08 April 2021

Kollektive Gefährdungslage Corona

Die Pandemie in der Asylrechtsprechung

Das Asylrecht schützt vor Gefahren im Herkunftsland. Im Rahmen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG werden dabei auch Gefahren berücksichtigt, die keinem konkreten Akteur zugerechnet werden können. Seit März 2020 müssen die Gerichte die sozio-ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie bewerten. Besonders deutlich wird das in Verfahren Schutzsuchender aus Afghanistan, für die bereits vor der Pandemie überproportional viele ablehnende Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von den Verwaltungsgerichten korrigiert wurden. 2020 ist dieser Anteil noch einmal gestiegen: Während das BAMF seine Entscheidungspraxis zu Abschiebungsverboten nicht geändert hat, stieg der Anteil der von den Gerichten korrigierten Bescheide von 34 Prozent im Jahr 2019 auf 47 Prozent im Jahr 2020.

Gut ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie sind deren Auswirkungen auf die Lebenssituation in Afghanistan unter den Verwaltungsgerichten heftig umstritten. Dabei wird die kollektive Gefährdungslage junger, alleinstehender Männer uneinheitlich bewertet, abhängig von den jeweiligen Annahmen der Gerichte zur zeitlichen Dimension der Krise sowie ihrer Kompensation durch humanitäre Unterstützung. Die Afghanistan-Entscheidungen führen damit zwei grundlegende Probleme der deutschen Asylrechtsprechung vor Augen: Die Uneinheitlichkeit bei der Bewertung vergleichbarer Fallkonstellationen und die Defizite bei herkunftslandbezogener Tatsachenfeststellung.

Vergleichbarkeit der Bewertung kollektiver Gefährdungslagen

Laut EGMR begründen „zwingende humanitäre Gründe“ die Schutzwürdigkeit nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK, wofür „ganz außergewöhnliche individuelle Umstände“ erforderlich sind. Hierunter kann auch Verelendung wegen einer extrem schlechten wirtschaftlichen Situation fallen, wie durch die Auswirkungen der Pandemie auf die Lebenssituation in Afghanistan. Das BAMF und die Gerichte nehmen dabei eine Prognose vor und fragen, ob Antragsteller*innen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche Verelendung droht. Sie bewerten also ihre zukünftige Lebenssituation in Afghanistan. Dazu ermitteln sie zunächst sogenannte Basistatsachen zur derzeitigen Lage vor Ort und stützen darauf die eigentliche Prognose, ob aus den Basistatsachen die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verelendung folgt.

Gerade in Bezug auf humanitäre Notlagen ist es beinahe ausgeschlossen, genau zu bestimmen, wie die Zukunft von Asylsuchenden nach einer Abschiebung aussähe. Deshalb behelfen sich die Gerichte mit der Betrachtung der Situation von Kollektiven, deren Lage derjenigen der Antragsteller*in entspricht. Sie erheben beispielsweise zunächst Informationen zu den derzeitigen Lebensumständen alleinerziehender Frauen (Basistatsachen) und prognostizieren auf dieser Grundlage die Gefährdungslage dieses Kollektivs. Manche Gerichte legen ihre Bewertung der kollektiven Gefährdungslage offen und formulieren unabhängig vom Einzelfall Risiko- und Schutzfaktoren für bestimmte Kollektive. Diese geben dann die Bewertung im Einzelfall vor. Zwar können diese Einzelfallentscheidungen nicht direkt verglichen werden, die vorherige Bewertung der Gefährdungslage bestimmter Kollektive dagegen schon.

Die Pandemie als kollektive Gefährdungslage

Bereits vor der Pandemie wurde Familien mit Kindern und anderen vulnerablen Personen von den meisten Gerichten ein Schutz zugesprochen. Eine Rückkehr wurde dagegen regelmäßig beim Kollektiv der jungen, alleinstehenden Männer für zumutbar gehalten. Bei ihnen haben sich durch die Pandemie Veränderungen ergeben. Dabei lassen sich die Gerichte grob drei Meinungsblöcken zuordnen. Die genaue Gewichtung der Risiko- und Schutzfaktoren innerhalb der Blöcke variiert. Die Gerichte verweisen aber umfangreich auf Entscheidungen anderer Gerichte „ihres“ Meinungsblocks und machen damit deutlich, dass die grundsätzliche Linie gleich ist.

