Böckenförde, der Ausnahmezustand und Carl Schmitt: Was Böckenförde von Schmitt gelernt hat – und was Schmittianer von Böckenförde lernen sollten
1. „Wenn man die Schrift phänomenologisch-analytisch und nicht als normative Theorie liest, dann ist sie einfach überzeugend.“ – So äußerte sich Böckenförde in seinem biographischen Interview mit Dietrich Gosewinkel zu Carl Schmitts „Der Begriff des Politischen“ (S. 369): „Wie wollen Sie die heutige politische Welt verstehen ohne die Erkenntnis, daß das Politische immer wieder auf Feindschaft hinauslaufen kann, nicht muß, aber kann, und es oftmals tut?“ (S. 362).
Er habe Schmitt gesagt, dass er „als sein bedeutendstes Werk nicht die Verfassungslehre ansehe“ – sondern eben den Begriff des Politischen. Das Werk sei „sehr oft mißverstanden worden“, aber im Grunde enthalte es, „wenn man genau liest, eine kriteriologisch-phänomenologische Analyse und nicht eine normative Theorie. Und als solche trifft sie zu.“ (S. 361 f.): „Es ist erstaunlich, wie Carl Schmitt das auf etwa 70, 80 Seiten so zupackend beschreiben konnte. Natürlich ist es an etlichen Stellen polemisch akzentuiert, aber das ändert nichts daran, daß ich den tragenden Gesichtspunkt einfach für fundamental halte.“ (S. 369; vgl. auch hier, S. 598, 600, 605, aber auch S. 606 oben).
Die Kernthese der Schrift Schmitts lautet, dass das Politische durch den Freund-Feind-Gegensatz gekennzeichnet sei, durch jenen stärksten Intensitätsgrad der Assoziation oder Dissoziation, der zu der Bereitschaft führen kann, den Feind zu töten.
Böckenförde überzeugte dies als Analyse eines sozialen Phänomens, als Beschreibung einer fundamentalen Tatsache der sozialen Wirklichkeit, der die staatliche Rechtsordnung Rechnung tragen muss: Die demokratische Verfassungsordnung, kann die Freiheit und die Gleichheit aller – jene aufklärerischen Ideen von 1789, für die Böckenförde, anders als Schmitt, bedingungslos eintrat – nur dann wirkungsvoll sichern und schützen, wenn sie sich der Möglichkeit einer Feindschaft auf Leben und Tod bewusst bleibt und sie berücksichtigt.
Schmitts Analyse brachte für Böckenförde grundlegende Einsichten auf den Punkt, die – soziologisch betrachtet – leider bis auf weiteres zutreffen und denen sich eine freiheitliche Demokratie nicht realitätsblind verschließen darf, will sie im Ausnahmezustand nicht von der Dynamik des Freund-Feind-Gegensatzes hinweggefegt werden. Sie muss auf diese Dynamik gefasst sein, die sich in der Geschichte immer wieder realisiert hat, in Bürgerkriegen und Kriegen ebenso wie im Kampf terroristischer „Partisanen“. Sie muss sich darauf einstellen und ihre Handlungsfähigkeit auch im Falle solcher Konflikte nach Kräften sicherstellen – ohne jedoch dabei ihre Freiheitlichkeit aufzugeben.
2. Solche Lehren lassen sich aus der Schrift ziehen – „[w]enn man“ sie „phänomenologisch-analytisch und nicht als normative Theorie liest“, wie Böckenförde betonte. Carl Schmitts „Der Begriff des Politischen“ erlaubt freilich auch die andere, die normative Lesart, auch wenn Böckenförde sie für ein Missverständnis hielt. Nach ihr beansprucht die existentielle Selbstbehauptung der Gemeinschaft im Kampf gegen den Feind den Vorrang vor allen menschenrechtlichen Hindernissen.
