Corona-Triage
Ein Kommentar zu den anlässlich der Corona-Krise publizierten Triage-Empfehlungen der italienischen SIAARTI-Mediziner
Triage – das ist die Sortierung von Patienten in Gruppen vor- und nachrangig zu Behandelnder bei einem die verfügbaren Ressourcen weit übersteigenden Massenanfall von Bedürftigen. Das ist schon immer ein heikler und belastender Vorgang gewesen. Die italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI) hat den Intensivmedizinern, die derzeit nicht mehr allen bedürftigen Covid-19-Patienten Beatmungsgeräte bereitstellen können, dazu kürzlich Empfehlungen an die Hand gegeben. Man wolle auf diesem Wege die Praktiker davon entlasten, die Auswahlentscheidungen persönlich verantworten zu müssen, und man wolle die Kriterien explizit und kommunikabel machen. Auch den daran interessierten Betroffenen und ihren Familien müssten sie zugänglich gemacht werden, um das Vertrauen in das öffentliche Gesundheitswesen aufrecht zu erhalten.
Diese Anliegen sind nachvollziehbar. Wäre ich derzeit in Italien Patientin oder Angehörige, fände ich es auch nicht passend, erschöpfte Praktiker zwischen Tür und Angel in Diskussionen über Zuteilungsentscheidungen zu verwickeln. Wenn die Kriterien – genauer: Empfehlungen zu Kriterien – nun öffentlich gemacht werden, muss man sie freilich auch kommentieren dürfen. Das möchte ich hier tun. Mein Vertrauen in das (italienische) öffentliche Gesundheitswesen ist nämlich durch diese Veröffentlichung nicht gestützt worden. Vielmehr hat es gelitten. Dass italienischen Medienberichten zufolge einzelne praktizierende Mediziner die Anwendung der Empfehlungen öffentlich bestritten bzw. abgelehnt haben, finde ich erfreulich. Aber ich frage mich, für wie viele das gilt.
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Die zentrale Passage des Papiers lautet so: Ressourcen, bei denen erhebliche Knappheit eintreten könne, seien zunächst [1] für denjenigen zu reservieren, der eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit habe, und zweitens [2] für denjenigen, der mehr Jahre geretteten Lebens („più anni di vita salvata“) erreichen könne, im Blick auf [3] eine Maximierung des Nutzens („dei benefici“) für die größte Anzahl der Personen. Im dritten Teil dieser von mir numerierten Formulierung erkennt man unschwer die Maxime des Utilitarismus wieder. Der zweite Teil spezifiziert die Nutzenwerte, um die es geht, als Jahre geretteten Lebens. Damit sind die Lebensjahre gemeint, die bei einem Patienten im Falle der Behandlung zum Entscheidungszeitpunkt zu erwarten sind. Mit dem ersten Teil der Formulierung schließlich soll wohl nicht auf die absolute Überlebenswahrscheinlichkeit, sondern auf den mit der Behandlung verbundenen Wahrscheinlichkeitszuwachs verwiesen werden. Sonst müsste man lauter leichter Erkrankte begünstigen, die mit der Beatmung ganz sicher überleben, aber schon ohne Beatmung eine gute Prognose haben.
Für Unsicherheiten und Uneinigkeit innerhalb der medizinischen Profession zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sollte man Verständnis haben. Das Thema, wie gesagt, ist heikel und in der Fachliteratur ist vieles umstritten. Zu den Fächern, die zum Thema publizieren, gehören außer der medizinischen Profession auch die Normwissenschaften, also die Ethik und die Jurisprudenz, aber auch die Gesundheitsökonomik, soweit sie sich normativ äußert, was sie gerne tut. Das alles ist nicht leicht zu überblicken. Die Medizinergruppe, die die SIAARTI-Empfehlungen verantwortet, hat aber keine Unsicherheit zum Ausdruck gebracht. Sie hat sich auf „die Katastrophenmedizin“ berufen, für die „die ethische Reflexion“ konkrete Weisungen erarbeitet habe.
