Auch im Gefängnis
Zu kommentieren gäbe es in dieser ereignisreichen Woche wahrhaftig wieder mal genug. Aber ich habe mich entschieden, heute IGOR TULEYA, Richter am Warschauer Bezirksgericht, das Wort zu überlassen für dieses Editorial. Warum? Lesen Sie selbst:
Richter Igor Tuleya:
“Im Dezember 2016 fand im Unterhaus des polnischen Parlaments, dem Sejm, eine Abstimmung über den Haushalt unter merkwürdigen Umständen statt. Abgeordnete der Opposition wurden daran gehindert, an der Parlamentsdebatte teilzunehmen. Die Debatte wurde vom Plenarsaal in den so genannten Säulensaal (einen kleineren Sitzungssaal) verlegt. Die Oppositionsmitglieder wurden physisch daran gehindert, sich dem Podium zu nähern und somit das Wort zu ergreifen. All dies war von der Regierungspartei “Recht und Gerechtigkeit” im Voraus geplant worden. Mehrere Abgeordnete reichten Meldung ein, dass der Präsident des Sejm und seine untergeordneten Beamten eine Straftat begangen hätten. Die politisierten Staatsanwälte weigerten sich, den Fall zu untersuchen. Ein Jahr später ließen sie eine Beschwerde gegen diese Entscheidung zu. Die Staatsanwälte stimmten den Antragstellern zu, ordneten die Fortsetzung der Untersuchung an und informierten auch die Strafverfolgungsbehörden über die mutmaßliche Straftat, das die Führer der Partei Recht und Gerechtigkeit begangen haben könnten, nämlich dass sie bei ihren Aussagen Meineid geleistet haben.
Ich war der Richter in diesem Fall.
In den letzten fünf Jahren habe ich die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter in Polen verteidigt. Ich kritisiere die Regierung öffentlich dafür, dass sie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verletzt und die in der Verfassung verankerten Grundsätze nicht befolgt hat. Aus diesem Grund führen die Disziplinarkommissare, die dem Justizminister unterstehen, derzeit weitere sieben Verfahren gegen mich.
Fast drei Jahre nach dem “Säulenhallen-Fall” hat die Staatsanwaltschaft die sogenannte “Disziplinarkammer” des Obersten Gerichtshofs gebeten, meine richterliche Immunität aufzuheben. Sie behauptet, dass ich durch die Anordnung, die Untersuchung fortzusetzen, meine Amtspflichten verletzt, meine Befugnisse als Richter überschritten und Informationen aus dem eingestellten Vorbereitungsverfahren offengelegt und verbreitet habe. In der Tat ging ich offen vor und Journalisten nahmen an der Sitzung meines Gerichts teil. Dies ist jedoch nach der Strafprozessordnung voll und ganz zulässig. Ich habe keine Geheimnisse preisgegeben. Über die Sitzungen des Sejm wurde in den Medien berichtet, und das undemokratische Verhalten von “Recht und Gerechtigkeit” löste eine Welle sozialer Proteste aus, die die Polizei auf den Plan riefen.
Dann kam der 18. November 2020. Die “Disziplinarkammer” hob meine Immunität auf und suspendierte mich von meinen Dienstpflichten. Nach 25 Jahren hörte ich laut diesem Gremium auf, Richter zu sein. Mir droht eine Strafe von 3 Jahren Gefängnis. Ich habe an der Anhörung vor diesem Gremium nicht teilgenommen. Die so genannte Disziplinarkammer ist kein unabhängiges Gericht, und ihre Mitglieder sind keine unabhängigen Richter. Die “Richter” sind ehemalige Staatsanwälte und mit der Exekutive verbundene Personen. Dies wurde vom Obersten Gerichtshof Polens festgestellt und durch die Entscheidung über die Anwendung der vorläufigen Maßnahmen des EuGH bestätigt. Dieses Gremium sollte überhaupt nicht tätig werden. Aus diesem Grund betrat ich nicht den Gerichtssaal, in dem das Verfahren stattfand. Hätte ich etwas anderes getan, hätte ich die Gesetzlosigkeit legitimiert. Ich tat es nicht und konnte es auch nicht tun.