Die Wendung vom Normativen zum Existenziellen ändert schließlich nichts daran, dass Schmitt auch damit der existenziellen Selbstbehauptung letztlich die stärkere handlungsleitende Kraft zuspricht, etwa wenn er feststellt, „[d]er Krieg, die Todesbereitschaft […], die physische Tötung […], alles das“ habe „keinen normativen, sondern nur einen existenziellen Sinn“; die physische Vernichtung des Feindes lasse sich nicht durch Normen rechtfertigen, sondern geschehe „aus der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform“, sie sei „sinnvoll, aber nur politisch sinnvoll“ (hier, S. 49 f.). Es bleibt sich letztlich gleich, ob man den Kampf gegen den Feind als das höchste normatives Gebot kennzeichnet oder als existenzielle Notwendigkeit, die sich gerade nicht in Normen einfangen lässt: So oder so zieht man die rettende Tat der wehrlosen Untätigkeit vor; so oder so weist man dem wehrhaften Verteidigungsimpuls eine existenziellere Bedeutung zu als der Achtung vor der Mitmenschlichkeit auch des Feindes.
An anderen Stellen verwendet Schmitt zudem auch selbst stärker auf normative Richtigkeit verweisende Formulierungen, etwa wenn er davon spricht, dass der Staat die „ungeheure Befugnis“ bei sich konzentriert habe, im Krieg „offen über das Leben von Menschen zu verfügen“ (S. 36), oder von der „elementare[n] Richtigkeit“ des „Schutz-Gehorsam-Axioms“, nach dem der Schutzherr den Feind bestimme (S. 54).
Auch fügt es sich zu einer (auch) normativen Deutung seiner Aussagen, wenn Schmitt später, 1934 in „Der Führer schützt das Recht“, die Staatsmorde nach dem so genannten „Röhm-Putsch“ als „Tat des Führers“ verherrlicht und dazu ausführt, sie sei „nicht die Aktion eines republikanischen Diktators“ gewesen, „der in einem rechtsleeren Raum […] vollendete Tatsachen schafft“, sondern „echte Gerichtsbarkeit“, die „derselben Rechtsquelle“ entspringe, „der alles Recht jedes Volkes entspringt“: „In der höchsten Not bewährt sich das höchste Recht […]. Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes.“ (hier, S. 200 f.).
Im 19. Jahrhundert habe „Dufour […] den jeder gerichtlichen Nachprüfung entzogenen Regierungsakt […] dahin definiert, daß sein Ziel die Verteidigung der Gesellschaft […] gegen […] Feinde sei“; in einem „Führerstaat aber“ müsse „das, was sonst für einen ‚Regierungsakt‘ Rechtens ist, in unvergleichlich höherem Maße für eine Tat gelten, durch die der Führer sein höchstes Führertum und Richtertum bewährt“ habe (S. 201 f.).
3. Gleich ob es Schmitt nun aber exegetisch gerecht wird oder nicht – es war jedenfalls ein solches normatives Verständnis seiner Lehre, das der internationalen Schmitt-Rezeption nach den terorristischen Anschlägen vom 11. September 2001 zu einem weiteren starken Schub verholfen hat.
Eine Schmittianische Lehre, die den Überlebenskampf einer Gemeinschaft gegen ihre Feinde als existenzielle Notwendigkeit zum obersten normativen Gebot erhebt, kam wie gerufen, um als Rechtfertigung dafür herzuhalten, einen „Krieg gegen den Terror“ auszurufen und die letzten rechtsstaatlichen Fesseln abzustreifen, um Terrorismusverdächtige in Guantanamo und in anderen Gefängnissen ohne gerichtliche Haftprüfung oder Einmischung zu inhaftieren und zu foltern.
Wie Quinta Jurecic festgehalten hat, waren wenige der vielen unerwarteten intellektuellen Wendungen der frühen Jahre nach 9/11 so unerwartet – oder so wendungsreich– wie die plötzliche Rückkehr von Carl Schmitt zur Prominenz („Few of the many unexpected intellectual twists and turns of the early post-9/11 years […] were quite so unexpected—or quite so twisty and turny—as the sudden return to prominence of […] Carl Schmitt.”).
4. An der Harvard Law School belebt Adrian Vermeule schon seit geraumer Zeit Carl Schmitt wieder neu, und zwar gerade auch seine Lehre vom Ausnahmezustand.
