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17 June 2021

Akademische Piraterie

Forscher:innen und Studierende nehmen teils dunkle Wege, um an wissenschaftliche Texte zu gelangen

Im Verlauf der letzten 15 Monate habe ich meine Universitätsbibliothek nur ein einziges Mal besucht: Und zwar an dem Tag, an dem ich ein Buch zurückgeben musste, das ich im Januar 2020, also vor Beginn der Pandemie-Beschränkungen, ausgeliehen hatte. Wenn ich „meine Universitätsbibliothek“ schreibe, dann meine ich die Bibliothek derjenigen Universität, an der ich vor einiger Zeit graduiert habe – und bei der ich seitdem als Alumnus geführt werde.

Mit dem Alumnus-Status kann ich die Services der Bibliothek – wie zuvor auch als Student und Doktorand – nutzen, etwa für Recherchen, Ausleihen, Fernleihen aus fremden Bibliotheken, Kopier- und Scanaufträge usw. Das ist eine große Hilfe, geradezu eine Notwendigkeit bei meiner wissenschaftlichen und journalistischen Arbeit. Gerade vor der Pandemie habe ich regen Gebrauch von diesen Angeboten gemacht.

Was die Unibibliothek aber auch schon vor der Pandemie nicht vollständig leisten konnte: Mir alle gewünschten Aufsätze, Sammelbände und Monografien kurzfristig zur Verfügung zu stellen.

Zwischen intellektuellen Wünschen und materiellen Möglichkeiten

Als historisch wie gegenwärtig interessierter Soziologe und Journalist möchte ich in abseitige historische Quellen genauso Einblick nehmen wie in frisch veröffentlichte Publikationen. Ich will Trends und Umschwünge und neue Felder in der Forschung erkennen. Ich will zielgerichtet recherchieren, auf dem Laufenden bleiben; will wissen, was die Kolleg:innen veröffentlichen und wo sich Zitierkartelle bilden, will Quellen nachprüfen und schauen, was sich aus ihnen noch herausholen ließe.

Ich will mich aber auch mal ohne Ziel im Referenzmeer treiben lassen, mich in rabbit holes verlieren, in Fußnotenkeller hinabsteigen und Spuren nachgehen.

Kurz: Ich brauche offenen Zugang und eine breite Auswahl zu wissenschaftlicher Literatur. Aber: Ich will und kann und werde nicht für jedes Buchkapitel, jeden Aufsatz, der interessant sein könnte – und den ich über das Abstract hinaus sichten will – 30 EUR oder mehr ausgeben, wie es die (digitalen) Angebote der großen akademischen Verlage vorsehen.

Diese Kluft zwischen meinen intellektuellen Wünschen und materiellen Möglichkeiten stellt ein Problem dar. Das Problem war mir bereits während der Anfertigung meiner Dissertation zwischen 2014 und 2018 bewusst geworden. Während der Arbeit im Home Office aufgrund der Pandemie verschärfte es sich für mich weiter. Kolleg:innen berichteten mir von ähnlichen Schwierigkeiten. Nahezu alle, die studieren, forschen, lehren und recherchieren, und denen der Zugang zur Bibliothek versperrt blieb, scheinen davon betroffen zu sein.

Ein traumhaft profitables Geschäftsmodell

Über die Musikindustrie schrieb Simon Frith bereits Ende der 1980er Jahre:

For the music industry the age of manufacture is now over. Companies (and company profits) are no longer organised around making things but depend on the creation of rights. […] the company task is to exploit as many of these rights as possible […].

Für die akademische Medienindustrie, also die wissenschaftlichen Großverlage, trifft diese Einsicht geradezu idealtypisch zu. Elsevier, einer der Großverlage, erzielt beispielsweise traumhafte Erlösspannen von mehr als 30%. Das wird auch in der Wissenschaft selbst mittlerweile als Problem wahrgenommen.

Grundlage dafür ist ein Geschäftsmodell, das die Urheberrechte der verlegten Autor:innen maximal verwertet: Wissenschaftler:innen verfassen akademische Texte, sorgen in den meisten Fällen für deren Qualitätssicherung und geben diese an Wissenschaftsverlage, die diese Texte formal aufbereiten – und dann den Zugang zu den Texten mittels Abomodellen an die Bibliotheken zurückverkaufen (oder an interessierte Einzelpersonen).

Anders als etwa die Musikindustrie oder das Zeitungswesen konnte die akademische Medienindustrie ihr Geschäftsmodell unbeschadet ins digitale Zeitalter überführen. Seit einigen Jahren jedoch bilden sich Risse in den Mauern, die die wissenschaftlichen Verlage um die von ihnen vermarkteten Texte gezogen haben. Ähnlich wie bei der MP3-Krise der Musikindustrie sind es die Nutzer*innen, die mit digitalen Werkzeugen die Paywalls der Verlage bearbeiten.

