14 January 2021

Bundestag macht Unmögliches möglich

Aufstellung von Kandidaten für die Bundestagswahl 2021

Der Bundestag hat heute festgestellt, dass die Durchführung von Versammlungen zur Aufstellung von Kandidaten für die Bundestagswahl 2021 infolge der Covid-19-Pandemie unmöglich ist. Er gibt dem Bundesinnenministerium damit grünes Licht, von einer zentralen Vorgabe des Wahlrechts durch Rechtsverordnung abzuweichen: Die Parteien sollen ihre Kandidaten auch ohne Versammlung aufstellen können. Die Ausrufung dieses „Wahlvorbereitungsnotstands“ lässt aufhorchen: Ist es nicht eigentlich Aufgabe des Bundestages selbst, das Wahlrecht zu ändern? Sind Aufstellungsversammlungen wirklich „unmöglich“? Wie weit darf das Ministerium mit seinen Abweichungen gehen? Und: Was machen die Länder, in denen im „Superwahljahr“ 2021 ebenfalls unter pandemischen Bedingungen gewählt wird?

Wer regelt was?

Seit dem Sommer 2020 wird in Berlin darüber diskutiert, wie die Parteien ihre Direkt- und Listenkandidaten für die Bundestagswahl „pandemiekonform“ aufstellen können. Das Bundeswahlgesetz sieht eine Kandidatenwahl in Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen vor, deren Durchführung durch die Covid-19-Pandemie aber erschwert wird. Der Bundestag hat daher Ende Oktober 2020 mit § 52 Abs. 4 BWahlG eine Regelung geschaffen, die das Bundesinnenministerium dazu ermächtigt, von den bestehenden Vorschriften über die Kandidatenaufstellung abzuweichen. Der Erlass einer entsprechenden Rechtsverordnung bedarf der Zustimmung des Bundestages, der bereits zuvor feststellen muss, dass die Durchführung von Versammlungen ganz oder teilweise unmöglich ist. Diese Feststellung wurde heute auf Antrag der Koalitionsfraktionen getroffen.

Dass § 52 Abs. 4 BWahlG ein legitimes Ziel verfolgt, nämlich eine pandemiekonforme Kandidatenaufstellung zu gewährleisten, steht außer Frage: Ohne Kandidaten, keine Wahl, ohne Wahl keine Demokratie. Die Bundestagswahl 2021 kann nicht bis „nach Corona“ verschoben werden. Der demokratische Grundsatz der Periodizität fordert ihre Abhaltung kompromisslos ein. Der Weg, den der Bundestag aus diesem Dilemma weist, ist jedoch mehr als fragwürdig. Denn die Kandidatenaufstellung ist ein zentraler Schritt der Wahlvorbereitung. Ihre rechtliche Ausgestaltung obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber. Das Nähere regeln die Parteien in ihren Satzungen. Die Exekutive hat in diesem für die Demokratie so wesentlichen Bereich nichts zu sagen. Man darf das Wahlrecht nicht zur Disposition der Zweiten Gewalt stellen, will man die Wahlen nicht dem Verdacht der unzulässigen Einflussnahme durch die Regierung aussetzen. Schon früh wurde daher kritisiert, dass der Bundestag die Rechtsetzungsmacht delegiert hat, anstatt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen (Heinig/Kingreen/Lepsius/Möllers/Volkmann/Wißmann, JZ 2020, 861 [868]). Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt der Kritik ist die Wesentlichkeitstheorie: Das Parlament muss die grundlegenden Fragen des Gemeinwesens selbst entscheiden („Parlamentsvorbehalt“). Dass die Aufstellung von Wahlbewerbern zu diesen grundlegenden Fragen zählt, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten.