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Ich kündigte öffentlich an, dass ich nicht vor dem Ankläger erscheinen und mich nicht als Angeklagter vernehmen lassen würde. Ich tat dies nicht, um mich der Verantwortung zu entziehen, aber hätte ich weiterhin an dieser Farce teilgenommen, dann hätte ich die illegalen Aktivitäten der so genannten Disziplinarkammer akzeptiert. Was wird der Ankläger tun? Er wird mich zwangsweise vorladen oder vielleicht – mit dem Argument, dass ich das Strafverfahren behindere – meine Festnahme beantragen. Was werde ich tun? Professor Stanisław Zabłocki, ein ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs, einer anerkannten Autorität für alle Anwälte, hatte etwas biblisch an die polnischen Richter appelliert: “Deine Worte seien: Ja, ja; nein, nein. Sie müssen konsequent sein. Klare Signale müssen an die Öffentlichkeit gegeben werden. Sie können nicht bloß passiv beobachten, was für schlimme Dinge mit dem polnischen Rechtssystem vor sich gehen”. Deshalb werde ich weiterhin die Wahrheit sagen und bis zum Ende, auch im Gefängnis, die Rechtsstaatlichkeit in Europa verteidigen. In Europa? Ja, denn mein Heimatland Polen ist immer noch in der Europäischen Union. Ich empfinde die Zerstörung des polnischen Justizsystems als eine Zerstörung Europas als einer Werte- und Rechtsgemeinschaft.
Ich danke den europäischen Juristen für all ihre Unterstützung. Sie ist rührend und außerordentlich wichtig für alle polnischen Richter. Aber was soll ich den europäischen Beamten und Politikern sagen? Ich verstehe, dass, so wie 1939 einige von ihnen nicht “für Gdańsk/Danzig sterben wollten”, heute einige von ihnen nicht für die Rechtsstaatlichkeit in Polen sterben wollen. Sie fahren also fort, die Lage zu erörtern und sich unterdessen zufrieden den blauen Himmel anzuschauen. Wenn ich im Gefängnis bin, werde ich das kaum tun können. Erinnern Sie sich also bitte an die Worte von Martin Luther King: Ungerechtigkeit an einem Ort bedroht die Gerechtigkeit überall.”
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Polen blockiert unterdessen gemeinsam mit Ungarn die Freigabe über die EU-Coronahilfen, um zu verhindern, dass die EU ihre Finanzsanktionen für Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit scharf stellt. Lässt sich die Blockade dadurch auflösen, dass die anderen Mitgliedstaaten das Aufbauinstrument “Next Generation Europe” durch eine so genannte Verstärkte Zusammenarbeit untereinander realisieren? MARTIN NETTESHEIM glaubt nicht daran.
Nur auf den ersten Blick unabhängig davon ist Viktor Orbáns Regierung derzeit auf nationaler Ebene verfassungspolitisch höchst aktiv: GÁBOR HALMAI, GÁBOR MÉSZÁROS und KIM LANE SCHEPPELE blättern auf, wie die Orbán-Regierung ihre eigene Verfassung ihrem Machterhalt zum Opfer bringen. Zwei Änderungsvorschläge stechen besonders wegen ihrer verheerenden Konsequenzen für die Rechte von LGBTQI Personen in Ungarn hervor. ESZTER POLGÁRI und TAMÁS DOMBOS stellen die These auf, dass die institutionalisierte Trans- und Homophobie hinter diesen Änderungen im Grundgesetz nur mühsam wieder dekonstruiert werden könnten. Diesen und weitere Details der aktuellen ungarischen Verfassungsänderung stellen im zweiten Teil ihrer Analyse wiederum GÁBOR HALMAI, GÁBOR MÉSZÁROS und KIM LANE SCHEPPELE in den Kontext der Sanktionspläne der EU. Wie die Orbán-Regierung das Verfassungsrecht einsetzt, um diese Pläne schon im Voraus ins Leere laufen zu lassen, kann einem schon fast wieder imponieren, so raffiniert ist das gemacht.
Der Europäische Gerichtshof hatte Ungarn kürzlich in Sachen CEU verurteilt, die von der Orbán-Regierung aus Budapest vertriebene Universität (an der auch viele Verfassungsblog-Autor_innen forschen und unterrichten). CSONGOR ISTVÁN NÁGY sieht in der Entscheidung, dies ausgerechnet als Verstoß gegen GATS-Regeln zu brandmarken, eine Parallele zu dem berühmten Verfahren gegen den US-Gangsterboss Al Capone: Da man ihm seine eigentlichen Verbrechen nicht nachweisen konnte, kam er schließlich wegen Steuerhinterziehung hinter Gitter.