Den weitreichendsten Schutz gibt der erste Meinungsblock (im Folgenden: Block Netzwerk/Geld): Danach ist wegen der Auswirkungen der Pandemie grundsätzlich auch alleinstehenden, jungen Männern eine Rückkehr nicht zumutbar, soweit sie nicht über erhebliche finanzielle Ressourcen oder ein tragfähiges soziales Netzwerk in Afghanistan verfügen (besondere Schutzfaktoren). Allein eine „robuste Konstitution“ oder besondere berufliche Fähigkeiten reichen nicht (insbesondere: VGH Baden-Württemberg; VG Karlsruhe; VG Hannover; VG Lüneburg).

Nicht ganz so weitgehend sind die Veränderungen eines zweiten Meinungsblocks (Block Durchsetzungsfähigkeit): Auch er fordert bei jungen, alleinstehenden Männern besondere Schutzfaktoren, hält aber nicht in jedem Fall erhebliche finanzielle Ressourcen oder ein soziales Netzwerk für erforderlich. Es komme auf eine besondere Durchsetzungsfähigkeit an, die auch aus beruflichen Fähigkeiten oder einer Sozialisation in Afghanistan folgen kann (wiederum mit Unterschieden im Detail: z. B. OVG Bremen; OVG Rheinland-Pfalz; VG Hamburg).

Eine dritte Gruppe (Block unverändert) geht davon aus, dass die Pandemie nicht zu einer neuen Bewertung der Lage in Afghanistan zwingt. Auch junge, alleinstehende Männer, die nicht über Schutzfaktoren wie ein nennenswertes Vermögen, ein stützendes Netzwerk oder besondere berufliche Fähigkeiten verfügen, können sich danach in Afghanistan trotz der derzeitigen Lage eine Existenz aufbauen (z. B. VGH Bayern; VG Ansbach; VG Freiburg; VG Düsseldorf).

Die Festlegung von Risiko- und Schutzfaktoren für bestimmte Kollektive korrespondiert mit den Basistatsachen zu den Auswirkungen der Pandemie, die die Gerichte ihrer Prognose zugrunde legen. Deutliche Unterschiede sind dabei zwischen den Blöcken Netzwerk/Geld und Durchsetzungsfähigkeit einerseits und dem Block unverändert andererseits zu beobachten. Zwar gehen weitgehend alle Gerichte davon aus, dass die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung sowohl die Lage auf dem labilen afghanischen Arbeitsmarkt verschlimmern als auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Unterkünften für Rückkehrer*innen negativ beeinflussen, allerdings unterscheiden sich die Entscheidungsgründe hinsichtlich der Verwendung von Herkunftslandinformationen zur zeitlichen Dimension dieser Auswirkungen, sowie der Bedeutung ihrer Kompensation durch lokale, nationale und internationale humanitäre Unterstützung.

Die zeitliche Dimension der Pandemie

Alle Gerichte berichten einheitlich über die Verhängung eines Lockdowns ab März 2020 in Afghanistan, der mit umfangreichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens einherging. Gerichte aus dem Meinungsblock unverändert konzentrieren sich allerdings auf die Darstellung des Lockdowns als „temporäres Phänomen“, weshalb es zu einer raschen „Rückkehr zur Normalität“ gekommen sei: Teehäuser als Unterkunftsmöglichkeit für Rückkehrer seien wieder voll zugänglich, Arbeitsmöglichkeiten auch für Tagelöhner wieder vorhanden, in- und ausländische Reisebeschränkungen seien aufgehoben und Grenzübergänge wieder geöffnet. Außerdem würden Ausgangsbeschränkungen nicht durchgesetzt, da die Menschen angesichts der wirtschaftlichen Zwänge nicht monatelang im Lockdown verharren könnten. Eine Nichtbefolgung der Covid-Schutzmaßnahmen könne auch von einem Rückkehrer erwartet werden. Auf Grundlage der nur temporären Einschränkungen sei nicht anzunehmen, dass es zu wirtschaftliche Langzeitfolgen komme, die eine Rückkehr nachhaltig erschweren würden.

