Auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben
Österreich auf dem Weg in den Lockdown – eine Momentaufnahme
„Hegel“, so sollte der 34jährige Karl Marx Mitte des 19. Jahrhunderts festhalten, „bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen:“, so tadelt Marx, „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Darüber, wie Ereignisse jenseits der Farce zu bewerten sind, also solche, die sich nicht bloß zwei-, sondern dreimal einstellen, fehlt eine vergleichbar vielzitierte Aussage in der (philosophischen) Weltliteratur. Vielleicht liegt das daran, dass es sich ab drei nicht mehr lohnt partikulare Gesetzmäßigkeiten festzulegen und die Farce ohnehin kaum steigerungsfähig ist. Allenfalls bleibt die Binsenweisheit, dass „aller guten Dinge drei“ sind. Freilich: dass es gut ist, dass (und wie) Österreich in den dritten (?) Lockdown seit Beginn der Pandemie stolpert, würden selbst geneigte Betrachter*innen kaum behaupten.
Man mag nun einwenden: Ob Österreich in einen Lockdown geht, ist kein Ereignis, für das die Zuschreibung „weltgeschichtlich“ angemessen wäre. Und überhaupt: Es ist gibt ja noch gar keinen Lockdown; also jedenfalls nicht für die Genesenen und die Geimpften. Was die Ungeimpften unter den Österreicherinnen und Österreichern anlangt, ist die Sache anders. Hier gilt seit 15. November das strikte Regime der 5. COVID-19 Schutzmaßnahmenverordnung, das für diese Personengruppe (mit Ausnahmen insbesondere für Kinder und Jugendliche unter 12 Jahren) Ausgangsregeln, Betretungs- und Einlassverbote vorsieht. Wenige (rechtliche) Fragen haben seit Beginn der Pandemie so sehr polarisiert, wie das damit etablierte Regime. Diskriminierung rufen die einen. Alternativlos sagen die anderen.
Wahr ist wohl beides. Selbstredend handelt es sich bei den verfügten Maßnahmen um eine Diskriminierung – also jedenfalls in der wertneutralen Bedeutung, die dem Wort einmal mit Blick auf seinen Ursprung zugemessen wurde. Immerhin wird ja klar unterschieden. Die Frage, ob diese Unterscheidung gerechtfertigt oder gar angezeigt ist, ist wiederum an den Anforderungen des in Art 7 B-VG niedergelegten Gleichheitssatzes – dem Mutterrecht des Grundrechtsschutzes österreichischer Spielart – zu messen, der zentral die Frage nach der Sachlichkeit (oder der sachlichen Rechtfertigung) der normativ implementierten Differenz aufwirft. Ihre Antwort hängt entscheidend von der Belastbarkeit des empirischen Fundaments, auf dessen Basis der Verordnungsgeber seine Entscheidungen trifft, ab. Mit Blick auf die gesetzlich festgelegte zentrale Zielsetzung, die strukturelle Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden (oder hintanzuhalten), ist die so vorgenommene Differenzierung jedenfalls dann nicht unplausibel, wenn die von den Maßnahmen betroffene Gruppe jener entspricht, die die höchste Risikoneigung aufweist, ebendas (mittelbar oder unmittelbar) herbeizuführen. Eine (unsachliche) Privilegierung der verbleibenden Bevölkerung geht vor diesem Hintergrund nicht notwendig mit der verfügten Maßnahme einher (auch wenn die Polarisierung der österreichischen Gesellschaft dadurch normativ verfestigt wird).
Ob indes all dem (und den damit verbundenen Problemen, insbesondere, was den effektiven Vollzug anlangt) aus verfassungsrechtlicher Sicht mittel- oder gar langfristige Relevanz zukommt, ist denkbar fraglich. Die Ereignisse überschlagen sich förmlich. Mit nächster Woche gehen Oberösterreich und Salzburg in einen generellen Lockdown. Und die Rufe nach bundesweiten Ausgangssperren werden lauter. Österreich findet sich also in einem Zustand verdichteter normativer Volatilität, in dem – (wenn auch nicht allzu sehr) zugespitzt – an einen Tag nicht sicher ist, was am nächsten gilt. Allein die vorzitierte Schutzmaßnahmenverordnung, die nicht einmal 24 Stunden vor ihrem Inkrafttreten veröffentlicht wurde, spricht hier Bände. Freilich: Auch das ist nichts Neues. Auch hier wiederholt sich die Geschichte.
Das provoziert Unsicherheit. Und es ist rechtsstaatlich problematisch; nicht nur, weil Pressekonferenzen und -mitteilungen erneut an die Stelle des Bundesgesetzblattes treten, wenn es um den Rechtsrahmen geht, der die tägliche Lebensführung der Normunterworfenen bestimmt. Sondern ganz grundlegend, weil es den Rechtssubjekten kaum mehr Möglichkeit bietet, sich in eine Möglichkeit der Normen zu entwerfen, die Sicherheit über ihre Beständigkeit vermitteln könnte.
Das Problem ist keineswegs neu: Schon Lon Fuller lässt in seinem Hauptwerk, „Die Moral des Rechts“ mit Blick auf die missglückten Rechtssetzungsversuche von König Rex ein Pamphlet mit unflätigen Karikaturen des Königs und einem Beitrag mit dem Titel „Recht, das sich jeden Tag ändert, ist schlimmer als gar kein Recht“ zirkulieren. So weit wollen wir mit Blick auf die österreichische Rechtslage nicht gehen. Auch, wenn man sich in den letzten eineinhalb Jahren vielfach an König Rex erinnert fühlt. Aber eine Rechtslage, die ob ihrer Wechselhaftigkeit allenfalls Karl Stöger im Blick behält, kann – um bei Fuller zu bleiben – das „Unterfangen, menschliches Verhalten der Herrschaft von Regeln zu unterwerfen“, kaum begünstigen.