In „Our Schmittian Administrative Law“ (Harv. L. Rev. 122 [2009], 1096]) erläuterte Vermeule, das Verwaltungsrecht der Vereinigten Staaten sei notwendigerweise von rechtlichen „schwarzen Löchern“ und „grauen Löchern“ durchsetzt, weil Schmitts empirische und institutionelle Einsicht zutreffe, dass sich Ausnahmezustände aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit realistischerweise nicht von hochspezifischen Ex-ante-Regeln regulieren lassen (vgl. p. 1099-1106; s. auch p. 1136 zur Frage der Übertragbarkeit der These auf andere Rechtsordnungen). Ein Beispiel dafür sei die gerichtliche Haftprüfung in Guantanamo und anderen Anti-Terror-Gefängnissen (p. 1133-1134).
Wie bei Schmitt, und anders als bei Böckenförde, lässt sich bei Vermeule die kunstvolle Verschlingung von neutraler Analyse mit einer letztlich normativen Wertung beobachten, die den Vorrang der Gemeinschaft vor den Einzelnen und ihren Rechten – der sich als Sprengsatz für den liberalen demokratischen Rechtsstaat auswirkt – in ambivalenten Formulierungen zumindest mittransportiert. Denn schließlich können dem, was empirisch oder institutionell unausweichlich ist, auch keine menschenrechtlichen Hindernisse entgegengesetzt werden: impossibilium nulla est obligatio.
Vermeule hat zwar neuerdings Alexander Hamilton (and James Madison) als Vorläufer solcher Schmittianischen Einsichten ausfindig gemacht (womöglich als Reaktion auf den Ratschlag, Schmitt wegen seiner geschichtlichen Belastung doch besser aus seinem Theorieansatz „herauszuschmeißen“; „to toss out Schmitt“; vgl. hier): Als Publius hätten Hamilton und Madison eine Dynamik oder einen Mechanismus identifiziert, der große Aufmerksamkeit verdiene, „das Publius-Paradox“: Wenn die Fesseln des Konstitutionalismus zu eng angezogen würden, dann würden sie gesprengt, wenn die Umstände es verlangen (The Publius Paradox, Modern L. Rev. 82 (2019), 1 [1]). Eine Gemeinschaft werde sich selbst entsprechend den „pragmatischen Imperativen der gegebenen Umstände“ verteidigen, „was immer das Recht auch sage“ („A polity will defend itself according to the pragmatic imperatives of natural circumstances, whatever law might say.“; p. 4). Schmitt wird jedoch auch dort, wo Vermeule nunmehr die amerikanischen Verfassungsväter heranzieht, noch die gebührende Ehre erwiesen – indem stattdessen der (für Schmitt so wichtige) Donoso Cortes zitiert wird (S. 11 Fn. 34).
Wie bei Schmitt ist der scharfsinnigen Analyse Vermeules teils beizupflichten – ihren weiterreichenden normativen Suggestionen und Unterströmungen jedoch entgegenzutreten. Zwar ist kaum bestreitbar, dass im Ausnahmezustand allzu leicht alle rechtlichen Skrupel verfliegen können. Eine Demokratie kann aber auch im Kampf gegen terroristische Feinde an Regeln wie der gerichtlichen Haftprüfung oder dem Folterverbot festhalten. Weder deren Charakter als ‚hochspezifische Ex-ante-Regeln‘ noch das Publius-Paradox, nach dem „zu enge“ rechtliche Fesseln gesprengt werden, schließen das aus.
5. Böckenförde ging es bei allen Einsichten Schmitts, an die er anknüpfte, darum, sie für die freiheitliche Demokratie zu bergen, sie liberal-rechtsstaatlich zu wenden und das Aufbewahrenswerte an ihnen für die Verfassungsordnung des Grundgesetzes nutzbringend weiterzuentwickeln. Er sah es als Erfolg seines wissenschaftlichen Lebenswerkes, „Carl Schmittsche Begriffe liberal rezipiert zu haben“ (s. hier, S. 486).
