20 February 2022

Blockieren bis zum Ausnahmezustand

Am 14. Februar 2022 hat der kanadische Premierminister Justin Trudeau erstmals seit 1970 den Ausnahmezustand in Kanada erklärt. Zum zweiten Mal seit 1914 hat damit die Zentralregierung einen Ausnahmezustand in Friedenszeiten verhängt. Die Maßnahme wird seitens seiner Partei vor allem mit den ökonomischen Folgen der Blockaden von Grenzübergängen und den Ereignissen in Ottawa begründet. Man habe zwar weniger einschneidende Maßnahmen geprüft. Diese seien aber nicht hinreichend, um der Proteste Herr zu werden. Welche Maßnahmen dies waren, blieb auch auf Nachfragen in einer Pressekonferenz und im Parlament offen. Was Trudeau zu diesem Vorgehen veranlasst hat, ist unklar. Nahe liegt, dass er Handlungskompetenz demonstrieren wollte. Ebenso unklar ist, warum den Blockaden nicht mit normalen polizeilichen Mitteln begegnet werden kann.

Gesetzliche Ausnahmebefugnisse

Der Emergencies Act trat 1988 als Nachfolgeregelung zum War Measures Act von 1914 in Kraft, der bis dahin Regelungen zum Ausnahmezustand im Falle von Katastrophen, Krieg, Invasion oder Aufständen enthielt. Eine parlamentarische Kontrolle war nicht vorgesehen; eine gerichtliche Überprüfung erfolgte nur in engem Rahmen und ohne essentiellen Erfolg. Der War Measures Act kam in beiden Weltkriegen zur Anwendung. Daneben wurde das Gesetz 1970/71 in der so genannten Oktober-Krise während der politischen Auseinandersetzungen über die Unabhängigkeit Quebecs angewandt. Auf die Entführung des britischen Handelskommissars und des Arbeitsministers durch die Mitglieder der Front de Libération du Québec (FLQ) folgten 3000 Hausdurchsuchungen und fast 500 Festnahmen, die indes nur in rund 60 Fällen zu Anklagen führten. Pikanterweise erfolgte die seinerzeitige Erklärung des Ausnahmezustandes durch den Vater des jetzigen Premierministers, Pierre Trudeau. Diese Erfahrung hat tiefe Spuren in der (rechtlichen) Diskussion hinterlassen, nicht nur in Quebec, dessen Regierung aktuell verlauten ließ, Maßnahmen nach dem Emergencies Act nicht anwenden zu wollen.

Auch wenn bereits die Maßnahmen 1970/1971 rechtlich und politisch umstritten waren, wurde das kanadische Ausnahmerecht erst im Zuge der 1982 mit Verfassungsrang verabschiedeten Canadian Charter of Rights and Freedoms reformiert. Der 1988 in Kraft getretene Emergencies Act sollte auch im Ausnahmezustand die Freiheitsrechte stärker beachten, einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle unterliegen und die Machtbalance zwischen Bundesregierung und Provinzen wahren.

Trucker Proteste und „Freedom Convoy“

Was führte nun im Februar 2022 dazu, dass die kanadische Regierung erstmalig eine Verhängung von Maßnahmen nach dem Emergencies Act für zulässig und notwendig hielt? Anlass waren die Aktionen von „Truckern“ mit ihren – für europäische Verhältnisse – riesigen LKW, die insbesondere den Grenzverkehr mit den USA behinderten bzw. vollständig blockierten. Hinzu kamen Demonstrationen und massive Ansammlungen solcher LKW in Ottawa, vor allem am Sitz der Regierung und des Parlaments, aber auch in Wohngebieten. Auslöser oder vielleicht besser „Aufhänger“ der Proteste waren Regelungen zur Impfpflicht für LKW-Fahrer*innen beim Grenzübertritt aus und in die USA sowie eine allgemeine Kritik an den Maßnahmen der kanadischen Regierung zu COVID-19, die in weiten Bereichen mit denen in Deutschland vergleichbar sind.