In Polen und den USA wurde gerade erst deutlich, wie stark Gerichte das Recht auf Abtreibung prägen. Auch in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht das Abtreibungsrecht maßgeblich geprägt, seine Liberalisierung gebremst und das Thema so weitestgehend dem parlamentarischen Diskurs entzogen. VERA SCHÜRMANN meint, es sei an der Zeit, das Abtreibungsstrafrecht wieder auf die parlamentarische Tagesordnung zu setzen.
In der Türkei wurde letzte Woche, zum zweiten Mal innerhalb 16 Monate, der Kopf der Zentralbank entlassen. Zeitgleich trat der Finanzminister – der auch Präsident Erdogan‘s Schwiegersohn ist – von seinem Posten zurück. Viele stellen nun die tatsächliche Unabhängigkeit dieser Institution in Frage, was CEM TECIMER mitunter als die uninteressanteste aller Fragen ansieht, die dieser Komplex aufwirft. Er untersucht die Entwicklungen aus drei Perspektiven: Interessiert überhaupt jemanden, dass die Unabhängigkeit nicht mehr gewahrt wird? Steht die Bürokratie dem Autoritarismus im Weg? Welche Schwächen des Präsidenten legt das institutionelle Machtspiel dar?
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Digitales Podium am Montag, 23.11.2020, 18 Uhr
Livestream: www.bmjv.de
Mit hochrangigen Vertreter_innen aus der Justiz, Menschenrechtsverteidigern und Wissenschaftlerinnen diskutiert Bundesjustizministerin Christine Lambrecht darüber, wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit heute vor deutschen und internationalen Gerichten verfolgt werden. Panelist_innen sind u.a. Generalbundesanwalt Peter Frank, der syrische Rechtsanwalt Anwar al-Bunni und die deutsche Richterin am IRMCT in Den Haag, Claudia Hoefer.
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Im deutschen Bundestag ging es hoch her in dieser Woche, aus Anlass der Abstimmung über die neuen Rechtsgrundlagen für die Corona-Maßnahmen im Infektionsschutzgesetz. Über das Misstrauen, die dieses vermeintliche „Ermächtigungsgesetz“ in Teilen der Bevölkerung weckt, sowie über berechtigte und unberechtigte Kritik an dem Gesetz und seiner Entstehung spreche ich mit HANS-MICHAEL HEINIG in unserem Krisenpodcast Corona Constitutional. Das Ergebnis nimmt UWE VOLKMANN kritisch unter die Lupe: Neben allerlei Positivem sei vor allem eins an der neu gefassten Gesetzesgrundlage für die Corona-Maßnahmen zu bemängeln, nämlich dass sie immer noch unklar bleibe, auf wessen Schutz das Gesetz primär abzielt den der Bevölkerung vor Infektion oder den des Gesundheitssystems vor dem Zusammenkrachen.
Am Mittwoch demonstrierten wieder Tausende in Berlin, diesmal nicht nur gegen die Corona-Maßnahmen, sondern auch gegen die Verabschiedung des neuen Infektionsschutzgesetzes. Allerdings konnten die Proteste nicht wie von den Veranstalter:innen gewünscht und symbolträchtig direkt vor dem Bundestag stattfinden: Das BMI hatte die Genehmigung dazu verweigert. CHRISTIAN NEUMEIER erläutert, wieso es überhaupt eine Genehmigung brauchte, was das BMI damit zu tun hat und welche Funktion die Verfassung dem Bundestag zuschreibt – und welche wir ihm zuschreiben sollten.
Syrische Kriegsdienstverweigerer haben laut EuGH in Deutschland ein Recht auf Asyl und nicht bloß auf subsidiären Schutz. CONSTANTIN HRUSCHKA macht darauf aufmerksam, dass dies auch für bereits rechtskräftig entschiedene Asylanträge gelten dürfte.
