18 February 2021

Brennglas Pandemie

Wie die Coronakrise Eigenheiten und Schwächen unseres Regierungssystems bloßlegt

In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Exekutive. In der Coronakrise ist aus der Stunde inzwischen schon mehr als ein Jahr geworden – und das Ende nicht absehbar. Die in der ersten Phase noch hohe Akzeptanz der Regierungsmaßnahmen beginnt zu bröckeln. So wie die Menschen selbst zeigen sich auch die Regierenden zunehmend pandemiemüde. In einer liberalen Demokratie, in der es auch in Normalzeiten kein „Durchregieren“ gibt, musste sich die Coronakrise zwangsläufig zum Stresstest auswachsen. Denn auch im Ausnahmezustand hat sich das Regierungshandeln im Rahmen der Verfassung zu bewegen und bleibt es an die grundsätzliche Zustimmung der Bevölkerung gebunden.

Wie gut hat das deutsche Regierungssystem den Stresstest bisher bestanden? Nimmt man die öffentlichen Kommentierungen als Maßstab, wird insbesondere die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) und damit der gesamte Föderalismus als Schwachstelle ausgemacht. Die föderalen Institutionen seien einerseits zu träge, um in der Krise rasch entscheiden und eingreifen zu können. Zum anderen stünden sie einheitlichen Lösungen im Wege, die für die Bewältigung der Pandemie notwendig und von der Bevölkerung gewünscht seien. Mit dem Hinweis, dass die Verfassung eine MPK gar nicht vorsehe, wird deren Legitimität sogar grundsätzlich angezweifelt.

Diese Kritik ist deshalb merkwürdig, weil der Sinn der Ministerpräsidentenkonferenzen ja gerade darin besteht, ein bestimmtes Maß an Einheitlichkeit herzustellen. So wie die Länder über den Bundesrat an der Bundesgesetzgebung mitwirken, so stimmen sie sich dort, wo sie im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeiten – etwa im Bereich der Schulpolitik – autonom handeln können oder wo sie Zuständigkeiten mit dem Bund teilen, untereinander und mit dem Bund ab. Föderales Regieren heißt koordiniertes Regieren. Koordination ist notwendig, weil das, was der eine in seinen Bereich tut, immer Auswirkungen auf den anderen hat, womöglich auch schädliche. Ein Beispiel aus der aktuellen Situation sind die Geschäftsöffnungen, die – wenn man sie einseitig vornimmt – unerwünschte Grenzverkehre auslösen würden. Abstimmungsbedarf besteht hier nicht nur innerstaatlich, sondern auch im Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarländern und -regionen.

Unterhalb der MPK findet die Koordination in der Bundesrepublik in hunderten von parallel eingerichteten Bund-Länder- und Länder-Länder-Gremien statt, über die sich niemand aufregt, weil sie ohnehin niemand kennt. Auch die Ministerpräsidenten- und Landesministerkonferenzen laufen in Normalzeiten meistens im Windschatten der Öffentlichkeit ab und finden – ähnlich wie das, was im Bundesrat passiert – kaum Aufmerksamkeit. Darin liegt ein generelles Problem des deutschen Föderalismus, das auf dessen exekutivische Struktur verweist. Sowohl im Bundesrat als auch in den Koordinierungsgremien sind es die Vertreter der Regierungen und Verwaltungen, die miteinander kooperieren. Die Parlamente haben das Nachsehen.

Über den Bedeutungsverlust der Landtage wird schon seit langem geklagt. Er hat primär damit zu tun, dass die Länder über vergleichsweise wenig eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten verfügen. Ihre Hauptaufgabe liegt traditionell auf administrativem Gebiet – in der Durchführung der Bundesgesetze. Das Problem betrifft aber ebenso die Bundesebene. Hier kritisieren nicht nur die Oppositionsparteien, sondern neben Verfassungsjuristen auch Mitglieder der Regierungsfraktionen, dass die Bundesregierung viele wesentliche Dinge auf dem Verordnungswege beschlossen hat, statt den dafür vorgesehenen Weg der regulären Gesetzgebung zu beschreiten. Das gilt für die zum Teil weitreichenden Grundrechtseinschränkungen, die das Infektionsschutzgesetz ermöglicht, genauso wie für die Festlegung der Impfreihenfolge. Parlamentarische Debatten über die Maßnahmen, in denen die Opposition die Regierung stellen kann, finden erst statt, wenn die Entscheidungen bereits getroffen sind. Auch an der Vorbereitung der Entscheidungen, bei der der Konsultation wissenschaftlicher Experten eine zentrale Rolle zukommt, sind die Abgeordneten nicht beteiligt. Stattdessen verlagert sich die Öffentlichkeitsfunktion des Bundestages in die fast täglich ausgestrahlten Talkshow-Sendungen und andere Medienformate, in denen es dann häufig dieselben Wissenschaftler sind, die die Zuschauer an ihren Erkenntnissen teilhaben lassen.