Recht schnell wurde offenbar, dass die Proteste mit der Überhöhung zum „Freedom Convoy“ aber auch weitergehende Ziele verfolgen, wenn etwa zum Sturz der Regierung und der Auflösung des Parlaments aufgerufen wird. Während vor allem die Konservative Partei die Proteste als wenig störend für das öffentliche Leben einordnet, sehen andere in ihnen eine kanadische Variante des Trumpismus. Es sind dabei nicht alleine LKW-Fahrer*innen und deren Sympathisant*innen, welche die Proteste tragen. Die Proteste werden zugleich von einer auch aus Deutschland bekannten Melange (überwiegend rechter) politischer Akteuren dazu genutzt, ihre Vorstellungen einer politischen Neuordnung zu artikulieren. Zwei weitere wichtige Faktoren kommen hinzu: Zum einen konnten die Protestierenden durch gut organisiertes Crowdfunding bis Anfang Februar 2022 bereits 10 Millionen kanadische Dollar einsammeln; die dann aber mit Blick auf deren Aktivitäten und die Verbreitung von „Einschüchterung und Gewalt“ von der bis dahin genutzten Crowdfunding Plattform „eingefroren“ wurden, was zum Wechsel zu einer „christlichen“ Plattform führte. Ein Großteil dieser Spenden kommt offenbar aus den USA, was im Parlament seitens der Trudeau-Partei als Begründung für den Versuch eines Staatsreiches mit Mitteln aus dem Ausland angeführt wurde. Zum anderen konnten die Protestierenden auf ein breites Netz praktischer Unterstützung zurückgreifen, das bis in die Politik hineinreicht. Die Akteure sind nach Presseberichten zudem taktisch-strategisch und mit Blick auf mögliche Reaktionen der Sicherheitskräfte bestens aufgestellt, weil – wie bei der Erstürmung des Kapitols in Washington –  im Hintergrund außer Aktivisten der politischen Rechten auch zum Teil hochrangige ehemalige Mitglieder der Sicherheitskräfte bei der Durchführung mitwirken und diese beste Kenntnisse möglicher Reaktionen der Sicherheitskräfte haben.

Hat die Polizei versagt?

Bedurfte es vor diesem Hintergrund tatsächlich einer Verhängung des Ausnahmezustandes oder war dieser zumindest faktisch legitimiert? Hätte die Polizei die Lage nicht mittels „robuster“ Maßnahmen bereinigen und auf das Strafrecht zurückgreifen können, um public order wiederherzustellen? Immerhin finden sich in Sec. 63 ff. des Criminal Code sehr weitreichende Regelungen zu unlawful assemblies und riots, die offenbar im Kontext der Proteste in Ottawa bis zur Verhängung des Ausnahmezustandes Mitte Februar nicht oder nur in sehr geringem Umfang genutzt wurden. Ist also die Behauptung der Regierung, andere Mittel zur Beendigung der Blockaden ständen nicht zur Verfügung überhaupt haltbar?

Der Polizeichef von Ottawa, Peter Sloly, sah offenbar bis Mitte Februar eine vermittelnde und zurückhaltende Reaktion der Polizei als sinnvollen Ansatz. Die Polizei sprach und verhandelte über Tage hinweg mit den Protestierenden, um das Recht auf Versammlungsfreiheit zu garantieren und andererseits die Proteste in einem gewissen Umfang einzuhegen; offenbar nicht untypisch für den Umgang mit Protest zumindest zu Beginn. Sloly, der für einen community oriented policing Ansatz bekannt war und versuchte, die Lage diskursorientiert zu behandeln, erklärte nach zunehmender Kritik, dass seine Behörde es nicht geschafft habe, die Blockaden in der Hauptstadt zu kontrollieren und aufzulösen, am 15. Februar seinen Rücktritt. In Teilen der Öffentlichkeit wurde sein Rücktritt als fataler „Schritt zurück“ für die Entwicklung einer bürgernahen Polizei gewertet. Mit Blick auf Reaktionen auf seinen Rücktritt erscheint es dabei wenig plausibel, ihm Sympathien mit den Protesten zu unterstellen. Auch nach der Verhängung des Ausnahmezustandes wurde den Truckern noch über Tage hinweg Zeit eingeräumt, das Feld zu räumen, bevor die Befugnisse aus dem Ausnahmezustand zur Anwendung kommen sollten. Mit Blick auf die Umsetzung polizeilicher Maßnahmen und deren Vorbereitungszeit muss beachtet werden, dass hier neben der städtischen Polizei auch die der Provinz und die „Mounties“ (Royal Canadian Mounted Police) involviert sind. Ottawa selbst verfügt bei mehr als einer Million Einwohnern nur über rund 1.600 Polizeivollzugsbeamt:innen. Ab 17. Februar wurde die Polizeipräsenz deutlich erhöht, die Kernzone wurde von der Polizei abgesperrt und zwei Anführer:innen der Blockade von der Polizei festgenommen. Den Protestierenden wurden Festnahmen, Kostenrechnungen und eine Beschlagnahme ihrer Fahrzeuge angedroht. Am 19. Februar dauerten die Proteste ebenso wie die polizeilichen Maßnahmen dagegen an, nachdem ein Teil der Fahrer:innen ihre Fahrzeuge entfernten, um weitere Maßnahmen zu vermeiden, während andere diese so dicht hintereinander parkten, dass die Polizei große Probleme hatte, diese abzuschleppen. Warum die von der Polizei ergriffenen Maßnahmen rechtlich bis zur Verhängung des Ausnahmezustandes nicht möglich gewesen wäre, ist nicht erkennbar. Anzeigen wegen unzulässiger Versammlungen wurden bis zum Rücktritt des Polizeichefs und auch danach nicht oder nur in geringer Zahl gefertigt.