Das gilt etwa für das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip, nach dem nicht die Bürgerin die Freiheitsausübung, sondern der Staat deren Beschränkung rechtfertigen muss. Es gilt ebenso für Schmitts Grundgedanken, dass „die Befugnis, die Verfassung zu ändern und zu ergänzen, nicht grenzenlos sein kann und nicht verliehen worden ist, um die Verfassung selbst zu beseitigen“ (Verfassungslehre, 1928, S. 106). Böckenförde sah diesen Gedanken zu Recht als „der Sache nach durch Artikel 79 Absatz 3 in das Grundgesetz hineinrezipiert“ (s. hier, S. 369). Schmitt selbst hatte dafür im Übrigen seinerseits auf William L. Marbury zurückgegriffen (Marbury, The Limitations upon the Amending Power, in: Harvard L. Rev. 33 [1919/1920], S. 223 ff.; vgl. ibid., S. 225: “It may be safely premised that the power to ‘amend’ the Constitution was not intended to include the power to destroy it.”).
6. Und es gilt auch für Böckenfördes Rezeption der Schmittschen Einsicht in die Möglichkeit einer Freund-Feind-Konfrontation und eines daraus resultierenden Ausnahmezustands.
Böckenförde schlug vor, in das Grundgesetz stärkere und wirksamere Notstandsregelungen aufzunehmen, um für diese Möglichkeit besser gewappnet zu sein. Nach seinem Regelungsvorschlag für eine generelle Notstandsbefugnis de constitutione ferenda sollten jedoch die Grundsätze der Menschenwürde und des Menschenrechtsbekenntnisses (Art. 1 Abs. 2 GG) sowie noch zu bestimmende Einzelgrundrechte „[i]n keinem Fall […] außer Anwendung gesetzt werden“ dürfen (vgl. Ausnahmerecht und demokratischer Rechtsstaat, in: Vogel/Simon/Podlech [Hrsg.], Die Freiheit des Anderen – Festschrift für Martin Hirsch, 1981, S. 259 [268-270], Art. Y Abs. 3).
Auch im Ausnahmezustand sollte ein ausnahmefestes Grundrechtsminimum gelten, sollten „alleräußerste Grenzen, vergleichbar den Prinzipien der Art. 1 und 20 GG“ unüberschreitbar bleiben (Der verdrängte Ausnahmezustand, in: NJW 1978, S. 1881 [1890]).
Für Böckenförde war der Ausnahmezustand gerade „nicht ein Freibrief zu willkürlichem, an keine rechtliche Grenze mehr gebundenem Handeln“, sondern er sollte „ein ausgeformtes und in sich umgrenztes Rechtsinstitut“ sein (Die Krise der Rechtsordnung: der Ausnahmezustand, in: Krzysztof Michalski (Hrsg.), Über die Krise, 1986, S. 183 [188]).
Dementsprechend war er auch überzeugt, dass es eine öffentlich-rechtliche Ermächtigungswirkung strafrechtlicher Vorschriften oder eines „übergesetzlichen Notstands“ auch wegen des insoweit abschließenden Charakters der speziellen Regelungen des öffentlichen Rechts, vor allem des vorrangigen Verfassungsrechts, nicht geben kann (NJW 1978, S. 1881 [1882-1884]) – eine Frage, die er übrigens durch spätere Ausführungen von Gertrude Lübbe-Wolff ( Rechtsstaat und Ausnahmerecht – Zur Diskussion über die Reichweite des § 34 StGB und über die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Regelung des Ausnahmezustandes, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 11 [1980], S. 110 [111-117]) als in diesem Sinne „juristisch endgültig beantwortet“ sah: „Wer sie widerlegen will, wird sich daran die juristisch-dogmatischen Zähne ausbeißen.“ (Böckenförde, Rechtsstaat und Ausnahmerecht – Eine Erwiderung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 11 [1980], S. 591 [592]).
7. Schmittianer sollten daher von Böckenförde lernen, dass Schmitts Lehre sich nicht für die Behauptung heranziehen lässt, im Ausnahmezustand seien jegliche spezifische rechtliche Grenzen unausweichlich wirkungslos.