Zugänge gestalten, Tunnel legen, Paywalls überwinden

Unter ihnen sind Forscher:innen, Studierende und Lehrpersonal, aber auch Journalist:innen und die interessierte Öffentlichkeit. Ihr Wunsch: Einen offenen, freien Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen. Dafür setzen sie widerständige, teils Guerilla-artige Strategien ein, um die (digitalen) Beschränkungen der Großverlage zu umgehen, zu unterlaufen und zu öffnen.

Das bekannteste Beispiel dürfte die Schattenbibliothek SciHub (kurz für Science Hub) sein, die Zugriff auf mehr 75 Millionen Dokumente bietet, nachdem sie 2011 von der Kasachin Alexandra Elbakyan gegründet worden war. Elbakyan war frustriert, dass sie von ihrem Wohnort in Kasachstan aus nicht auf die benötigten Texte zugreifen konnte und programmierte eine automatische Umgehung der Beschränkungen: Um einen bestimmten Text zu erreichen gibt sich SciHub als Bibliothek aus, die bereits den Zugang zu eben diesem Text erworben hat. Dafür gaukelt SciHub der Verlagswebsite eine IP vor, die zu der Bibliothek gehört. Über diesen digitalen Tunnel wird der Text zugänglich, die Nutzer:in kann ihn sich als PDF herunterladen. Access granted.

Um eine möglichst hohe Verfügbarkeit zu gewährleisten, arbeitet SciHub mit der russischen Schattenbibliothek LibGen (kurz für Library Genesis) zusammen. LibGen aggregierte ab etwa 2008 diverse Textsammlungen, die in Russland zirkulierten, und stellte den Gesamtkorpus online. 2014 bot LibGen etwa 25 Millionen Dokumente an, darunter wissenschaftliche und belletristische Literatur in diversen Sprachen, hervorgegangen aus massenhaften Downloads von Repositorien, Leaks aus Universitätsnetzwerken und Verlagen.

Zusammen mit LibGen ist SciHub ein Beispiel für eine technisch delegierte, automatisierte Umgehungsstrategie, über die Nutzer:innen recht bequem die urheberrechtlichen Probleme beim Literaturzugriff unterlaufen. Das verschafft ihnen kurzfristig Spielräume, löst das dahinterliegende Problem allerdings nicht langfristig.

Die ganze Angelegenheit bleibt ein Katz-und-Maus-Spiel: Die Seiten müssen regelmäßig ihre Toplevel-Domains wechseln, um sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen – ähnlich wie bei den Netzsperren durch die Clearingstelle Urheberrecht. Schnell kursieren Anleitungen, wie die Sperren umgangen werden können.

Den Großverlagen sind die Schattenbibliotheken freilich ein Dorn im Auge – so arg, dass diese sogar in Erwägung zogen, die Universitätsbibliotheken Überwachungssoftware installieren zu lassen, um (illegale) Zugriffe aus Uninetzwerken heraus verfolgen zu können. Ein Positionspapier der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat die Praxis des Datentrackings kürzlich beschrieben und als Problem thematisiert.

Nach einer Klage von mehreren Großverlagen fügt SciHub seit Anfang des Jahres keine neuen Texte seiner Datenbank mehr hinzu. Auf Reddit hat sich eine Rettungsaktion für knapp 80 Terabyte an wissenschaftlichen Texten formiert, die Nutzer:innen per Torrent verfügbar halten sollen. Außerdem ist die Programmiererin Elbakyan ins Visier der Behörden geraten: Laut eigener Angabe wird ihr Apple-Account seit 2 Jahren vom FBI überwacht.

From peer to peer

SciHub und LibGen sind vergleichsweise versierte technische Lösungen, die auf einem zentralen Verteilprinzip beruhen. Demgegenüber haben sich in den Sozialen Medien auch dezentrale peer-to-peer-Praktiken etabliert.

Unter dem Hashtag #IcanhazPDF stellen Nutzer:innen Suchanfragen für wissenschaftliche Texte. Kolleg:innen mit Zugriff auf die gewünschten Texte können sehen, wer was sucht, und aushelfen. Der dazugehörige Twitter-Account formuliert eine Etikette für solche Suchanfragen, die drei Regeln enthält:

  1. DOI link
  2. Your email address
  3. Delete tweet once PDF received

Gerade die dritte Regel dient dem Quellenschutz und zur Vorbeugung etwaiger Abmahnungen. Denn in den meisten Fällen verletzt das Versenden eines Textes ja das Urheberrecht der Verlage – wenngleich die Autor:innen weniger dagegen haben dürften, da sie davon profitieren, wenn ihre Arbeiten wahrgenommen, gelesen und zitiert werden.

