mich sehr interessieren!
Liegt im Fall des Bierdosenflashmobs nicht schon fast eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte vor, die mit dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht vereinbar ist? ?