Wann immer Carl Schmitts Lehren rezipiert werden, darf eine Auseinandersetzung mit Böckenfördes Deutung nicht fehlen. Zwar wies Böckenförde die Bezeichnung (durch Mehring) als Schmitts „Meisterschüler“ aus gutem Grund zurück (s. nochmals das Gosewinkel-Interview, S. 381: „Wenn das so diesen Akzent hat, der hat ihn voll rezipiert, dann würde ich sagen, nein, da war ich kein Meisterschüler”). Aufgrund seines intensiven persönlichen Austauschs mit ihm war Böckenförde jedoch mit Schmitts Standpunkten wahrscheinlich so eng vertraut wie niemand sonst in der deutschen Staatsrechtslehre (was etwa die Reaktion Vermeules auf die Empfehlung von Ralf Michaels, beim Rückgriff auf Schmitts Kritik am Liberalismus auch Böckenfördes Einsichten zu berücksichtigen, so irritierend macht).
Wenn Böckenförde in Schmitts Analysen kein Hindernis dafür sah, auch für den Ausnahmezustand an einem Grundrechtsminimum festzuhalten, sollte dies jedem zu denken geben, der Schmitt anders liest.
Bei der Trauerfeier für Ernst-Wolfgang Böckenförde am 9. März 2019 berichtete Johannes Masing, als er 1980 im dritten Semester Böckenfördes Seminar besucht habe, sei er sich erstmals sicher gewesen, mit Jura das richtige Fach gewählt zu haben. Bernhard Schlink sagte, als lustloser Student sei er 1966/1967 in der Übung von Böckenförde gepackt worden, der ein „Lehrer der Bundesrepublik“ geworden sei. Er kenne niemanden, der, so erfolgreich, so bescheiden geblieben sei. Als ihm der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa verliehen wurde, habe Böckenförde in seiner Dankrede bekannt, vor dem Preis noch nichts von Freud gelesen zu haben.
Wer sich, wie Böckenförde, vor allem an der Sache – an der Stärke des Arguments – orientiert, darf an seinen Beiträgen zur Verfassungslehre nicht vorbei gehen. Glücklicherweise ist ein erster Band seiner Schriften in englischer Sprache bei Oxford University Press verfügbar (ein zweiter ist angekündigt; siehe auch das Special Issue des German Law Journal von 2018 hier), mit treffenden Würdigungen von Bruce Ackerman, Kim Lane Scheppele und J.H.H. Weiler (hier, unter „Reviews“): Es ist „höchste Zeit“ auch „für die englischsprachige Welt“, sich mit Böckenfördes Beitrag zum modernen Konstitutionalismus auseinanderzusetzen. Seine Schriften sollten „von jedem gelesen“ werden, der „Interessen an den Schnittflächen zwischen Verfassungstheorie und politischer Theorie hat“, denn: „Böckenförde gehört in die rare Kategorie des unentbehrlichen Schrifttums“.
Weshalb benötigt man überhaupt die Subjektivierung solcher Allgemeinbegriffe wie „Staat“, „Volk“, „Nation“ usw.? Sie verdecken, dass hinter diesen Begriffen nichts anderes als handelnde Menschen stehen mit ihren Bedürfnissen und Interessen.
Gegen die kritische Würdigung des Böckenförde-Diktums wird eingewandt, es handle sich bei dem berühmten Diktum weniger um eine Mythologisierung eines staatstheoretischen Begriffes, als vielmehr um eine schlichte Selbstverständlichkeit: der Staat könne nur solange freiheitlich und demokratisch bleiben, wie sich die Mehrheit der Bürger aus freien Stücken und mit Überzeugung dazu bekennt und diese Ordnung praktiziert.
Auch wenn unser Grundgesetzt mit seiner geheimen Überschrift “Nie Wieder!” Bestimmungen enthalte, die keine Veränderung erfahren dürfen, gibt es keine Ewigkeits-garantie für unsere demokratische Verfasst-heit. Zwangsmittel gewährleisten keine Garantie, sie würden nur eine Karikatur der Demokratie hervorbringen. Zwangsmittel sollten entschlossener eingesetzt werden gegen Zerstörer dieser Ordnung, die uns nach dem Zivilisationsbruch der Nazi-Zeit als ein großartiges Geschenk für einen Neuanfang zugefallen, ihre Substanz aber behalte sie durch den freiheitlichen, nicht korrumpier-baren Bürger, der die Freiheitsrechte kenne und lebe.