Man mag eine Ausnahme für die (Extrem-)Fälle anerkennen, in denen der Bundestag selbst nicht mehr rechtzeitig handeln kann. Der Parlamentsvorbehalt soll schließlich die Demokratie schützen, nicht aber um den Preis ihrer selbst. Doch das Paradoxe an § 52 Abs. 4 BWahlG ist, dass er gerade nicht (nur) diesen Fall betrifft. Schließlich trifft der Bundestag die ermächtigungsauslösende Feststellung und entscheidet am Ende auch über die Zustimmung zur Rechtsverordnung. „Aber warum kann der Bundestag ein von ihm selbst erlassenes Gesetz nicht auch selbst ändern, statt einer ministeriellen Rechtsverordnung zuzustimmen, die von diesem abweicht?“, möchte man mit Thorsten Kingreen fragen. In der Tat führt der Zustimmungsvorbehalt die Begründung des § 52 Abs. 2 BWahlG als Ausnahmeregelung ad absurdum. Es ist nämlich ein gewaltiger Unterschied, ob der Bundestag eine Rechtsverordnung „anguckt“ und „ein Häkchen drunter“ macht – wie es ein Parlamentarier in der Debatte zu § 52 Abs. 4 BWahlG formulierte –, oder ob die Abgeordneten selbst um die bestmögliche gesetzliche Lösung ringen. Im Zustimmungsverfahren können sie nur „Ja“ oder „Nein“ sagen, im Gesetzgebungsverfahren gibt es auch „Ja, aber“ und „So nicht, aber so“.

Was heißt „unmöglich“?

Nicht nur die Übertragung der Gestaltungsmacht an die Exekutive ist kritikwürdig, sondern auch die Formulierung des Ermächtigungstatbestandes: § 52 Abs. 4 BWahlG beschreibt nämlich eine Situation, die es strenggenommen gar nicht geben kann. Wie Anna von Notz zutreffend bemerkt hat, ist die vom Bundestag heute festgestellte Unmöglichkeit der Durchführung von Versammlungen selbst ein „Ding der Unmöglichkeit“. Sich unter pandemischen Bedingungen zu versammeln ist möglich, es ist nur nicht besonders gesund. Auch rechtliche Unmöglichkeit scheidet aus, da Wahlversammlungen nicht verboten werden können. Das Wahlrecht geht dem Infektionsschutzrecht als speziellere Materie vor. Daher haben die meisten Länder die Wahlversammlungen von vorneherein von den Versammlungsverboten ihrer Infektionsschutzverordnungen ausgenommen. Auch die Koalitionsfraktionen haben übrigens erkannt, dass es die von § 52 Abs. 4 BWahlG vorausgesetzte Unmöglichkeit gar nicht geben kann. In ihrem Antrag sprechen sie nur noch davon, dass die Durchführung von Aufstellungsversammlung angesichts des verschärften Lockdowns der Öffentlichkeit „nicht vermittelbar“ wäre. „Nicht vermittelbar“ ist aber nicht gleichbedeutend mit „unmöglich“. Vermittelbarkeit ist eine politische Kategorie, keine rechtliche.

Was passiert jetzt?