Was bringt der Ausnahmezustand?

Welche neuen Befugnisse bringt nun der Ausnahmezustand und was sind deren Voraussetzungen? Ohne gesetzliche Regelungswirkung zu entfalten, hält die Präambel des Emergencies Act fest, dass im Falle eines national emergency die Regierung befugt ist, „to take special temporary measures that may not be appropriate in normal times“, soweit beide Kammern des Parlaments dem zustimmen. Section 3 des Gesetzes definiert sodann, dass ein solcher Fall vorliegt in: “an urgent and critical situation of a temporary nature that seriously endangers the lives, health or safety of Canadians and is of such proportions or nature as to exceed the capacity or authority of a province to deal with it, or (b) seriously threatens the ability of the Government of Canada to preserve the sovereignty, security and territorial integrity of Canada and that cannot be effectively dealt with under any other law of Canada.”  

 Vorliegend handelt sich aus Sicht der Regierung um einen Fall von Public Order Emergency.  Nach Sec. 16 des Emergencies Act handelt es sich dabei um “an emergency that arises from threats to the security of Canada and that is so serious as to be a national emergency”. Die Deklaration des Ausnahmezustandes muss nach gesetzlichen Vorgaben hinreichend präzise Gesichtspunkte zur Begründung umfassen. Diese muss nach Sec. 58 binnen sieben Sitzungstagen beiden Häusern des kanadischen Parlaments vorgelegt werden, was am 16. Februar 2022 geschah. Seit dem 17. Februar wird im Unterhaus über die Notwendigkeit der Maßnahme debattiert. Anders als im Senat gilt hier eine Zustimmung als sicher.

Ob und in welchem Umfang die kanadische Regierung bei der Anordnung des Ausnahmezustandes den gesetzlich statuierten Voraussetzungen und Pflichten nachgekommen ist und vor allem, ob die gesetzlichen Voraussetzungen eines Ausnahmezustandes vorliegen, erscheint zweifelhaft, lässt sich bisher aber nur in Umrissen nach regierungsamtlichen Verlautbarungen und Presseberichten beurteilen. Nach Sec. 18 (2)  gilt der Ausnahmezustand für 30 Tage, wenn dieser vom Parlament bestätigt und nicht früher von der Regierung aufgehoben oder verlängert wird. Die zulässigen Maßnahmen werden ausführlich in Sec. 19 geregelt und umfassen solche, die „on reasonable grounds, are necessary for dealing with the emergency“. Hierzu gehören nach dem Gesetz unter anderem die Beschränkung oder das Verbot jeder „public assembly that may reasonably be expected to lead to a breach of the peace“.