Die beschriebene Praxis um den Hashtag appelliert an den Gemeinschaftsgedanken der global vernetzten Wissenschaft und beinhaltet das Prinzip des Gabentauschs: Je größer die Bereitschaft der Einzelnen, Texte bereitzustellen, desto höher steigt auch die allgemeine Chance, den gewünschten Text zu erhalten. Gleichzeitig erweitert die Praxis um #IcanhazPDF die gängige Praxis unter Forscher:innen, sich per Email gegenseitig Literatur zu empfehlen und zuzusenden.

Es gibt keine Begrenzung auf wissenschaftliche Disziplinen oder Jahrgänge der gesuchten Literatur. Mit der Benutzung des Hashtags geben Forscher:innen zudem einen kleinen Einblick in ihre eigene Arbeit, stellen gewissermaßen ihren eigenen Literaturkonsum aus und zeigen stichprobenartig, welche Texte sie rezipieren (wollen).

Eine ähnlich gelagerte Praxis findet statt beim Literaturtausch über Telegram-Gruppen. Der Messenger-Dienst, der von russischen Programmier:innen entwickelt wurde und seinen Geschäftssitz offiziell nach Dubai verlagert hat, steht bisweilen in der öffentlichen Kritik: Auf Telegram können nicht nur kostenlos Kurznachrichten verschickt werden, der Dienst stellt auch die technische Infrastruktur für illegale Aktivitäten, wie etwa Drogenhandel, die Verbreitung von Verschwörungsideologien oder die Organisation politischer Umstürze.

Telegram ist offensichtlich schwach reguliert. Und offensichtlich ist das ein Grund, warum auch das Teilen wissenschaftlicher Literatur innerhalb selbst organisierter Gruppen auf der Plattform stattfindet. Studierende wie Forscher:innen stellen ähnlich wie bei #IcanhazPDF auf Twitter eine Text-Anfrage in einer der verschiedenen Gruppen, oftmals verbunden mit dem Hinweis, aus welcher Bibliothek der Text digital erreichbar ist; diese Information ergibt sich unter anderem aus der Recherche beim KOBV-Portal.

Das Zusenden der gewünschten Texte erfolgt meist in privaten Nachrichten und ist auch so gewünscht – vermutlich auch dies ein Sicherheitsnetz, damit die Versender:innen nicht wegen der öffentlichen Zugänglichmachung eines urheberrechtlich geschützten Textes für ein großes Publikum belangt werden können.

Wer sich für einen Text interessiert, den eine andere Person angefragt hat, kann dies über Textkürzel oder Emoticons ausdrücken. Das zeigt, dass die akademische Piraterie rechtlich zwar mindestens fragwürdig ist, aber dem allgemeinen Ziel wissenschaftlichen Austauschs dient und zu inhaltlichen Empfehlungen führen kann.

Die Telegram-Gruppen entstanden teilweise als Reaktion auf die Corona-Situation, die viele Studierende vom Zugang zu wissenschaftlicher Literatur abschnitt und dadurch eine technisch und solidarisch gestützte Lösung notwendig machte. Teilweise existierten auch schon vor der Pandemie entsprechende Angebote.

Schattenbibliotheken als brauchbare, aber illegale Praxis

Ich gebe es zu: Ich erforsche nicht nur das Urheberrecht, sondern breche es dafür auch hin und wieder: Ohne die oben aufgeführten Techniken und Angebote, die größtenteils im Schatten des Rechts liegen, hätte ich beispielsweise meine Dissertation nicht anfertigen können. Und während ich wegen der Pandemie auf das Home Office zurückgeworfen bin, verschlechtern sich für mich – wie für viele andere auch – die legalen Zugangsmöglichkeiten zu wissenschaftlicher Literatur über Bibliotheken. Für das Jahr 2020 verzeichnen die wissenschaftlichen Bibliotheken bei den Ausleihzahlen etwa einen Rückgang von durchschnittlich gut 25% gegenüber dem Vorjahr.

Unabhängig von der Pandemie: Die geschilderten Schattenbibliotheken und -techniken sind ein Indiz dafür, dass formale urheberrechtliche Regeln (und ihre Anwendung durch Verlage) mit den eigentlichen Wünschen der Nutzer:innen kollidieren: Studierende, Forscher:innen und die interessierte Öffentlichkeit wollen einen schnellen, direkten, einfachen und erschwinglichen Zugang zu wissenschaftlicher Literatur, um an ihrem Aufenthaltsort in angemessener Weise studieren, recherchieren, forschen, lehren und sich bilden zu können.