Der Bundestag hat mit seiner heutigen Feststellung also Unmögliches möglich gemacht. Nun bleibt abzuwarten, wie das Bundesinnenministerium den neuen Gestaltungsspielraum nutzt. Nach § 52 Abs. 4 BWahlG kann es von den Vorschriften des Bundeswahlgesetzes und den Satzungen der Parteien abweichen, um eine Kandidatenaufstellung auch „ohne Versammlung“ zu ermöglichen. Das Gesetz lässt dem Ministerium dabei weitgehend freie Hand. § 52 Abs. 4 BWahlG nennt am Ende nur einige beispielhafte Regelungen, die aber gerade keinen verbindlichen, nach Eingriffsintensität gestuften Katalog von möglichen Verordnungsinhalten darstellen. Schlimmer noch: Manche Regelungsbeispiele sind selbst unverhältnismäßig. So soll das Ministerium die satzungsmäßige Zahl der Delegierten herabsetzen und im Wege der Satzungsdurchbrechung statt einer Mitglieder- eine Delegiertenversammlung zulassen können. Das sind schwerwiegende Eingriffe in die binnendemokratische Ordnung der Parteien, deren Erforderlichkeit man bezweifeln muss. Schließlich steht mit der Zulassung virtueller Aufstellungsversammlungen ein milderes Mittel zur Verfügung, das gleich – ja sogar besser – geeignet ist, das Infektionsrisiko bei der Kandidatenaufstellung gering zu halten. Bezeichnend für die Prioritäten in der Covid-19-Gesetzgebung ist, dass § 52 Abs. 4 BWahlG zwar den Einsatz von elektronischen Kommunikationsmitteln zulässt, aber keine Bild- und Tonübertragung vorschreibt. Man kann Wahlbewerber also auch per WhatsApp-Chatgruppe aufstellen. Bei der Regelung der virtuellen Hauptversammlung von Aktiengesellschaften hat sich der Gesetzgeber mehr Mühe gegeben: Dort ist die audiovisuelle Übertragung zwingend (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 COVMG). Im Recht der Pandemiegesellschaft ist die Mitwirkung von Aktionären besser geschützt als die Partizipation von Parteimitgliedern.

Kryptisch sind die Vorgaben, die § 52 Abs. 4 BWahlG für die eigentliche Wahl der Kandidaten macht. Die „Schlussabstimmung über einen Wahlvorschlag“ soll nämlich von der elektronischen Kommunikation ausgeschlossen sein und stattdessen im Wege der Briefwahl oder Urnenwahl stattfinden. Mit Blick auf den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ist das zu begrüßen. Er gilt als demokratisches Prinzip jedenfalls in seinem Kern auch für Kandidatenwahlen und schließt den Einsatz von E-Voting-Programmen aufgrund ihrer notorischen Intransparenz (von den Sicherheitsrisiken ganz zu schweigen) aus (anders sieht das Anna von Notz). Aber was soll „Schlussabstimmung“ in diesem Zusammenhang bedeuten? Der Ausdruck ist bislang nur im Parlamentsrecht gebräuchlich, wo er die Abstimmung über ein Gesetz am Schluss der Dritten Lesung bezeichnet, nachdem über alle Änderungsanträge abgestimmt wurde (§ 83 GOBT). Übertragen auf die Aufstellung von Landeslisten könnte das heißen, dass nur die Abstimmung über die Liste „im Ganzen“ vom E-Voting ausgenommen wäre. Die einzelnen Listenplätze könnten hingegen in elektronischen Wahlen besetzt werden. Das würde den Öffentlichkeitsgrundsatz aushebeln: Denn gewählt wird bei der Besetzung der Listenplätze. Bei der Abstimmung über die Liste im Ganzen können die Mitglieder oder Delegierten nur noch „Ja“ oder „Nein“ zu allen Kandidaten sagen. Das ist ein parteiinternes Miniaturplebiszit, aber keine demokratische Wahl.

Angesichts dieser augenfälligen Defizite des § 52 Abs. 4 BWahlG bleibt zu hoffen, dass sich das Bundesinnenministerium bei der Formulierung seiner Rechtsverordnung eine größere inhaltliche und terminologische Stringenz auferlegt als der Gesetzgeber und vor allem die Erforderlichkeit der Regelungen im Blick behält: innerparteiliche Mitwirkungsrechte, Chancengleichheit der Bewerber, Öffentlichkeit der Wahl und Satzungsautonomie der Parteien sind trotz ihrer schwachen Verankerung im Verfassungstext (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG) keine Verfassungsgüter, die man leichtfertig „wegwägen“ sollte. Es sind Grundpfeiler unserer Demokratie, die eben auch Parteiendemokratie ist. Denn ohne Parteien keine Kandidaten, ohne Kandidaten keine Wahl, usw.

Was machen die anderen?