Maßnahmen auf Grundlage des Emergencies Act umfassen neben einer Räumung aller Blockaden auch eine Verpflichtung von Abschleppunternehmen, im Auftrag der Polizei LKW aus den Blockaden abzuschleppen, was von diesen zum Teil abgelehnt wird. Verboten wird nach dem Recht des Ausnahmezustandes oder vergleichbaren Maßnahmen der Provinzregierung ebenso wie nach einer gerichtlichen Anordnung für 60 Tage das Hupen von LKW in Ontario. Ebenso untersagt ist das Betreten von Orten, um dort an anderen als friedlichen und zulässigen Protesten teilzunehmen. Insbesondere verboten sind Demonstrationen an Parlamentsgebäuden und nationalen Monumenten. Ebenso verboten sind Versammlungen jenseits zulässigen Protests oder Dissens in der Nähe kritischer Infrastrukturen und geschützter Orte, soweit dies nach „plausibler Einschätzung“ zu einem Bruch des öffentlichen Friedens führt. Dabei scheint die Anordnung der Regierung alle diese Gebäude zu umfassen, ohne hierfür nähere geographische oder faktische Vorgaben vorzusehen, wie die Abgeordnete Elizabeth May in der Debatte im Parlament darlegte. Verboten ist auch, andere Menschen bei der Nutzung von Straßen und Brücken zu behindern. Möglich ist der Entzug des Führerscheins für Teilnehmer*innen an Protesten und mehr. Crowd Funding Plattformen sollen Geldeingänge ab einer bestimmten Höhe melden müssen. Guthaben von Aktivisten werden eingefroren. Dabei bestand auch am Tag 3 nach der Deklaration des Ausnahmezustandes noch Unklarheit, welche Maßnahmen nun im Einzelnen wo gelten sollen.

Unmittelbar nach Verkündung durch Premierminister Trudeau entbrannte eine kontroverse Diskussion über die Zulässigkeit und Notwendigkeit des Ausnahmezustandes, die hier nur in Ansätzen wiedergegeben werden kann.

Die alt eingesessene Bürgerrechtsorganisation Canadian Civil Liberties Union lehnt den Ausnahmezustand ab, weil dessen gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien und weil Regierungen immer wieder gefordert seien, Probleme mit dem Repertoire üblicher gesetzlich zulässiger Maßnahmen zu lösen. Eine grundsätzliche Ablehnung von Ausnahmerechten wurde indes schon 1970 von dieser Organisation nicht artikuliert. Wurde in den Medien zunächst durchaus Verständnis für die Maßnahmen geäußert, sind die Reaktionen nur ein bis zwei Tage später deutlich kritischer. Nach Wochen der Untätigkeit werde nun mit der Verhängung des Ausnahmezustandes die „Atombombe“ gezündet. Es wird befürchtet, die Maßnahme werde die politische Diskussion beschränken und kritisiert, die Protestierenden seien mit deutlich mehr Respekt und Zurückhaltung seitens der Polizei behandelt worden als dies etwa bei Protesten von indigenen Einwohnern oder Umweltschützern oder People of Color in Kanada der Fall sei. Wie auch jetzt wurde schon in der Diskussion über die Einführung des Emergencies Act 1988 vorgebracht, dass aus dem Ruder laufende Demonstrationen mit den Mitteln des Strafrechts entgegengetreten werden könne; eines Ausnahmezustandes bedürfe es hierfür nicht.

Fazit

Die Erklärung des Ausnahmezustandes in der Oktober-Krise 1970/71 stieß offenbar auf Zustimmung der Bevölkerung. Aus Sicht der Freiheitsrechte war dies jedoch ein Debakel, das die Diskussion bis heute prägt. Ob Geschichte sich wiederholt, bleibt abzuwarten. Was Trudeau zu dem Schritt angetrieben hat, bleibt noch zu erkunden. Ob die Gerichte im Falle einer Anfechtung die Maßnahmen für rechtmäßig erklären werden, ist derzeit nicht absehbar. Wenn allerdings einige hundert bestens organisierte, entschlossene und radikale Protestierende mit finanzieller Unterstützung der Rechten in den USA bereits die Verhängung des Ausnahmezustandes rechtfertigen, was wird dann in Kanada erst bei Massenprotesten für zulässig gehalten?


One Comment

  1. Keanu Dölle Sun 13 Aug 2023 at 19:32 - Reply

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