Davon, dass die zitierte Formulierung einem etablierten Konsens zum Umgang mit existentiellen Knappheiten folgt, kann aber keine Rede sein. Das gilt für die Fragen der Allokation lebensrettender Ressourcen im Allgemeinen, zu der etwa auch das Thema der Allokation von Spenderorganen gehört. Es gilt aber auch für die interdisziplinäre Literatur zur katastrophenmedizinischen Triage, die sich in bestimmter Hinsicht von der allgemeineren Allokationsdebatte unterscheidet. Nicht jede Knappheit, auch nicht jede existentielle, wird nämlich als Katastrophe eingestuft. Nur für den Katastrophenfall – den Fall eines plötzlichen, die regulär in Bereitschaft gehaltenen Ressourcen weit überfordernden Massenanfalls von Bedürftigen – hat sich das unter dem Namen „Triage“ bekannte Prozedere etabliert. Auch den Massenandrang von Verwundeten in Kriegszeiten zählt man dazu. Die traditionelle Regel lautet hier, die Ressourcen seien so einzusetzen, dass möglichst viele Menschen überleben. Bei der Organallokation zum Beispiel ist das nicht das maßgebliche Kriterium. Das sieht man schon daran, dass auch Personen mit doppeltem Transplantatbedarf versorgt werden, wenn sie nach den sonstigen Regeln an der Reihe sind.
Warum haben die italienischen Mediziner das Kriterium der Maximierung der Anzahl der Überlebenden durch das Kriterium der Maximierung der Jahre geretteten Lebens ersetzt? Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie die Formulierung selbst gewählt, vielleicht haben sie sich auf mir nicht bekannte Empfehlungen einer italienischen oder ausländischen Fachgesellschaft gestützt. Vielleicht wurden aber auch beiläufig rezipierte Beiträge aus nichtmedizinischen Fächern als maßgeblich eingeschätzt, die in Wirklichkeit hochumstritten sind. In jedem Fall ist der Wechsel des Kriteriums beunruhigend. Nicht nur ergäbe sich, wenn die neue Regel konsequent umgesetzt würde, ein triage-untypisches Verteilungsgeschehen (2). Vor allem zeigt der Wechsel an, dass die komplexe Begründungslogik der Triage missverstanden worden ist (3).
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Lautet die Regel, die knappen Ressourcen seien so einzusetzen, dass möglichst viele Betroffene die Katastrophe überleben, ergibt sich das traditionelle Triage-Prozedere. Es sieht eine Einteilung in vier Gruppen vor: Vorrangig behandelt werden schwer betroffene Patienten, die ohne die infragestehende Behandlung sicher oder sehr wahrscheinlich nicht überleben, bei Behandlung jedoch eine gute Prognose haben. In zweiter Reihe werden Patienten behandelt, deren Chance, die Erkrankung zu überleben, auch ohne Behandlung nicht unerheblich ist, aber bei Behandlung noch deutlich steigen würde. Nicht behandelt werden leicht betroffene Patienten, die auch ohne Behandlung eine gute Prognose haben. Bis zur Entspannung der Lage ebenfalls nicht (bzw. lediglich palliativ) behandelt werden diejenigen schwer betroffenen Patienten, die auch bei Behandlung eine schlechte Prognose haben.
Lautet die Regel, dass möglichst viele gerettete Lebensjahre erzielt werden sollen, sieht das anders aus. Zunächst wäre innerhalb der genannten Gruppen nach Lebensalter zu differenzieren. Das ist nicht Teil des traditionellen Prozedere. Bei großen Altersdifferenzen wären zudem ältere Personen in der ersten Gruppe zugunsten jüngerer Personen in der zweiten Gruppe zurückzustellen. Konkret, und mit gänzlich fingierter Eindeutigkeit der Wahrscheinlichkeitsangaben: Bei einem Sechzigjährigen mit einer statistischen Restlebenserwartung von 20 Jahren, der ohne Behandlung sicher stirbt (0% Überlebenswahrscheinlichkeit) und mit Behandlung zu 70% überlebt, erbringt der Ressourceneinsatz rechnerisch 14 Jahre (70% von 20). Dieser Patient müsste einem Zwanzigjährigen mit einer statistischen Restlebenserwartung von 60 Jahren weichen, der bereits ohne Behandlung mit erheblicher Wahrscheinlichkeit (70%) und bei Behandlung mit Sicherheit (100%) überlebt. Denn bei diesem Patienten erbringt der Ressourceneinsatz rechnerisch 18 gewonnene Jahre (60 minus 42, d. i. 70% von 60).
Ich hoffe, das Beispiel ist deutlich genug. Es zeigt, dass das Kriterium der Maximierung der geretteten Lebensjahre von den Praktikern eine krasse Abstandnahme vom eingeübten Blick auf die medizinische Bedürftigkeit fordern würde. Den zurückgestellten Patienten und ihren Angehörigen würde zugemutet, erhebliche eigene Überlebenschancen aufzugeben zugunsten einer Augmentierung der Überlebenschancen von Personen, die auch ohne diese Solidaritätsleistung (oder wie soll man das nennen?) bereits erhebliche Überlebenschancen haben. Wieso sollten sie das tun? Und wie kommt es dazu, dass so etwas als Ergebnis „der ethischen Reflexion“ präsentiert werden kann?