Der Bundestag ist an dieser Entwicklung nicht unschuldig. Trotz zaghafter Reformansätze wie der Einführung der Kanzlerfragestunden bleibt er in seiner Außenwirkung und der Funktion eines Gegengewichts zur Regierung hinter seinen Möglichkeiten zurück. Das liegt auch daran, dass ein wesentlicher Teil seiner Tätigkeit in den Ausschüssen stattfindet, wo bis heute das Prinzip der Regel-Nichtöffentlichkeit gilt. Um die Mitregierungs- und Kontrollfunktion der Abgeordneten zu stärken, sollte das geändert werden. Darüber hinaus könnte man der Regierung strengere Unterrichtungspflichten auferlegen, wie sie heute schon bei EU-Angelegenheiten bestehen. Und in einer Notlagensituation wie der jetzigen müsste die Regierung ihre eigene Position dem Bundestag schon vor einer MPK darlegen, damit die Abgeordneten und besonders die Opposition die Möglichkeit behalten, sie zu kritisieren und ihre eigenen Alternativen aufzuzeigen.

Blickt man auf die bisherige Rolle der Opposition in der Krise, so kann von einer beherzten Wahrnehmung der Kritik- und Alternativfunktion nicht die Rede sein. Die AfD ist von dieser Feststellung auszunehmen. Sie kann sich ihre maßlosen Angriffe leisten, weil niemand sie als Regierungsalternative betrachtet. Bei den systemtragenden Parteien der Opposition – der FDP, der Linken und vor allem den Grünen – ist dagegen auffällig, dass sie in der ersten Phase der Pandemie so gut wie gar nicht und seit der zweiten Phase nur schwach Gegenposition bezogen haben. Ein wichtiger Grund dafür liegt sicher im Thema der Pandemiebekämpfung selbst, das sich der parteipolitischen Logik zum Teil entzieht. Gleichzeitig hat es aber auch viel mit den veränderten Regierungsverhältnissen im Bund und in den Ländern zu tun, die wiederum eine Folge des Parteiensystemwandels sind.

Auf der Bundesebene waren drei der vier seit 2005 gebildeten Regierungen Große Koalitionen aus CDU/CSU und SPD. Zwischen 2009 und 2013 kam das letzte Mal eine kleine „lagerinterne“ Koalition der Union mit der FDP zustande, die sich prompt als Desaster entpuppte und das Verhältnis der beiden Parteien zueinander nachhaltig beschädigte. Auf der Länderebene gibt es lagerinterne „bürgerliche“ Koalitionen heute nur noch in Bayern und Nordrhein-Westfalen und linke Zweier- oder Dreierbündnisse in den drei Stadtstaaten sowie in Thüringen (dort als Minderheitsregierung). In den übrigen zehn Ländern amtieren „lagerübergreifende“ Zweier- oder Dreierkoalitionen.

Diese Konstellation führt dazu, dass jedwede Bundesregierung – gleich welcher Couleur – heute nicht mehr damit rechnen kann, über eine eigene Mehrheit im Bundesrat zu verfügen. Sie muss sich deshalb mit Ländern arrangieren, die von einer oder mehreren Oppositionsparteien des Bundes mitregiert werden. Anfang 2021 verfügten die Grünen über elf solcher Regierungsbeteiligungen, die FDP und die Linke über je drei. Allein die Regierungsbeteiligungen der Grünen würden bequem ausreichen, um die Bundesregierung bei zustimmungspflichtigen Gesetzen auszubremsen, doch sind solche Blockaden – von Ausnahmen wie der Erklärung Algeriens, Tunesiens und Marokkos zu sicheren Herkunftsländern abgesehen – in den letzten Jahren praktisch nicht vorgekommen. Die Regierung konnte sich zumeist schon im Vorfeld mit den Grünen und in vielen Fällen auch mit der FDP und der Linken verständigen. Genau dadurch fällt es diesen Parteien im Bundestag aber immer schwerer, konsequente Gegenpositionen zu Regierungspolitik aufzubauen. Die Pandemie hat dieses Dilemma noch sichtbarer gemacht. Am deutlichsten zeigt es sich bei den Grünen, die durch die Perspektive einer schwarz-grünen Regierung nach der Bundestagswahl gegenüber der Union ohnehin Beißhemmungen haben.   