2021 wird nicht nur im Bund, sondern auch in sechs Ländern ein neues Parlament gewählt. In Hessen und Niedersachsen stehen außerdem Kommunalwahlen an. Noch hat – soweit ersichtlich – keines der betroffenen Länder eine dem § 52 Abs. 4 BWahlG vergleichbare Regelung beschlossen. Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, deren Landtage am 14. März 2021 gewählt werden, kommen ohne Abweichungen vom geltenden Wahlrecht aus: Die Kandidaten sind dort bereits aufgestellt. Ob Thüringen am vereinbarten Termin der vorgezogenen Neuwahl, dem 25. April 2021, festhält, ist unklar. Der Landtag in Erfurt berät derzeit ein „Maßnahmengesetz“ für eine vorgezogene Neuwahl in der Pandemie, das auch die Kandidatenaufstellung erleichtern soll. Obwohl der Entwurf der Thüringer Koalitionsfraktionen nicht in jedem Detail überzeugt, lässt er doch die erfreuliche Bereitschaft des Parlaments erkennen, die wesentlichen Fragen in einem Gesetz zu regeln. Den übrigen Ländern (Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin) ist zu raten, sich am Bund kein Vorbild zu nehmen. Wenig optimistisch stimmt dabei, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung eine Verordnungsermächtigung „[a]nalog § 52 Abs. 4 BWahlG“ in das Landeswahlgesetz aufnehmen will, obwohl an Rhein und Ruhr erst im Herbst 2022 gewählt wird (vgl. dazu die kritische Stellungnahme von Sophie Schönberger). Etwas mehr legislative Eigeninitiative würde den Ländern gut zu Gesicht stehen – gerade in Zeiten der Pandemie kann der Wahlrechtsföderalismus seine Stärken unter Beweis stellen.

Anm. d. Redaktion: Der Satz “Bezeichnend für die Prioritäten in der Covid-19-Gesetzgebung ist, dass § 52 Abs. 4 BWahlG zwar den Einsatz von elektronischen Kommunikationsmitteln zulässt, aber keine Bild- und Tonübertragung vorschreibt.” wurde nachträglich ergänzt.


6 Comments

  1. René Pönitz Thu 14 Jan 2021 at 22:13 - Reply

    Neben der Frage, wie in Pandemien Aufstellungsversammlungen abgehalten werden können, steht die nächste Frage auf dem Plan: die Unterstützerunterschriften.

    Je Bundesland muss eine Partei, die noch nicht im Bundes- bzw. einem Landtag vertreten ist, bis zu 2000 solcher Unterschriften vorlegen. Neben den eigenen Mitgliedern werden diese Unterschriften in der Regel im öffentlichen Raum (Straßenfeste, Stände, …) gesammelt. Doch genau das ist in Zeiten der Kontaktvermeidung nicht möglich. Selbst Personen, die einer solchen Partei nahe stehen, gehen nun auf Distanz. Zwar besteht auch die Möglichkeit, auf Brief auszuweichen, doch die Hürden und Kosten (Porto) sind wesentlich höher. Ich bin gespannt, ob hier der Gesetzgeber ebenso nach Lösungen suchen wird – oder wie im Bundesland Baden-Württemberg erst die Gerichte involviert werden müssen.

  2. Tobias Pollmann Fri 15 Jan 2021 at 10:32 - Reply

    Lieber Dr. Michl,

    spannende Analyse, vielen Dank!
    Einen Kritikpunkt kann ich aus theoretischen Gesichtspunkten zwar sehr nachvollziehen, aus der Praxis allerdings nicht. Die von ihnen angesprochene Konsequenz, dass mit dem Terminus “Schlussabstimmung” nur eine endgültige Ja/Nein-Abstimmung über die Liste via Brief- oder Urnenwahl stattfinden muss, lässt leider eine praktische Analyse vermissen. Denn im typischen Parteienleben wird bereits heute in aller Regel genau so agiert. Zwar findet bei einer Listenaufstellung schon eine Abstimmung über jeden einzelnen Listenplatz statt, aber es ist nach meiner Erfahrung die absolute Ausnahme, dass es tatsächlich zu einer Debatte und kompetitiven Abstimmung bei einzelnen Listenplätzen kommt. In aller Regel werden diese abgenickt.