Dieser Einwand überzeugt m.E. nicht. Die Auseinandersetzung mit solchen Allgemein-begriffen hat letzten Endes mit der Praxis unserer täglichen Wahrnehmung in unserer Alltagswelt zu tun. Denn unser Denken passiert zwar im Kopf. Der Kopf steuert aber im Wesentlichen den Bauch, d.h. unser Handeln. Handeln.
Diese tägliche Wahrnehmung beeinflusst unsere Entscheidungen in der Alltagswelt. Die hier verwendeten Allgemeinbegriffe verdecken aber, dass nur der Mensch oder (als Rolle) die Person fähig ist zu handeln. Wenn man denn über „den Staat“ nachdenkt, dann sollte man Staat und Krieg, wie das Buch des kürzlich verstorbenen Ekkehard Krippendorff (1934-2018) heißt, immer zusammendenken als zwei Seiten einer Medaille.
Das ist aber nicht die Sache von Böckenförde, der mit der Ritter-Schule seine Begriffswelt gegen die Frankfurter Schule stellt. Man kann also gut über diese Begrifflichkeit streiten. Sie ist Ansichtssache, d.h. eben auch völkisch aufladbar. In der Alltagswelt, und dazu gehört auch das richterliche Entscheiden, sollten derartige steuernde und streitbefangene Begriffe draußen vor bleiben.
Sie sind dort im Übrigen überflüssig. Zu welchen Kurzschlüssen das sonst führen kann, zeigt der in dem kurzen Diktums-Text zitierte Satz Böckenfördes: “Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesell-schaft, reguliert.“
Es ist schlichtweg nicht zu belegen, weshalb es nach unserer Verfassung der Staat sein soll, der Freiheit seinen Bürgern „gewährt“. Sind es nicht historisch und heute erst recht die Menschen selbst, die ihre eigene – und nicht ihre vom Staat abgeleitete – Freiheit erkämpft haben und immer wieder gegen die Willkür der Oberen verteidigen müssen?
Und wo steht denn geschrieben, dass sich die Freiheit „aus der Homogenität der Gesell-schaft“ reguliert? Nach der Katastrophe des Völkischen, sollte man mit der da geforderten „Homogenität“ der Gesellschaft eher vorsich-tiger umgehen. Letztlich reguliert „die Freiheit“ als Wesenheit schlichtweg nichts. Wenn überhaupt, sind es die Menschen, die ihre Konflikte offen oder versteckt, mit demokra-tischem oder autoritärem Charakter selbst lösen. Aber woher hat Herr Böckenförde denn dann solche Ansichten? Herleiten kann man das nur aus der Ideologie Carl Schmitts und Joachim Ritters.
Noch ein weiterer Gedanke zu dem Begriffs-streit: In der Diskussion der 20er Jahre bestimmte ein fruchtbarer Methodenstreit die Juristerei (und nicht nur diese allein). Dabei ging es um die Frage, auf welche Weise das Vorverständnis des Richters usw., Methoden-wahl, Auslegung des zugrunde zu legenden Textes und am Ende das richterliche Urteil beeinflusst. Damals, und seit Alters her (bis heute) stehen die politischen Allgemeinbegrif-fe (Recht, Volk, Nation, Staat u.a.) auf dem Prüfstand.
Der „Influencer“, wie man heute sagen würde, Paul de Lagarde, dessen Einfluss auf die Köpfe seiner Zeit und deren Adepten nicht zu unterschätzen ist, hat, in genauer Kenntnis der Kraft solcher leitenden Konstrukte, vorgeschlagen, man möge den Staatsbegriff von der hegelschen Bindung an das Menschenrecht befreien und als rein technisches Mittel, gewissermaßen als nicht-Moral-fähiges Instrument in den Händen der Nation bzw. des Volkes konstruieren.