In Urteilen aus den Meinungsblöcken Netzwerk/Geld und Durchsetzungsfähigkeit wird hingegen die anhaltende Umsetzung des Lockdowns sowie dessen nachhaltige Auswirkungen auf beispielsweise den Arbeitsmarkt und die Lebensmittelpreise betont. Lockerungen des Lockdowns im Jahresverlauf werden deutlich seltener erwähnt. Die Gerichte bewerten die negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie als nachhaltig. Eine Erholung werde Jahre dauern, es sei mit auf „unabsehbare Zeit“ erschwerten Verhältnissen zu rechnen.

Die unterschiedlichen Schlussfolgerungen der Gerichte beruhen unter anderem auf dem Umgang mit dem fehlenden Wissen über die Entwicklung der Lage in Afghanistan. So macht der VGH Bayern dieses Nichtwissen zu einem zentralen Argument seiner Ablehnung eines Abschiebungsverbots, indem er die aktuelle Situation als „bloße Momentaufnahme“ darstellt, die mittelfristige Prognosen unmöglich mache. Im Gegensatz dazu argumentieren das OVG Bremen und der VGH Baden-Württemberg, dass zwar die Dynamik der Situation keine langfristige Prognose zulasse, dass aber eine mittelfristige Verschlechterung für ein Abschiebungsverbot ausreiche. Von einer solchen sei auszugehen. Anders als die Entscheidungen aus Bayern wird diese Aussage durch Verweis auf die Prognosen der Weltbank empirisch gedeckt.

Die Kompensation der humanitären Folgen

Gerichte des Meinungsblocks unverändert gehen davon aus, dass die durch Corona hervorgerufenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu einer enormen Ausweitung humanitärer Unterstützung geführt habe, die „gleichsam kompensatorisch“ wirke. Grundsätzlich seien humanitäre Organisationen trotz des Lockdowns in „großem Ausmaß“ aktiv, sowohl bei der Eindämmung der Pandemie als auch bei der Bekämpfung ihrer humanitären Folgen. Die Entscheidungen verweisen außerdem umfangreich auf die Hilfszahlungen internationaler Organisationen sowie auf nationale Maßnahmen zur Linderung der Nahrungsmittelkrise, etwa die Verteilung von Brot durch die afghanische Regierung.

In Urteilen der Blöcke Netzwerk/Geld und Durchsetzungsfähigkeit ist von der kompensatorischen Wirkung von Hilfsprogrammen keine Rede. Die meisten der in ablehnenden Entscheidungen genannten Hilfsprogramme werden nicht erwähnt oder anders kontextualisiert. So beziehen sich zwar auch diese Urteile auf das Brotverteilungsprogramm der afghanischen Regierung, allerdings nur, um die Brisanz der humanitären Notlage zu unterstreichen und gekoppelt mit dem Hinweis, die Maßnahme verspreche wenig Linderung und bedeute außerdem eine erhöhte Infektionsgefahr wegen der Menschenansammlungen an den Ausgabestellen. Darüber hinaus wird häufiger von den Einschränkungen berichtet, die Hilfsorganisationen aufgrund des Lockdowns erfahren hätten.

An den widersprüchlichen Aussagen zur Möglichkeit von internationalen Hilfsorganisationen und NGO, auch nach Ausbruch der Pandemie noch humanitäre Hilfe leisten zu können, zeigt sich ein selektiver Zugriff der Gerichte auf die Erkenntnismittel. Zwar beziehen sich alle Gerichte dabei weitgehend auf die gleiche Quelle, nämlich das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN OCHA). Allerdings verweisen Gerichte aus dem Meinungsblock unverändert auf andere Auskünfte des UN OCHA als Gerichte aus den anderen beiden Blöcken, beziehungsweise beziehen sich die Gerichte jeweils auf unterschiedliche Details der Auskünfte.