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Damit sind wir bei der Frage nach der Begründungslogik. Zunächst zum traditionellen Prozedere: Auch hier, das darf man nicht übersehen, wird Patienten, bei denen die fragliche Behandlung indiziert ist und denen sie eine (wenngleich geringe) Überlebenschance bietet (Gruppe 4), zugemutet, zugunsten anderer Patienten auf ihre Chance zu verzichten. Die zuerst begünstigten Patienten (Gruppe 1) sind freilich, anders als der Zwanzigjährige in unserem Beispiel, nicht deutlich weniger bedürftig. Zum traditionellen Verfahren gehört aber auch die Zurückstellung von Patienten der Gruppe 4 gegenüber den Patienten der Gruppe 2. Diese Zumutung kann über den Gedanken der Solidarität mit deutlich schwerer Betroffenen nicht begründet werden. Sie kann (und sie sollte, wenn man an der Triage-Praxis festhalten will) mit dem Gedanken begründet werden, dass vor dem Eintritt einer Katastrophe, d. h. solange keiner weiß, in welcher Gruppe er landet, uns allen ein Interesse an der Maximierung der Anzahl der Überlebenden unterstellt werden kann. An diesem vermuteten Konsens zur Regel werden wir dann festgehalten, auch wenn die Katastrophe uns in Gruppe 4 verschlägt.
Das ist keine utilitaristische Begründung. Eine utilitaristische Begründung derselben Regel würde lauten, dass ein gerettetes Menschenleben etwas „Wertvolles“ und daher zwei (andere) gerettete Menschenleben noch wertvoller sind. Von dieser Begründung aus, und nur von dieser, gelangt man unschwer zu der Abwandlung des Maximandums, die die SIAARTI-Empfehlungen sich erlaubt haben: Wenn (und solange) das Leben wertvoll ist, ist ein längeres Leben wertvoller als ein kürzeres. Sind die Ressourcen dann nicht am wertproduktivsten („effizientesten“) eingesetzt, wenn man anstelle der Anzahl der Überlebenden die Anzahl der Lebensjahre maximiert? Diese Redeweise passt für Wirtschaftsunternehmen, die Eigner haben, denen die produzierten Werte gehören. Für das Gesundheitswesen passt sie nicht. Menschen haben keine Eigner. Für die öffentliche Hand sind zwei Menschenleben nicht „wertvoller“ als ein einzelnes anderes und natürlich auch Zwanzigjährige nicht wertvoller als Sechzigjährige.
An diesem Grundsatz sollte und kann auch in der Corona-Krise festgehalten werden. Das klappt nur, wenn man begleitend zu einer eventuell nötig werdenden Triage öffentlich an ihrer nichtutilitaristischen Begründungslogik festhält. Am besten gelingt das, wenn man das gesundheitspolitische Verteilungsgeschehen, wie es die Rechtswissenschaften seit jeher tun, nicht in terms von Nutzen oder Werten, sondern in terms von Rechten beschreibt. Wie jeder Jurist weiß, müssen Rechte des Einzelnen nicht automatisch weichen, nur weil ihnen Rechte mehrerer Einzelner gegenüber stehen. Rechte funktionieren „nonaggregativ“. In Knappheitslagen müssen sie nicht maximiert, sondern auf gerechte Weise spezifiziert werden. Auch das ist bedrückend. Aber man kann es machen, ohne in Reflexionen über den (Rest-)Wert von Menschenleben hineinzugeraten.
Klassische Kriegs- und Katastrophenszenarien gehen vermutlich von einer anderen Alterstruktur der Behandlungsbedürftigen sowie der vom Alter abhängigen Sterblichkeit aus.
Nach meinem Kenntnisstand steigt die Fallzahl und die Sterblichkeitsrate bei COVID-19 mit hohem Alter stark an.
Damit könnte es sein, dass sich mit Bezug auf das Kriterium “Ãœberlebensperspektive” die Sortierung die in Italien getroffen wird nicht wesentlich von der Sortierung nach dem Kriterium “maximal viel gerettete Leben” unterscheidet.