Ein weiteres Problem der aktuellen Situation hat ebenfalls mit den Funktionsbedingungen der parlamentarischen Demokratie zu tun: das Führungsvakuum an der Regierungsspitze. Dass ein amtierender Bundeskanzler – in diesem Fall eine Bundeskanzlerin – erklärt, bei der nächsten Wahl nicht mehr antreten, gleichwohl aber bis dahin im Amt bleiben zu wollen, gab es in der Bundesrepublik noch nie. Dies bringt den künftigen Kanzlerkandidaten der Union in die Bredouille, birgt aber zugleich ein großes Problem für die Kanzlerin selbst, die als „lame duck“ über immer weniger Macht und Führungsautorität verfügt. Im Verhältnis zu den Ministerpräsidenten hat Angela Merkel das in einem fast schon resignierten Ton zuletzt offen eingestanden. Auch auf europäischer Ebene kann sie sich von der Mitverantwortung für das in die Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft fallende Impfstoffdebakel nicht freisprechen. Nach 16 Jahren im Amt hätte Merkel gewiss einen besseren Abschied verdient gehabt. Und dass es für das Land in einer seiner bis dahin schwersten Krisen vielleicht besser gewesen wäre, eine dauerhaft kraftvoll handelnde Regierungschefin an der Spitze zu wissen, darf man zumindest annehmen. 


2 Comments

  1. Michael Schatta Sun 21 Feb 2021 at 18:17 - Reply

    Der Beitrag, auf den ich erst durch den Beitrag “Nicht länger naiv” von Maximilian Steinbeiss am 20.02. aufmerksam geworden bin, konzentriert sich (leider) im Wesentlichen auf die Rolle von Exekutive und Legislative und insbesondere der Bundesregierung. Allerdings wäre auch und gerade ein Blick auf die Rolle der Rechtsprechung wünschenswert gewesen. Dieser kommt es nämlich zu, die Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften auf ihre Rechtskonformität und diese Vorschriften selbst auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Gerade angesichts der zutreffend dargestellten – und an Orientierungslosigkeit grenzenden- Probleme von Exekutive und Legislative bei der Einschätzung und Bewältigung der Krise hätte der dritten Gewalt eine regulierende und objektivierende Funktion zukommen müssen.
    Dieser Aufgabe aber hat sich die Judikative – jedenfalls weitgehend – entzogen.
    Vor diesem Hintergrund muss die in dem eingangs zitierten Beitrag geäußerte
    Ansicht,
    “In der Seuche wie im Krieg werden die zivilen Regeln, die im Normalfall das Zusammenleben regeln, zur existenziellen Gefahr und müssen daher temporär suspendiert werden. Nur stellt sich heraus: stimmt überhaupt nicht. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erweist sich als der Regler, mit dem sich die Reichweite des Verbietbaren den jeweiligen Notwendigkeiten anpassen lässt, und zwar auch und gerade in der Stunde der Gefahr.”
    in zweierlei Hinsicht hinterfragt werden:

    1. Zur Rolle und dem Prüfungsumfang der Rechtsprechung:

    Insoweit ist die m. E. repräsentative Begründung einer Entscheidung des BVerfG in der Tat erstaunlich:
    „a) Die Erfolgsaussichten einer – bezogen auf die aktuell geltende Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in der Fassung vom 26.Juni 2020 – noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde sind nach dem bereits vorliegenden Vortrag jedenfalls soweit offen, wie die Regelungen der Verordnung den Beschwerdeführer selbst betreffen. Sie bedarf einer eingehenderen Prüfung, die im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich ist.
    b) Daher ist über den Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung vorab per Folgenabwägung zu entscheiden. ….
    Erginge die einstweilige Anordnung, wohingegen einer späteren Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache der Erfolg versagt bliebe, wäre der Regierung untersagt, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die möglicherweise einen erneuten Anstieg des Infektionsgeschehens verhinderten. Diese Konsequenz könnte daher möglicherweise, auch in Anbetracht der kürzlich erfolgten Lockerungen, zu härteren Grundrechtseinschnitten für die Bevölkerung führen als die vorläufige weitere Befolgung der angegriffenen Maßnahmen und Hinnahme der damit verbundenen alltäglichen Einschränkungen. Damit überwiegt das Interesse am Vollzug der angegriffenen Verordnung.“
    (Beschluss vom 07. Juli 2020 – 1 BvR 1187/20 -, Rn. 1-10)