    Nun ist diese Praxis natürlich keine Rechtfertigung für die – wie Sie richtig darstellen – in Mitleidenschaft gezogenen demokratischen Grundsätze, jedoch m.E. nicht außer Acht zu lassen. Es braucht insofern auch in den Parteien selbst eine Reflexion des Umgangs mit diesen demokratischen Grundsätzen, die im innerparteilichen Prozess regelmäßig mit Füßen getreten werden.

    • Fabian Michl Fri 15 Jan 2021 at 12:45 - Reply

      Vielen Dank für Ihren Kommentar, lieber Herr Pollmann.

      Soweit ich weiß (meine Erkenntnismittel sind aber begrenzt), steht es in der bisherigen Praxis der Parteien allen Bewerbern offen, bis zur letzten Abstimmung über die einzelnen Listenplätze oder Blöcke anzutreten. Es handelt sich also immer noch um eine echte Wahl. Dass es selten zu Kampfkandidaturen kommt, liegt wohl in erster Linie an “informellen” Regeln (Abreden, Usancen), über die Sven Jürgensen und Frederik Orlowski einen lesenswerten Aufsatz veröffentlicht haben (DÖV 2019, S. 141 ff., allerdings mit Fokus auf die Aufstellung der Wahlkreisbewerber).

      Würde über die Liste im Ganzen per Briefwahl abgestimmt, wäre das keine Wahl. Eine elektronische “Vor”-Auswahl wäre, wie schon der Name sagt, auch keine Wahl. Daher glaube ich, dass der Gesetzgeber den Parteien mit dem Ausdruck “Schlussabstimmung” einen Bärendienst erwiesen hat, weil er suggeriert, man könne elektronisch vorauswählen und am Ende per Brief mit “Ja” oder “Nein” über die Gesamtliste abstimmen lassen. Zwingend wäre eine Briefwahl über die einzelnen Listenplätze, und zwar zeitlich gestaffelt. Denn man wird unterlegenen Kandidaten um die vorderen Plätze kaum die Kandidatur um die hinteren Plätze faktisch unmöglich machen dürfen. Bei Einzelabstimmungen wäre das kaum praktikabel (Zeitfaktor), aber auch bei Blockwahlen kann es zu mehreren Wahlgängen kommen, weshalb die Briefwahl bei Listen eine denkbar ungeeignete Wahlform ist. Anders ist das bei Wahlkreisbewerbern, bei denen ein, zwei, allerhöchstens drei Wahlgänge genügen sollten.

      Man darf gespannt sein, was das BMI aus den “Vorgaben” des § 52 Abs. 4 Satz 3 BWahlG macht, um den Parteien praktikable und zugleich rechtssichere Wege aufzuzeigen.

      • mq86mq Fri 15 Jan 2021 at 21:52 - Reply

        Die Unterstellung ist sicher, dass es zur Briefwahl praktisch nie Gegenvorschläge geben wird, aber wenn es eine beschränkte Zahl an Alternativvorschlägen gibt, könnte man die durchranken lassen und mittels eines Condorcetverfahrens auswerten. Wenn man strikt auf einer Mehrheit besteht, müsste man das Nein (bzw. die leere Liste) mitlaufen und auf jeden Fall gewinnen lassen, wenn es keinen Condorcetsieger gibt und es zur Smith-Menge gehört. Ist halt nicht zur Fusion verschiedener Vorschläge geeignet. Bei nur 1 Gegenvorschlag läuft das im Wesentlichen auf das Verfahren mit Stichfrage raus, das verbreitet bei konkurrierenden Bürgerentscheiden angewendet wird.