Im Vergleich zur Verantwortungslosigkeit einer Regierung, die noch letztes Wochenende 950000 Menschen in Fußballstadien zusammenkommen ließ, von Experten, die das Tragen von Schutzmasken immer noch für unnötig erklären und Behörden, die jetzt das ganze Land abriegeln während man über Wochen zehntausende aus Infektionsgebieten eingeflogen hat, wirkt die hier beschriebene ethische Problemstellung eher zweitrangig.
Ich habe eine Frage auf die ich im Text keine Antwort gefunden habe (mag an mir liegen): Wenn man sich entscheiden muss eine 20jährige oder eine 90jährige zu retten bei denen die Überlebenschancen etc. exakt gleich sein. Wie sollte man sich dann entscheiden? Sollte das Alter wirklich niemals und in keinem Fall eine Rolle spielen?
“… 20jährige oder eine 90jährige …”
Es liegt in der Natur von theoretischen Ãœberlegungen, dass Fragen aufgeworfen werden, die in der Todeszone einer Intensivstation keinerlei Relevanz besitzen.
Dort gibt es eine solche Vielzahl von Faktoren, die kein Gesetz, keine Regel und keine Vorschrift abzubilden vermag. Das Maß an Nichtwissen über diese Faktoren ist so groß, dass nur Daumenregeln sinnvolle Handlungskorridore ermöglichen.
Niemals wird man in diesem Zusammenhang zwei Fälle finden, die sich nur durch 70 Jahre Altersunterschied differenzieren lassen.
Wie wird es denn in der Praxis laufen?
Dem, der bereits in Intensivbetreuung ist, wird man nicht so leicht die Schläuche kappen, sondern den der wartet, eher länger warten lassen, möglichweise bis zum Tod. Die Reihenfolge spielt also doch eine Rolle.
Die Überlebensperspektive wird in vielen Fällen mit dem Alter korrelieren. D.h. es wird eine Form von Altersauswahl geben.
Weiterhin wird sich aus den COVID-19 Todesfällen ein Erfahrungswissen darüber bilden, wie ungefähr die Überlebenschancen liegen. Auch danach wird man handeln.
Und dann liegt da eine dreifache Mutter mit 32 Jahren und dort ein alleinstehender 40-jähriger. Wie wird man wohl entscheiden?
Das soziale Umfeld spielt natürlich auch eine Rolle.
Eine extrem belastende Auswahl, die ganz und gar unnötig wäre, wenn die EU-Regierungen schnell und entschlossen gehandelt hätten.
Hauptkritikpunkte
1. Die Betrachtung der Anzahl geretteten Menschenleben geht davon aus, dass die Anzahl der zum Zeitpunkt der Behandlung gemessen wird. Es ist jedoch nicht klar, wieso nur anhand dieses Zeitpunkts die Anzahl der Geretteten gemessen wird. Man könnte auch 5, 10, 15 oder 20 Jahre nach dem Zeitpunkt der Behandlung messen. Dabei würde sich dann herausstellen, dass im konkreten Beispiel im Durchschnitt 15, 16 und 17 Jahre nach der Behandlung im Falle, dass der jüngere Patient behandelt wird, mehr Menschenleben gerettet werden. Bei allen anderen Betrachtungszeitpunkten ist die Anzahl der Geretteten hingegen identisch. Mit anderen Worten, werden verschiedene Zeitpunkte gewählt, um zu messen, wie viele Menschen durch eine Entscheidung gerettet werden und würde man den Durchschnittswert bilden, ergäbe sich auch bei einer Betrachtung nur nach der Anzahl der geretteten Menschenleben, dass die erwartete Anzahl an Lebensjahren maximiert werden sollte, auch ohne utilitaristische Begründung. Weshalb man die Entscheidung nur zum Zeitpunkt der Behandlung evaluieren sollte, ist hingegen überhaupt nicht klar und zudem extrem kurzfristig gedacht.
2. Eine weitere Betrachtungsmöglichkeit ist, dass nicht Menschen, sondern Menschenleben gerettet werden sollten. Ein 60-Jähriger mit einer Lebenserwartung von weiteren 20 Jahren hat bereits drei Viertel seines Lebens gelebt, wohingegen ein 20-Jähriger mit einer Lebenserwartung von 60 Jahren im Falle einer Heilung lediglich ein Viertel seines Lebens gelebt hat. Würden beide gleich behandelt, würde missachtet werden, dass der Ältere allein aufgrund seines hohen Alters bereits mehr Leben genossen hat als der Jüngere und dem Älteren dieses bereits gelebte Leben auch nicht mehr genommen werden kann. Beim Jüngeren besteht somit wesentlich mehr Potenzial Menschenleben (im Gegensatz zu Menschen) zu retten, was bei der Betrachtung der Lebensjahre angemessen berücksichtigt wird.