Fazit: Tatsachengrundlage und Bewertung der kollektive Gefährdungslage

Krisen als „Wahrnehmungsphänomene“ sind abhängig vom Kontext, in dem diese Bewertung stattfindet. Die Gerichte haben keinen objektiven empirischen Maßstab, ab dem die Situation in Afghanistan aufgrund der Corona-Krise unweigerlich untragbar wäre. Sie diskutieren zwar verschiedene empirischen Faktoren und erzeugen damit das Bild einer objektiven Entscheidung, doch die Bewertung der kollektiven Gefährdungslage ist nicht mit den für die Gerichte verfügbaren Tatsachen kausal verknüpft. Maßgeblich für die Entscheidung sind ebenso vorempirische Annahmen darüber, wann eine Notsituation untragbar ist: Gerichte aus dem Meinungsblock unverändert nehmen an, dass der zeitliche Charakter der Krise sowie die Kompensation durch humanitäre Hilfe relevant sind und fokussieren sich in der Entscheidungsbegründung entsprechend auf empirische Argumente, die die Kurzfristigkeit der Krise sowie dessen Kompensation beschreiben. Gerichte aus den Blöcken Netzwerk/Geld und Durchsetzungsfähigkeit gehen dagegen nicht davon aus, dass diese beiden Faktoren entscheidungserheblich sind, was sich in ihrer Darstellung der Tatsachengrundlage spiegelt. In beiden Fällen werden diese Annahmen von den Gerichten nicht explizit reflektiert.

Durch einen Vergleich der Bewertung kollektiver Gefährdungslagen können Muster der Uneinheitlichkeit offengelegt werden. Im konkreten Fall wird deutlich, wie auf Ebene der Bewertung kollektiver Gefährdungslagen, hier des Kollektivs der jungen, alleinstehenden Männer aus Afghanistan, unterschiedliche Meinungen auf Grundlage unterschiedlicher Tatsachenfeststellungen und vorempirischer Annahmen zur Corona-Krise entstehen. Die Gerichte sollten in ihren Entscheidungsgründen die Bewertung von Risiko- und Schutzfaktoren und damit die Grundlage ihrer Entscheidungen transparent machen, insbesondere durch entsprechende Leitsätze und vor allem durch eine systematischere Veröffentlichungspraxis. Anstatt wie aktuell üblich nur selektiv (teilweise sich im Wortlaut wiederholende) Entscheidungen von einigen Gerichten zu publizieren, sollte eine konsequente Veröffentlichung von Grundsatzentscheidungen zu den genannten Kollektiven jeder Kammer, die entsprechende Fälle entscheidet, die Regel sein.

Mehr Transparenz wäre auch auf Ebene des BAMF wünschenswert. Sichtbar ist lediglich, dass die Pandemie 2020 dort zu keiner nennenswerten Zunahme von Abschiebungsverboten geführt hat. Zugleich rechtfertigt das BAMF die hohe Korrekturquote seiner Bescheide durch die Gerichte mit einer Art „Corona-Effekt“. Um nachvollziehen zu können, wie genau das BAMF die kollektive Gefährdungslage durch Corona beurteilt, muss die Behörde ihre Entscheidungspraxis transparenter machen. Die Behauptung, dass Einzelfallentscheidungen nur schwer direkt verglichen werden können, darf kein Argument gegen eine Untersuchung der Entscheidungspraxis von behördlichen und gerichtlichen Asylverfahren sein. Der Vergleich der Bewertung kollektiver Gefährdungslagen zeigt, wie eine systematische Analyse dieser Entscheidungspraxis gelingen kann. Solange allerdings vorempirische Annahmen zu einer divergierenden Tatsachenfeststellung etwa über die Auswirkungen der Pandemie oder gar zu einem selektiven Zugriff auf die Erkenntnismittel je nach Argumentationslinie führen, besteht wenig Hoffnung auf mehr Einheitlichkeit, von einer Änderung der oft restriktiven Entscheidungs- und Abschiebungspraxis zum Herkunftsland Afghanistan ganz zu schweigen.

Grundlage des Beitrags ist eine Analyse aller zwischen März 2020 und März 2021 auf juris veröffentlichten Hauptsacheentscheidungen (ohne Eilverfahren und Berufungszulassungsentscheidungen) zu Abschiebungsverboten nach Afghanistan (n=93). Die ungekürzte Studie mit umfangreichen Verweisen auf die Entscheidungen erscheint in der Ausgabe 5/2021 der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik.

 


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