    Die Feststellung, dass die Erfolgsaussichten der noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde offen seien und einer eingehenderen Prüfung bedürfe, die im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich ist, führt im Ergebnis zu einer Verweigerung des Rechtswegs. Bezeichnet das Gericht die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren als offen, bedeutet dies, dass sie jedenfalls nicht offensichtlich unbegrün­det ist. Wird berücksichtigt, dass für das Hauptsacheverfahren mit Stand 2017 in der Regel eine Dauer von ein bis zwei Jahren realistisch ist/war,
    (https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2017/gb2017/A-IV-3.pdf?__blob=publicationFile&v=2;)

    so kann – in der Hoffnung, hier nicht zu optimistisch zu sein – davon ausgegangen werden, dass bis dahin eine Erledigung eingetreten sein wird. Wäre diese Erledigung nicht eingetreten, so müsste das Fehlen einer Entscheidung, die sich mit den vorgetragenen Bedenken inhaltlich auseinandersetzt, angesichts der streitgegenständlichen massiven Grundrechtseinschränkungen, die dann schon wegen ihrer Dauer zusätzliches Gewicht hätten, erst recht als nicht mehr hinnehmbar angesehen werden.
    Dies gilt um so mehr, als das Gericht in seiner Begründung härtere Grundrechtseinschnitte für die Bevölkerung als zur Zeit der Entscheidung im Juli 2020 offensichtlich für zulässig hält, denn sonst hätte es nicht mit diesen wie geschehen argumentiert. Dies stellte im Ergebnis eine – wie der seither verstrichene Zeitraum zeigt – eine Blankovollmacht für weitere Restriktionen dar. Zur Vermeidung einer substantiellen Aushöhlung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Rechtsweggarantie bei der Geltendmachung von schwerwiegenden Einschränkungen/Verletzungen der Grundrechte wäre es daher von Beginn an unerlässlich gewesen, dass die Gerichte sich schon im Eilverfahren inhaltlich umfassend mit den seitens der Exekutive zu Grunde gelegten Tatsachen befassen und sie einer uneingeschränkten rechtlichen Prüfung unterziehen. Die durchgängige Beschränkung der Gerichte auf eine Folgenabwägung oder darauf, dass (Ober)verwaltungsgerichte bei Ungleichheit und Unbestimmtheit ansetzen, wird den besonderen Anforderungen, die diese besondere Lage erfordert, in keiner Weise gerecht.

    Dies muss angesichts der Tatsache um so mehr gelten, dass die als maßgeblich angesehenen Kriterien stets dann durch andere ersetzt wurden, wenn sie nicht mehr geeignet waren, die Restriktionen zu begründen:
    Verdoppelungsrate > R-Wert > Infektionszahlen > Inzidenzwert > Mutationen.

    2. Zur verfassungsrechtlichen Einordnung der infektionsrechtlichen Regelungen:

    Insoweit liefert der in dem eingangs zitierten Beitrag vorgenommene Vergleich von Seuche und Krieg das Stichwort für folgenden Vergleich mit einer -neben der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 IfSG – anderen möglichen Feststellung des BT, nämlich der des Verteidigungsfalles. Art. 115a Abs.1 GG bestimmt:

    „Die Feststellung, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Verteidigungsfall), trifft der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates. Die Feststellung erfolgt auf Antrag der Bundesregierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages.“
    Bei diesem Vergleich fallen folgende wesentliche Unterschiede auf:
    7. Die Regelung befindet sich im GG, nicht in einem nachrangigen einfachen Gesetz.
    8. Die Feststellung bedarf der Zustimmung des Bundesrates.
    9. Die Feststellung bedarf mindestens der Mehrheit der Mitglieder des BT; eine einfache Mehrheit der Anwesenden reicht demnach nicht.