3. Die Ãœberlegung, dass “vor dem Eintreten der Katastrophe” alle, ohne zu wissen, in welche Behandlungsgruppe sie fallen, ein Interesse am Maximieren der Anzahl der Ãœberlebenden hätten, erinnert an die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie, auch wenn diese hierbei fragwürdig angewandt wurde. Nach Rawls müsste man sich nicht die Situation “vor dem Eintritt der Katastrophe”, sondern vor dem Eintreten der Existenz aller Personen vorstellen. Vor dem Schleier der Rawlsschen Ungewissheit würde dann, korrekterweise, Konsens bestehen, die Anzahl der Lebensjahre zu maximieren. Vor dem Eintritt der Katastrophe dürfte hingegen kein Konsens bestehen, da je nach Alter der Person, die Wahrscheinlichkeiten in unterschiedliche Behandlungsgruppen eingeteilt zu werden bereits bekannt wären und Jüngere dementsprechend eine Maximierung der geretteten Lebensjahre präferieren würden, Ältere hingegen eine Maximierung der Anzahl der Geretteten.
Kürzere Punkte:
“Den zurückgestellten Patienten und ihren Angehörigen würde zugemutet, erhebliche eigene Ãœberlebenschancen aufzugeben zugunsten einer Augmentierung der Ãœberlebenschancen von Personen, die auch ohne diese Solidaritätsleistung (oder wie soll man das nennen?) bereits erhebliche Ãœberlebenschancen haben. Wieso sollten sie das tun? Und wie kommt es dazu, dass so etwas als Ergebnis „der ethischen Reflexion“ präsentiert werden kann? ”
Umgekehrt kann genauso gut gefragt werden, wieso jemand bei dem viele Lebensjahre gerettet werden können, diese zugunsten einer Person, bei der selbst mit Behandlung kaum Lebensjahre gewonnen werden, aufgeben sollte? Weshalb die Maximierung der Lebensjahre notwendigerweise das Ergebnis einer ethischen Reflexion sein muss (zumindest verglichen mit einer Betrachtung der Anzahl der Geretteten, gemessen zum Zeitpunkt der Behandlung) ist den Hauptkritikpunkten zu entnehmen.
“Sind die Ressourcen dann nicht am wertproduktivsten („effizientesten“) eingesetzt, wenn man anstelle der Anzahl der Ãœberlebenden die Anzahl der Lebensjahre maximiert? Diese Redeweise passt für Wirtschaftsunternehmen, die Eigner haben, denen die produzierten Werte gehören. Für das Gesundheitswesen passt sie nicht. Menschen haben keine Eigner.”
Ohne dass ich einen Eigner hätte, ziehe ich ein langes Leben einem kurzen Leben vor. Ich nehme an, so geht es anderen Menschen auch. Im Übrigen ist das nichts als ein rhetorischer Trick, der Utilitaristen und Gesundheitsökonomen unterstellt, es ginge ihnen nur um Profit ginge und nicht um die Wohlfahrt der Menschen.
Auch wenn auf Rechte und nicht auf Nutzen geschaut wird, kann ein Recht auf ein effizientes Gesundheitssystem bestehen. Wie könnte ein Gesundheitssystem im Übrigen gerecht sein, wenn es verschwenderisch (=ineffizient) ist?
Zu Philip H. Der Unterschied zwischen der Rettung von mögichst vielen Lebensjahren und der Rettung möglichst vieler Menschen ist kein rechnerischer, so kann man das nur verstehen,wenn man durch und durch von utilitaristischem Denken durchdrungen ist. Sondern der Unterschied ist, dass in ersterem Fall (möglichst viele Lebensjahre) nach Kriterien beurteilt wird, die in Eigenschaften des betroffenen Menschen liegen. Bestimmte Menschengruppen werden dann selektiert – hier eben alte Menschen. Das heißt, es wird von vorneherein ein Unterschied im Wert von Menschen festgelegt. Bei der Rettung von möglichst vielen Menschen, wie sie in den ursprünglichen Traigeregeln angestrebt wird, wird nach der Art der Verletzungen, die die Menschen haben, beurteilt, unabhängig davon, zu was für einer Gruppe die Menschen, die diese Verletzungen haben, gehören, also ohne Ansehen der Person, unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft… Dies ist ein großer Unterschied, denn es ist immer menschenverachtend, Menschen aus bestimmten Gruppen – ob nun nach sozialen, ethnischen oder altersmäßigen Unterschieden definierten – – abzusprechen, dass ihr Leben genauso viel wert ist, wie das von Menschen aus anderen Gruppen. Dem wird auch dadurch kein Abbruch getan, dass Helfer*innen situativ und im Einzelfall vielleicht tatsächlich nach Kriterien entscheiden, die in dem zu rettenden Menschen liegen – das Beispiel der Mutter mit Kindern – solange dies nicht als Triageregel festgelegt wird, sind sie ja eben genau das: situative Einzelfallentscheidungen, die aus der Not heraus getroffen werden.