Auch beim EGMR in Straßburg hat sich Deutschland eine Verurteilung eingefangen, Ende Oktober schon, da ein Strafgefangener keine Entschädigung für rechtswidrige Leibesvisitationen erhalten hatte. Das verletze das Verbot der erniedrigenden Behandlung, da auch immaterielle Schäden des Opfers bei schweren Grundrechtsverletzungen ausgeglichen werden müssten. EVA NEUMANN stellt fest, dass der deutsche Amtshaftungsanspruch mit seinem Verschuldenserfordernis und seinem nur restriktiven Ersatz immaterieller Nachteile einen wirksamen Rechtsschutz nicht immer ausreichend gewährleisten kann.
KATHRIN STRAUSS lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs von Baden-Württemberg, von der viel zu wenig Notiz genommen wurde: Wenn man bei der Einbürgerung der Sachbearbeiterin, die dieselbe vollzieht, das Ritual des Handschlags verweigert, kann das ein Grund sein, die Einbürgerung zu verweigern? Ja, sagt der VGH, und bewirkt damit nach Ansicht von Strauss nur einen “Zwang zur Konformität”.
Letzten Monat wurde Horst Mahler aus der Haft entlassen, bleibt aber dennoch immer noch der gleiche notorische Holocaust-Leugner wie eh und je. Was also tun? Wenn es nach der Staatsanwaltschaft geht, soll er in Zukunft dem LKA Brandenburg seine Veröffentlichungen spätestens eine Woche vor Erscheinen anzeigen. ANDREAS ZÖLLNER hält das verfassungsrechtlich für unhaltbar, denn das Grundgesetz verbietet eine Zensur auch bei Extremisten.
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Die deutsche Bundeshauptstadt Berlin ist für andere Dinge berühmt als für ihre musterhafte Verwaltung. Aber der Fall, den KLAUS FERDINAND GÄRDITZ analysiert, ist noch mal von anderer Qualität: Die Berliner Polizei hat einen „Tatverdächtigen“ zum Verhör vorgeladen, weil er angeblich einer Frau einen Schlag aufs Handgelenk versetzt haben soll nur ist der vermeintliche Täter sechs Jahre alt und sein Opfer seine Grundschulerzieherin. Die einzige Straftat, die hier nach Gärditz‘ Ansicht im Raum steht, ist die Verfolgung Unschuldiger nach § 344 StGB, Strafrahmen zwischen einem und zehn Jahren Freiheitsentzug.
Im Bundestag werden zwei Gesetzesentwürfe beraten, die die geschlechtliche Selbstbestimmung im personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag gewährleisten sollen. Laut RONJA HESS hat sich in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat gezeigt, wie schwach die Argumente der Befürworter_innen des status quo und wie unumgänglich Reformen geworden sind.
Vor anderthalb Jahren gingen Hunderttausende gegen den „Uploadfilter-Artikel“ 17 der Urheberrechtsrichtlinie auf die Straße, nun wird vor Gericht gestritten: FELIX REDA berichtet in deutscher und englischer Sprache von der öffentlichen Anhörung in der Klage Polens und stellt dar, warum Artikel 17 kaum mit der bisherigen Rechtsprechung von EuGH und EGMR vereinbar sein dürfte. Auch wenn das Schicksal des Artikels ungewiss ist: Den Mitgliedsstaaten läuft die Zeit davon, muss die Richtlinie doch bis Mitte nächsten Jahres umgesetzt sein. Eine Entscheidung des EuGH vor Ablauf der Umsetzungsfrist ist nicht zu erwarten.
Der Klimawandel ist auch ein Risikofaktor für das Finanz- und Bankwesen. Dennoch investieren Banken weiterhin in CO2-intensive Wirtschaftssektoren und treffen gleichzeitig unzureichende Vorkehrungen für potenzielle Verluste. Die EZB hat in ihrem 2020 Draft Guide on Climate-Related and Environmental Risks dargelegt, wie sie das Problem angehen möchte. AGNIESZKA SMOLEŃSKA und JENS VAN ‘T KLOOSTER sind allerdings skeptisch, ob der gewählte Ansatz Erfolg haben wird. Ihrer Ansicht nach wird die EZB nicht umhin kommen, in der Aufsicht eine politischere Rolle einzunehmen, wenn sie es mit einem „grünen“ Bankensystem ernst meint.
Das war’s. Ihnen alles Gute, und bitte versäumen Sie nicht, uns auf Steady, per Paypal (paypal@verfassungsblog.de) oder per Banküberweisung (IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03, BIC PBNKDEFF) zu unterstützen. Vielen Dank und bis nächste Woche,
Ihr
Max Steinbeis