Zur Erreichung eigener Ziele – wie dem Verfassen einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit – sind Studierende wie Forscher:innen dazu bereit, rechtlich fragwürdige bis eindeutig illegale Angebote in Anspruch zu nehmen. Sie schätzen den Nutzen der illegalen Angebote höher ein als den daraus resultierenden Schaden für sich und die wissenschaftliche Verlagsindustrie. Organisationsforscher:innen bezeichnen dieses Phänomen als „brauchbare Illegalität“: Darunter verstehen sie die verschiedenen Praktiken, Strategien und Mechanismen, die zwar illegitim oder illegal, aber sehr notwendig sind, um eine Organisation am Laufen zu halten und ihr Flexibilität in der Anwendung von formalen Regeln zu verschaffen.

Viele dürften auch keinen Sinn darin erkennen, den Zugang zu bereits öffentlich finanzierter Forschung aus eigener Tasche erneut zu bezahlen. Sie umgehen die hilfreichen und absolut notwendigen, aber meist nicht ausreichenden Angebote ihrer Universitätsbibliotheken und wandeln auf neuen Pfaden, die sie besser zum Ziel bringen. Im Falle der peer-to-peer-Börsen schlüpfen die Nutzer:innen mitunter selbst in die Rolle von Bibliothekar:innen, um den eigenen Kolleg:innen und Kommiliton:innen einen Gefallen zu tun, ihnen die gewünschte Literatur zu beschaffen und gegebenenfalls weitere zu empfehlen. Eine para-bibliothekarische Struktur entsteht und verfestigt sich.

Desire paths: Nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung sehen

Um im Bild zu bleiben: Aus den informellen Wegen – die mit dem deutschen „Trampelpfad“ nicht besonders gut, aber mit dem englischen desire path hingegen recht treffend umrissen sind – entstehen Wege, die zwischen den großen Bibliotheken hindurchführen und effiziente Abkürzungen versprechen. Diese Wege sind teils schon sehr gut ausgebaut und ausgetreten, andernorts noch recht schmal und zudem wenig bekannt, was auch an ihrer schattigen Lage liegen dürfte.

Trampelpfade: Besser ohne Hindernisse. Foto: Georg Fischer unter CC-BY-4.0.

Stadtplaner:innen und Architekt:innen haben das Potential solcher desire paths erkannt und wenden sie als planerisches Element an: etwa auf dem Uni-Campus in Michigan, wo es den Nutzer:innen explizit gestattet wurde, die von ihnen gewünschten Wege zwischen den Gebäuden als Trampelpfade und Schleichwege anzulegen. Diese organisch erzeugten Pfade wurden später zu befestigten und offiziellen Wegen ausgebaut.

Übertragen auf den digitalen Raum lässt sich daraus lernen: Die Musikindustrie war die erste Medienbranche, die vom Medienbruch der Digitalisierung und den gesteigerten Kopiermöglichkeiten der Nutzer:innen umgekrempelt wurde: Nutzergenerierte Nebenpfade wurden zu Hauptarmen der digitalen Musikdistribution, die sich nicht mehr ignorieren ließen.

Nachdem die Musikindustrie anfänglich hart gegen MP3s kämpfte und Fans abmahnte, wurde das illegale Filesharing nach und nach in ein legales Geschäftsmodell überführt. iTunes und Spotify traten als externe Akteure mit komfortablen digitalen Angeboten auf den Plan, Labels und Verlage mussten sich bewegen. Nach und nach sickerte die Erkenntnis durch: Das MP3-Streaming auf Plattformen erfüllt den Nutzer:innen ihren Wunsch nach einem einfachen und schnellen Zugang zu Musik – eine komfortable Abkürzung gegenüber dem Weg ins CD-Geschäft. Zudem aktiviert es Fans als Ressourcen: Sie können ihren Freund:innen Musik empfehlen, in Playlists kuratieren, bewerten, sammeln, kommentieren und in den Sozialen Medien weiterreichen.

In der Wissenschaft scheint mit den genannten Schattenbibliotheken ein ähnlicher Prozess in Gang geraten zu sein: Sicher ist es eine Überlegung wert, auch für die Beschaffung wissenschaftlicher Literatur die geschilderten Abkürzungen nicht als Teil des Problems, sondern mehr als Teil einer Lösung zu betrachten, die ein dahinter liegendes Problem löst. Dafür müsste man die Wünsche der Nutzer:innen nach einem brauchbaren und legalen System zur Beschaffung wissenschaftlicher Literatur deutlich ernster nehmen – und nicht als Urheberrechtspiraterie bekämpfen.


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