“das Beispiel der Mutter mit Kindern – solange dies nicht als Triageregel festgelegt wird, …”
Nein, das Beispiel sollte erläutern, wie es vermutlich mit oder ohne Regeln laufen wird.
Das Gleichheitspostulat ist die aufklärerische Umkehrung des Ideals des Gottesgnadentums – und als solche fast ebenso weltfremd.
Es ist eine Idealvorstellung aus der am Ende des Tages ihrer Natur nach völlig ungleiche Herrschaft begründet wird.
Die “universellen Menschenrechte” sind realiter “punktuelle Menschenrechte”, die in Reservaten auf vielleicht 5% der Erdoberfläche teilweise verwirklicht werden.
Wer glaubt schon daran, dass ein Verfassungsrichter*in wenn er morgens in seiner gepanzerten Limousine durch Karlsruhe fährt, darüber nachdenkt, wie er heute wieder den Gleichheitsgrundsatz verwirklicht?
Um diese Triage-Regeln zu bewerten, sollten wir uns vielleicht die Ansprache der Bundeskanzlerin von gestern Abend ins Gedächtnis rufen. Sie dankte explizit allen denjenigen, die momentan im wahrsten Sinne des Wortes “den Laden am Laufen halten”.
Ein 90jähriger wird eher nicht zu denen gehören, die den Laden am Laufen halten.
Von daher finde ich die italienischen Regeln absolut sinnvoll.
Hinzufügen sollte man vielleicht noch die Kriterien “Anzahl der Minderjährigen, die von dem Patienten direkt abhängig sind” sowie den Beruf des Patienten (systemrelevant oder nicht).
Letztendlich könnte es irgendwann dazu kommen, dass wir öffentliche Unruhen oder sowas bekämpfen müssen. Dann ist es mir lieber, ein Polizist im aktiven Dienst wird bei der Triage bevorzugt als ein gebrechlicher Rentner.
Und seid wann ist Utilitarismus eigentlich ein Schimpfwort?
An Jul
Seit seid mit t geschrieben wird und seit es einen moralischen und ethischen Anspruch ans Handeln gibt außer dem reinen Nutzen.
Also zusammengefasst: seit es klar gefasste (s. Triage) Regeln der Menschlichkeit gibt.
Das ist der Unterschied zur Barbarei.
Ich denke viele Menschen vertreten eine unterschiedliche Meinung im Bezug auf dieses Thema. Ich muss sagen ich kann verstehen, dass viele der Meinung sind, dass ein längeres Leben wertvoller sei als ein kürzeres.
Wie Sie es auch in einem Beispiel hervorbringen.
Ich bin der Meinung, dass kein Menschenleben anhand der geretteten Lebensjahre abgemessen werden sollte, denn jedes Leben ist gleich wertvoll. Ob man dann ein 20 Jährigen gegenüber einen 90 Jährigen stellt, spielt in mein Augen keine Rolle.
Es ist doch viel wichtiger, wie Sie es auch sagen, viele Menschen zu retten und nicht diese anhand der gerettet Lebensjahre festzuhalten. In mein Augen ist es auch am besten die Ressourcen für mehr über lebende einzusetzen, anstellt der Lebensjahre. Denn wer sagt, das dein Leben wertvoller ist, als des anderen?
Ich kann verstehen wieso man mehr Menschen in ihren geretteten Lebensjahren länger leben lassen möchte, da ein 20 jähriger noch sehr jung ist, aber trotzdem kein Grund in vorne dran zustellen.
Man sollte mehr darauf achten, wie ich mehr Menschen retten kann.