Gesetzesvollzug ohne eigenen Willen. Eben diese Entmoralisierung des Staatsbegriffes übernahm dann auch Carl Schmitt. Er kennt ohnehin, auch persönlich, keine moralischen Skrupel. Ähnliches gilt für den Begriff der Nation bzw. denjenigen des Volkes. Diese Begriffe werden von Lagarde denn auch als nackte Urgewalt konstruiert, die, um die völkisch-deutsche Großmacht durchzusetzen, nicht gebändigt werden darf. Diese Entmoralisierung geht noch hinter Hobbes zurück, der ja wenigstens das Widerstandsrecht gegen einen versagenden Herrscher einräumte.
Das vertritt übrigens Schmitt genau so wie Lagarde: Keine Skrupel auf dem Wege zur totalen Diktatur. Die Barbarei kann ungehindert vom moralischem Urteil Urstände feiern. Unter Rückgriff auf diesen Staats-begriff und „im Namen des Volkes“ werden dann die Köpfe abgeschlagen.
Carl Schmitt fand das übrigens o.k., auch den Judenmord, weil Juden nicht volksgemein-schaftsfähig sind. Dass sie nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehören, dachte auch der andere einflussreiche Lehrer der Nachkriegs-juristen, Rudolf Smend, wenn er schreibt, Juden seien zu keiner „Integration“ fähig.
So ist das mit den Begriffen im Kopf und der darüber legitimierten Tat im Bauch. Deshalb halte ich nichts von der Subjekt-Stellung solcher Begriffe, die auch Böckenförde bemüht. Und es war auch nicht „der Staat“, wie Böckenförde meint, der sich zum Schutze der „Staatsangehörigen“ aus den Religionskriegen heraus entwickelte, sondern – wenn man überhaupt mit derartigen Begriffen arbeiten will – die anders entwickelte damalige Gesellschaft. Karl Marx und Max Weber, Richard Sennett, Robert Reich und eben, als einer der ersten, auch Hans Kelsen, sind da ein gutes Stück gedanklich weiter.
Böckenförde tut sich damit schwer als Schüler des Münsteraners Joachim Ritter (Ritter-Schule) und mit der Bewunderung für Carl Schmitt im Rücken. Ein gutes Beispiel für den fragwürdigen Umgang mit den fraglichen Begriffen ist etwa der Umgang mit dem Wort „Rechtsstaat“. Was bei der Interpretation „hinten heraus kommt“, muss man in den Begriff „Rechtsstaat“ vorne hineinstecken.
Das Böckenförde-Diktum ist deshalb auch ein Diktum, klingt plausibel, ist es aber nicht. Denn, ob die Völkischen an die Macht kommen, hängt nicht vom „Staat“ ab, sondern von der Widerstandskraft der die Gesellschaft bildenden Gruppen, eben von der „Multitude“ und nicht vom „Hegemon“, wie das Michael Hardt und Antonio Negri sagen würden.
Ein anderes gutes und lesenswertes Beispiel für den Missbrauch und die Auslegungstricks über die genannten führenden Begriffe ist der Prozess um den für das Ende der Weimarer Republik entscheidenden Preußenschlag. Am Ende Weimars gruppierten sich die Fronten in diesem Prozess vor dem Staatsgerichtshof (1932).
Aufgezeichnet hat den Prozess übrigens ein bedeutender Lübecker, Arnold Brecht. Er war hoher Ministerialbeamter in Preußen, hat das Land im Reichsrat Hitler gegenüber bei dessen Antrittsbesuch mutig vertreten und den Bericht über den Prozess gefertigt.
Dort standen sich die Anhänger der „Neuen“ Lehre und die Klassiker der Weimarer Jurisprudenz gegenüber, Carl Schmitt, Carl Bilfinger, Erwin Jacobi und Georg Gottheiner auf der einen Seite, Hermann Heller für die SPD Fraktion, Ministerialdirektor Arnold Brecht und Gerhard Anschütz für die preußische Regierung und die Rechtsvertreter Badens und Bayerns (u.a.Theodor Maunz). Es war die Crème de la Crème der damaligen Zunft.