    Ebenfalls beachtlich ist ein Vergleich der möglichen Grundrechtseinschränkungen.
    Die umfangreichsten Einschränkungen für den äußeren Notstand enthält Art. 12a Abs. 3 bis 6 GG. Hiernach können bestimmte Wehrpflichtige im Verteidigungsfalle zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, auch Frauen heranzuziehen. Schließlich kann Art. 12 GG für den Fall, dass der Bedarf an Arbeitskräften auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden kann, eingeschränkt werden.
    Schließlich sind in Art. 115c Abs. 2 GG Abweichungen von Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 104 Abs. 2 und Abs. 3 GG vorgesehen: Soweit es die Verhältnisse während des Verteidigungsfalles erfordern, kann durch Bundesgesetz für den Verteidigungsfall
    1. bei Enteignungen abweichend von Artikel 14 Abs. 3 Satz 2 die Entschädigung vorläufig geregelt werden,
    2. für Freiheitsentziehungen eine von Artikel 104 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1 abweichende Frist, höchstens jedoch eine solche von vier Tagen, für den Fall festgesetzt werden, dass ein Richter nicht innerhalb der für Normalzeiten geltenden Frist tätig werden konnte.
    Weitere ausdrückliche Vorgaben gibt es nicht; das Grundgesetz sieht demnach im Verteidigungsfall keine Suspendierung, d.h. keine zeitweilige Außerkraftsetzung der Grundrechte vor. Es existiert auch kein genereller, auf alle Grundrechte bezogener Gesetzesvorbehalt im Verteidigungsfall.
    Vergleicht man nun die möglichen – und auch exekutierten – Grundrechtseinschränkungen in den §§ 28 bis 32 des IfSG ergibt dies den folgenden Katalog im Ergebnis nicht begrenzter Grundrechtseinschränkungen:
    – Art. 2 Abs. 2 Satz 1,
    – Art. 2 Abs. 2 Satz 2,
    – Art. 8,
    – Art. 11 Abs. 1,
    – Art.13 Absatz 1.
    Hinzu kommt, dass von Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG (Zitiergebot) diejenigen Grundrechte, die einem sog. Regelungsvorbehalt unterliegen,
    – Art. 12 und
    – Art. 14 GG
    nicht erfasst sind, im IfSG daher nicht ausdrücklich zitiert, aber im Ergebnis wesentlich eingeschränkt werden.

    Wenn demnach für die (außer vielleicht einem Meteoriteneinschlag) wohl unstreitig schwerstmögliche nationale Katastrophenlage – den Verteidigungsfall – in der Verfassung selbst die Beschränkung von lediglich drei Grundrechten ermöglicht wird, lässt das nachrangige IfSG die weitgehende Außerkraftsetzung von sieben dieser Rechte zum Zweck der Bekämpfung einer Krankheit zu, deren Todesopfer nicht beziffert wird („verstorben im Zusammenhang mit“) und damit sowohl hinsichtlich ihrer Letalität als auch in ihrer Auswirkung auf das Gesundheitswesen keinerlei Signifikanz aufweist.
    Damit bestehen erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Anordnung solch einschneidender Regelungen durch den einfachen Gesetzgeber, an der in § 32 enthaltenen Verordnungs- und Delegationsmöglichkeit für die Länder und insbesondere an der Verhältnismäßigkeit dieser Eingriffe im Hinblick auf das propagierte Ziel. Zweifel mit denen sich Gerichte auch ohne eigene Sachverhaltsermittlungen hätten auseinandersetzen müssen.

    Dies ist naturgemäß nur ein Aspekt von vielen, denen Gerichte – und sei es nur auf der Grundlage von veröffentlichten Angaben des RKI – hätten nachgehen können und angesichts der besonderen Schwere der Grundrechtseingriffe auch hätten nachgehen müssen.

    Nur beispielhaft seien hier genannt:

    – die Aussagekraft von Fallzahlen
    – die Frage der Letalität
    – die „Schätzung der Reproduktionszahl R“
    – die Belastung des Gesundheitssystems
    – die Kriterien für die Feststellung der epidemischen Lage
    – die Anordnung von Quarantäne als freiheitsentziehende Maßnahme
    – der Richtwert von 50 Fällen pro 100.000Einwohner.