Danke für die guten Einblicke und Einsichten! Mir kommt jedoch die Diskussion des praktischen Problems (von dem ich vermute, dass es die Motivation für die utilitaristische Vorschläge ist) zu kurz: Es gibt wesentlich mehr “schwer betroffene Patienten, die ohne die infragestehende Behandlung sicher oder sehr wahrscheinlich nicht überleben, bei Behandlung jedoch eine gute Prognose haben” als es Behandlungsmöglichkeiten gibt. Was ist ihre Empfehlung?
Man kann hier ohne weiteres unterschiedlicher Meinung sein, aber es sollte meiner Meinung nach an dieser Stelle an unser Grundgesetz und die Artikel 1 und 3 erinnert werden. Und wenn man diese akzeptiert und nicht in Frage stellt, dann kann eine Unterscheidung und Handhabung nach Lebensjahren maximal die allerletzte Handlungsmaxime sein (bei zwei Patienten, die zur selben Zeit behandelt werden müssen und beide – trotz des Altersunterschiedes – gleiche Behandlungserfolgschancen haben).
Ansonsten müsste ein gesellschaftlicher Konsens über eine Neudefinition der Artikel 1 und 3 erfolgen
„Denn Gott bevorzugt oder benachteiligt niemanden.“ (Römer 2,11)
Besonders in solch für uns alle schwierigen Zeiten sollten wir des Öfteren mal einen Blick in die Bibel werfen. Denn der Vers aus dem Römerbrief sollte eigentlich das repräsentieren, was in den Köpfen der Menschen in dieser beunruhigenden Zeit vorgehen sollte. Die Bibel als DAS globale Buch macht deutlich, dass wir als das Volk Gottes die Leitgedanken in die Welt tragen müssen. Einer dieser Grundsätze ist ganz klar, dass wir alle vor Gott gleich sind. Keiner ist wertvoller als eine andere Person. Gerade in dieser Zeit der Krise sollten wir uns das bewusst machen. Wie erschreckend finde ich die Ansicht von Italien, den Menschen vorrangig Hilfe zu geben, deren Leben statistisch gesehen noch länger andauert. Wenn ich für mich überlege, so würde ich meinem 75 Jahre alten Opa ohne zu zögern die benötigten Medikamente geben und selbst darauf verzichten. Diese Entscheidung 80-Jährigen lebensrettende Medikamente zu verwehren ist für mich vollkommen inhuman. Dennoch muss ich mir eingestehen, dass die Lage in Italien weitaus schlimmer ist, als momentan bei uns in Deutschland. Daher habe ich nicht das Recht dazu, über diese Entscheidung zu urteilen, weil ich mich weder in derselben Lage befinde, noch eine Kenntnis über die personellen und medizinischen Ressourcen in dem Land habe. So kann ich lediglich als Betrachter urteilen. Dennoch vertrete ich ganz klar die Ansicht, dass wir dem in allen Medien kursierenden Slogan: „#WirBleibenZuHause“ Folge leisten müssen. Wenn der Staat und das damit verbundene Gesundheitswesen zu solch drastischen Maßnahmen gezwungen sind, so sollten wir alle unseren Beitrag dazu leisten, die besonders gefährdeten Gruppen zu schützen. Damit sind selbstverständlich nicht nur die Älteren gemeint, sondern auch die, die unter Vorerkrankungen leiden. Es kann ebenso ein 14 jähriges/r Mädchen oder Junge mit Herzproblemen dem Virus erliegen, wie ein 75-jähriger Erwachsener. Demzufolge fordere ich dazu auf: Denkt nicht nur an euch selbst, sondern auch an die, denen es nicht so gut geht und die es zu schützen oder zu helfen gilt! In dieser Zeit hat Egoismus keinen Platz, sondern nur gemeinsam kann der Virus besieht werden!
Es ist logisch wie die drei zentralen Passagen des Papiers zustande gekommen sind. Allerdings müssten dieses genauer definiert werden, da zum Beispiel unklar ist wann eine „erhebliche Knappheit eintreten könnte“ an Ressourcen. Zudem wird nicht definiert wer entscheidet wann einen Knappheit an Ressourcen eintreten könnte. Diese Punkte müssen, meiner Meinung nach, erst klargestellt werden.
Außerdem muss berücksichtigt werden: wer die Patienten in eine der Gruppen einteilt. Dies sind wieder die Ärzte. Daher werden diese nur gering entlastet.
Vielmehr kümmern sich die Papiere um das „Vertrauen [der Menschen] in das öffentliche Gesundheitswesen“. Ob dieses allerdings mit diesen Maßnahmen gestärkt oder verringert wird muss jeder selbst entscheiden.