Man mag einwerfen, die zuvor angesprochene „verdichtete normative Volatilität“ sei der Unwägbarkeit der faktischen Gegebenheiten und einer Entwicklung geschuldet, die sich unvorhergesehen dramatisch zuspitzt. Das zu argumentieren, hieße indes über die Vielzahl an Warnungen hinwegzusehen, die die Situation in Österreich schon seit Wochen begleiten und manche Beobachter nunmehr dazu verhalten anzunehmen, der Staat wäre gar seinen positiven Verpflichtungen aus dem Grundrecht auf Leben nicht nachgekommen. Das scheint – nicht zuletzt auf Grund der komplexen Abwägung, die ein solcher Befund voraussetzt – ein wenig weit gegriffen. Fest steht freilich, dass die österreichische Politik sich in den letzten Monaten mit derartigem Erfolg gegen unpopuläre Maßnahmen gestemmt hat, dass diese sich dann, als sie schließlich schweren Herzens doch gesetzt wurden, nicht länger als effektiv erweisen konnten; und das die längste Zeit ohne über (zugegebenermaßen noch unpopulärere) Alternativen überhaupt öffentlich nachzudenken.
Aber gut, immerhin: auch hier wiederholt sich die Geschichte; und das in einem Land, dem ja zuweilen ein etwas verklärtes Verhältnis zur eigenen Geschichte (oder zumindest Teilen davon) nachgesagt wird. Vielleicht ist es ja dieser Umstand, der mit Blick auf die in den letzten Tagen offen zu Tage tretende Uneinigkeit der Regierung über die zu setzenden Maßnahmen, den Eindruck verstärkt, Grillparzer selbst hätte mit dem „Bruderzwist im Hause Habsburg“ das Drehbuch der jüngeren Vergangenheit verfasst: „Auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben“. In den nächsten Lockdown. Koste es was es wolle.
“Diskriminierung rufen die einen. Alternativlos sagen die anderen.
Wahr ist wohl beides.”
Geehrter Herr Bezemek,
leider unterließen Sie die Untersuchung der zweiten Behauptung. Es gäbe durchaus Alternativen, und sie begönnen mit der Anerkenntnis, das man sich auf einen Irrweg begeben hat, ganz zu Anfang.
Sie erinnern sich?: “flatten the curve” war das Konzept umschrieben, dem man folgen wollte. Es war vernünftig, wissenschaftlich fundiert, und wäre durchführbar gewesen. Tatsächlich, so möchte ich meinen, haben die “Lenkenden” es bisher nicht vermocht, es durch ihr Nichtbegreifen scheitern zu lassen. Da haben wir Glück gehabt!
Jeder, ob an verantwortlicher Stelle oder einfacher Bürger, hat 2020 Grafiken gesehen, die “flatten the curve” veranschaulichten; es gab auch interaktive Modelle, an denen jeder im Netz mit den Parametern spielen konnte. Was anscheinend wenigen aufgefallen ist, oder was nicht begriffen wurde: Der Flächeninhalt unter allen möglichen Kurven bleibt der gleiche. Das bedeutet: Eine konstante Anzahl von Menschen WIRD erkranken. Unweigerlich wird auch ein nicht beeinflussbarer Mindestanteil von Menschen so schwer erkranken, dass Tod die Folge ist.
Nicht ein Mensch weniger stirbt, wenn es gelingt, die strukturelle Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Jedenfalls so lange nicht, bis eine effektive Behandlung der Viruserkrankung, oder eine wirksame medizinische Prophylaxe zur Verfügung steht. Das hätte begriffen, und offen und ehrlich kommuniziert werden müssen.
An der Auslastung des Gesundheitssystems hätte man sich orientieren müssen. Unter Verwendung einer Inzidenz im medizinischen Sinne als deskriptivem Parameter, der prognostische Aussagen erlaubt. Die “Inzidenz”, die wir nutzen, ist keine medizinische, denn sie gibt nicht die Häufigkeit eines Krankheitsgeschehens wider. Einen deskriptiven Wert hat sie nicht, sondern ist Spielzeug in den Händen von Narren.
Vermutlich wären wir besser gefahren, hätten wir keinen PCR-Test gehabt, denn erst dieser eröffnete Möglichkeiten, dem illusionären Konzept “zero covid” zu verfallen. Diesem Konzept folgt, in Abwandlungen, die Pandemie”bekämpfung”, die wir in Europa erleben.
Eine Epidemie bekämpfen zu wollen mit der Zielvorstellung “niemand soll sterben” ist ungefähr so sinnvoll wie das Eintreten eines Unwetters zu verhindern wünschen – es geht nicht! Man kann sich nur sinnvoll gegen manche Auswirkungen absichern, und die Katastrophenhilfe gut organisieren.
Solange wir uns von dem grundlegenden Irrtum nicht befreien können, die Pandemie wäre verhinderbar, ist keine sinnvolle Steuerung des Geschehens möglich. Ob wir jetzt über eine wirksame medizinische Prophylaxe verfügen? ist an anderer Stelle zu diskutieren.
Sie ist keinesfalls wirksam genug, und wird es nie sein, eine “zero covid”-Strategie in den Bereich des Möglichen zu bringen. Darauf gebe ich mein Ehrenwort als Biologe. Wirtsspezifische, und einigermaßen erbkonstante Erreger wie z.B. die für Polio und Pocken können auf diese Weise kontrolliert werden, bis zur Eliminierung. Coronaviren erfüllen keine dieser beiden Grundvorraussetzungen.