    Es liegt auf der Hand, dass in diesem Rahmen auf die genannten Punkte nicht weiter eingegangen werden kann. Nur zu letzterem Punkt sei – gewissermaßen als Denkanstoß – auf folgendes verwiesen:

    „In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen in der EU von ihr betroffen sind.“
    (BMG: „Maßnahmen zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Menschen mit seltenen Erkrankungen in Deutschland“; Hannover, 09. Juni 2009, Executive Summary S. III)

    Dem entspricht bei 100.00 Menschen einer Anzahl von 50, also dem Inzidenzwert, den es nach offizieller Auffassung unbedingt zu unterschreiten gilt.
    Dies lenkt den Blick auf ein weiteres gravierendes Problem der aktuell veröffentlichten Zahlen. Es werden lediglich Angaben zu – vermeintlich oder tatsächlich – Infizierten, also positiv Getesteten, veröffentlicht, nicht aber die Zahl der Erkrankten, also der Personen mit Symptomen. Im Sinne der o.a.
    Definition bedeutet betroffen allerdings erkrankt. Das wiederum bedeutet, dass sich in der Zahl der als infiziert bezeichneten lediglich ein – nicht bezifferter – Anteil an Betroffenen befindet. Das führt zu dem Schluss, dass bei einer Inzidenz von 50 die Anzahl der Erkrankten/Betroffenen deutlich darunter liegt.
    Es soll also – als Voraussetzung für die Rücknahme von im engsten Sinne des Wortes beispiellosen Grundrechtseinschränkungen – die als Pandemie bezeichnete Krankheit auf ein Niveau gesenkt werden, das dem einer seltenen Krankheit entspricht.

    Demnach ist ein Hinterfragen der Restriktionsmaßnahmen auch möglich, ohne – um den zitierten Beitrag letztmalig zu zitieren – “Drosten für einen Verschwörer, Merkel für eine Diktatorin und/oder den Virus für eine Erfindung” zu halten.

  2. Heribert Wasserberg Mon 22 Feb 2021 at 09:48 - Reply

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    die Analyse irritiert insofern, als sie
    1. nicht reflektiert, dass andere demokratische Systeme als das deutsche sich als fähig erweisen, die schädlichen Folgen der Pandemie nahezu abzuwenden oder zumindestens zu reduzieren. Zugespitzt formuliert, müsste man auch diesen Autoren ebenso wie vielen anderen Zeitgenoss:innen hier in Deutschland, Europa und dem ehemaligen “Westen” die Frage stellen, wie viele und welche Opfer dieser Epidemie hinnehmbar sind, ohne die Funktionsfähigkeit des eigenen politischen Systems in Frage zu stellen: 140.000 Tote? 210.000 Tote?
    2. nicht reflektiert, dass das GG es der Bundeskanzlerin durchaus ermöglichte, durchzuregieren. “Rechtlich betrachtet braucht man für den Lockdown keine Ministerpräsidenten”, so konnte man es am 10. Februar im Spiegel aus dem Munde des Staatsrechtlers Christian Möllers lesen.
    3. das Fehlen einer starken parlamentarischen Opposition zur Regierung nicht reflektiert.

    Es ist merkwürdig, eine politikwissenschaftliche Analyse zu lesen, welche insbesondere den Sachverhalt nicht berücksichtigt, dass Merkel durchaus durchregieren hätte können, sofern sie dies gewollt hätte. Wenn noch nicht einmal Politikwissenschaftler sich dafür interessieren, wie man es hätte besser politisch machen können, wer denn dann? Dieser Artikel ist geeignet, Vorbehalte gegenüber der Wissenschaftlichkeit der Politiwissenschaft zu stärken. Es handelt sich hier um einen verantwortungslosen Kommentar einer verantwortungslos gemanagten Pandemie – verantwortungslos deshalb, weil die Bundeskanzlerin so tun kann, als trage sie nicht die alleinige Letztverantwortung – und Wissenschaftler ihr dies durchgehen lassen.

    Merkwürdig berührt auch, dass einer der Autoren möglicherweise in der Schlussphase seines Wahlkampfes und seine persönliche Situation im Zusammenhang mit der heißen Wahlkampfphase in Rheinland-Pfalz nicht erklärt wird. Für die Betrachte:in stellt sich die Frage, ob hier ein conflict of interests vorliegt, weil jede mediale Präsenz hilfreich im Wahlkampf ist. Handelt es sich hier um Wahlkampfhilfe?

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