        Rein als Briefwahl wären rankende STV-Verfahren praktikabel, wie sie etwa bei den Grünen in Wien verwendet werden, die eine Listenreihenfolge produzieren und weniger zufällig sind als primitivere Verfahren. Damit ist eine Stückelung in Blöcke an sich entbehrlich. Solche Verfahren berücksichtigen halt nur die Wünsche der Wähler und nicht die der Kandidaten, die u.U. bloß einen vorderen oder bloß einen hinteren Listenplatz haben wollen. Außerdem gibts wie bei fast jedem vernünftigeren Verfahren das Problem, dass es keine nominelle Mehrheit für jeden einzelnen Kandidaten liefert, die ja teils als unentbehrlich betrachtet wird, obwohl sie einem Demokratieverständnis im Sinn von Verhältniswahlen völlig zuwiderläuft.

        Wenn rankende STV-Verfahren zur Bestätigung verwendet werden, kann man auch einfach die vorläufige Listenreihenfolge ankreuzbar machen. Eine Minderheit von 10% könnte dann z.B. mittels ihrer Droopquote noch Platz 9 erzwingen.

        Dass bei der Schlussabstimmung grundsätzlich die Möglichkeit zu Gegenvorschlägen bestehn muss, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll, sollte klar sein. Siehe dazu auch diesen Artikel der wissenschaftlichen Dienste des Bundestags.

  3. Dr. Martin Weigele Fri 15 Jan 2021 at 16:12 - Reply

    In BVerfGE 123, 39 hat das Bundesverfassungsgericht völlig zu Recht Wahlcomputer nach damaligem Stand der Technik verboten. Der Stand ist heute im Grundsatz nicht anders. Im Kern gab es das Verbot deshalb, weil anders als bei der Papierauszählung nicht öffentlich nachvollzogen werden kann, wie Abstimmungsergebnisse zustande kommen und so der Manipulation Tür und Tor geöffnet ist. Nichts anderes gilt bei Abstimmungen über elektronische Medien, es sei denn, sie erfolgen offen bzw. namentlich. Bei der Aufstellung von Wahlbewerbern erscheint aber der Grundsatz der geheimen Wahl unverzichtbar. Ich sehe hier weiterhin keine technische Lösungsmöglichkeit, die geheime Wahl und öffentlich verifizierbare Auszählung durch jedermann (in dem Fall durch die aufstellenden Parteimitglieder bzw. deren Zählkommission) gleichzeitig gewährleistet. Eine Geheimwahl-Fernaufstellung durch elektronische Kommunikation eröffnet daher gefährliche Manipulationsmöglichkeiten bei der Bewerberaufstellung durch diejenigen, die den jeweiligen Abstimmungsprozess organisieren. Allein eine traditionelle Briefwahl mit Abstimmung über jeden einzelnen Platz ist ein einigermassen sicherer Ersatz für das Präsenzverfahren, aber naturgemäß aufwendig und praktisch kaum durchführbar, wenn der z.B. auf Platz 1 unterlegene Kandidat sich anschließend auf Platz 2 bewerben möchte.

    • Dr. Martin Weigele Wed 27 Jan 2021 at 16:05 - Reply

      Noch eine kleine Ergänzung: Eine Geheimwahl-Fernaufstellung von Kandidaten durch elektronische Kommunikation eröffnet tatsächlich nicht nur gefährliche Manipulationsmöglichkeiten bei der Bewerberaufstellung durch diejenigen, die den jeweiligen Abstimmungsprozess organisieren. Es ist tatsächlich sogar noch schlimmer: Denkbar ist auch die Manipulation von außen durch Dritte, “Hacker”. Dabei muss man sich im klaren sein, dass “Hacken” heutzutage vor allem großes Business der organisierten Kriminalität und staatlicher Akteure ist. Sobald es also um geheime Wahlentscheidungen von politischer Tragweite geht, ist von Fernabstimmungen über elektronische Kommunikation dringend abzuraten.

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