Zum Problem der Triage (ex ante) und des Alters:
Ärzt*innen stellen Indikationen. Normalerweise reichen die Ressourcen in unserem reichen Land aus, dass jede Indikation auch bedient werden kann. Triage im angedachten Sinn ist ein Verfahren, das dem Katastrophenfall vorbehalten ist, und das u.a. bedeuten kann, jemandem wegen eines Ressourcenkonflikts eine indizierte Behandlung nicht zukommen lassen zu können. Die dazu notwendige Legitimation ist zunächst eine politische. Die Konfliktsituation muss von einem politisch Verantwortlichen ausdrücklich festgestellt werden, der den Überblick über die verfügbaren Ressourcen auch an anderen erreichbaren Orten hat.
Ziehen wir CoVid19 als Beispiel heran: Dass in einer Klinik alle Beatmungsgeräte in Benutzung sind, bedeutet zunächst nur, dass der nächste beatmungspflichtige Patient in ein anderes erreichbares Krankenhaus mit entsprechender Ressource verlegt werden muss. Erst wenn in ganz Deutschland bzw in einem vertretbaren Flugradius weniger freie Geräte zur Verfügung stehen, als in diesem Moment nachgefragt werden, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Verteilung der knappen Geräte an die Patienten erfolgt.
Ausgeschlossene Kriterien (nach dt. Grundgesetz bzw. Europ. Menschenrechtskonvention):
Art. 3 (3) GG: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Art. 14 EMRK: „Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“
Das heißt, alle anderen Kriterien müssen nach med. und ethischen Gesichtspunkten diskutiert werden. Ob das Alter ein „sonstiger Status“ ist, bleibt unklar, aber doch eher nicht, weil es sich anders als ein Status fortlaufend ändert.
Für das Kriterium „Erfolgswahrscheinlichkeit“ stehen bei einer neuen Erkrankung keine empirischen Daten zur Verfügung. Bei Massenanfall von Verletzten geben das unterschiedliche Verletzungsmuster und die Verletzungsschwere Anhalte für die Überlebenswahrscheinlichkeit. Nicht so bei einer Seuche, bei der alle die gleiche Krankheit haben. Erforscht werden müssten zunächst der Einfluss verschiedener Begleiterkrankungen sowie verschiedener Differenzierungen der Therapie (Beatmungsmuster, Lagerung, Medikation) und anderer möglicher Einflussparameter.
In einer solchen Situation (d.h. nur wenn die vorgenannten Prämissen zutreffen: keine Erkenntnis über die Überlebenswahrscheinlichkeit) die Summe zu gewinnender qualitativer Lebensjahre (Alter!) und die Zahl abhängiger Personen (Kinder) als Kriterien heranzuziehen, ist womöglich nicht nur utilitaristisch, sondern auch kontraktualistisch (Rawls) begründbar.
Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass bei Zuteilungskonflikt des einzigen freien Respirators zwischen einer jungen Mutter mit 3 Kindern und einem 85jährigen sehr viele Ärzte für den Senior bzw für eine Auslosung votieren würden. Da der Ältere nicht fremdverzweckt, sondern Opfer eines tragischen Dilemmas wird, ist Kant hier nicht einschlägig. Dass ein “Wert des Lebens”-Argument hier gar nicht vorkommt, scheint evident. Dass die Unterwerfung unter ein Losverfahren meiner Würde zuträglicher wäre, als das mögliche Opfer einer überlegten, empathischen, wenn auch vllt fehlerhaften, Arztentscheidung zu sein, sehe ich nicht.
Was meinen Sie?
Jochen Scheidemantel, (Anästhesist i.R. und Ethikberater)
Darf ich noch eine Erläuterung zur “traditionellen Triage” (c2/c3 bei Frau Lübbe) anbringen: Es darf nicht vergessen werden, dass das Verfahren primär für Verbandplätze entwickelt wurde. Triage-Gruppen 1 und 2 unterscheiden sich eben nicht durch abnehmende Schwere der Erkrankung, sondern Gr.1 umfasst diejenigen Opfer, denen sofort vor Ort durch einen umfänglich begrenzten Eingriff (Blutstillung, Freimachen der Atemwege) das gerade entweichende Leben bewahrt werden kann. Dagegen gehen in Gr.2 diejenigen, die wegen der hohen Verletzungsschwere vordringlich in eine Klinik transportiert werden müssen. Für Infektionen kann das natürlich anders aussehen.