Das EU-Recht in der Krise – ein schwieriges Verhältnis
Die Herrschaft des Rechts hat sich in Zeiten zu bewähren, in denen die Rechtsbindungen für die Politik unbequem sind. Das Verfassungsrecht verbiegt sich gerade in der Krise nicht vor der Politik, sondern setzt ihr prinzipienorientierte Grenzen. Richterliche Kontrolle besteht darin, einer Politik, die nach Kriterien der (sicherlich immer wohlmeinenden) Opportunität entscheidet, die Unverbrüchlichkeit des Rechts geltend zu machen. Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob sich das EU-Primärrecht mit Blick auf die Euro-Krisenbewältigungsmaßnahmen angemessen biegungsfest zeigt. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 6. September 2017, in der die Klagen der Slowakei und Ungarns gegen die vorläufige obligatorische Regelung zur Umsiedlung von Asylbewerbern abgewiesen wurde, stellt sich diese Frage im Bereich der Flüchtlingskrisenbewältigung nunmehr auch. In der Entscheidung nimmt der EuGH den Bindungsanspruch des Rechts weit – vielleicht zu weit – zurück. In dem Bemühen, der Politik effizientes und sicherlich auch weithin gefälliges Handeln zu ermöglichen, nimmt der EuGH schwere Legitimationsprobleme hin.
Im Kern ging es in dem Verfahren vor dem EuGH um die Frage, ob der Rat der EU auf der Basis einer Notfallklausel des EU-Vertragsrechts eine Entscheidung erlassen durfte, mit der wesentliche Prinzipien des sog. „Dublin“-Systems über die Zuständigkeit über die Gewährung internationalen Schutzes überlagert wurden. Der Rat entschied mit Mehrheit gegen die Stimmen von Tschechien, Ungarn, Rumänien und die Slowakei. Der EuGH war mit drei großen Rechtsfragen konfrontiert – und entschied sich drei Mal dafür, das Recht so zu lesen, dass es sich der Politik nicht entgegenstellte.
Im Zentrum des ersten Problemkreises stand die Frage, inwieweit sich der legitime supranationale Herrschafts- und Regelungsanspruch der EU heute schon auf Fragen der Umsiedlung von Menschen zwischen den Mitgliedstaaten bezieht. Die EU-Verträge sind nicht eindeutig. Sie sprechen von der Aufgabe der EU, Kriterien und Verfahren für die Bestimmung des für die Prüfung eines Schutzbegehrens zuständigen Mitgliedstaats zu treffen. Sie sprechen auch davon, eine gemeinsame Regelung für den vorübergehenden Schutz von Vertriebenen im Falle eines Massenzustroms zu erlassen. Im übrigen gibt es eine Notfallklausel, deren Reichweite eher offen ist. Ein gemeinsamer – gar konstitutionell klar verankerter – Wille der Mitgliedstaaten, Fragen der (vorübergehenden) Umsiedlung auf supranationaler Ebene entscheiden zu lassen, ist jedenfalls nicht zu erkennen. Ein Vorschlag der EU-Kommission, derartige Regelungen explizit und dauerhaft zu schaffen, ist noch nicht einmal mehrheits-, geschweige denn konsensfähig. Die EU ist keine Föderation, in der die übergeordnete Brüsseler Ebene die Gesamtverantwortung trägt und über die Glieder regiert. Die Mitgliedstaaten haben der EU nur begrenzte Kompetenzen übertragen und jeden Eingriff in die nationale Verfassungsidentität untersagt. Dem westlichen Liberalismus mag es anrüchig erscheinen, wenn sich ein EU-Mitgliedstaaten auf seine souveräne Autonomie beruft, um seine Idee kulturell oder sprachlich homogenen Zusammenlebens abzusichern. Wenn dem EuGH hierzu nichts einfällt, als darauf hinzuweisen, dass derartige Argumente dem Ziel der Umsiedlung entgegenstünden und deshalb unstatthaft seien, ist dies ein Armutszeugnis. In der Sache zwingen die Argumente Ungarns, die von Polen unterstützt wurden, zur Beschäftigung mit der Frage, inwieweit sich die EU-Institutionen in Kernfragen des staatlichen Selbstverständnisses über das partikulare Selbstverständnis eines Mitgliedstaats hinwegsetzen können. Wer hierauf eine einfache Antwort bereit zu haben glaubt, möge sich vor Augen führen, dass auch deutsche Verfassungsorgane zur Verteidigung der Verfassungsidentität der Politik der EU-Institutionen Grenzen zu ziehen beanspruchen. Soll über das, was die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats ausmachen kann, mehrheitlich in Brüssel entschieden werden? Es könnte den Integrationsverbund zerreißen, wenn hier keine politische Sensibilität entwickelt wird. Vom EuGH, der sich ganz als europäisches Organ begreift, ist Sensibilität für föderale Zuständigkeitsfragen leider nicht zu erwarten.
Damit ist der zweite Problemkreis angesprochen. Die EU ist letztlich weiterhin ein Club souveräner Staaten – wie nicht zuletzt der Brexit zeigt. Supranationale Herrschaftsgewalt muss im Wissen um den Club-Charakter ausübt werden. In zentralen Fragen politischer Souveränität sehen die EU-Verträge weiterhin das Einstimmigkeitsprinzip vor. In den letzten zwei Jahrzehnten sind einige souveränitätsnahe Kompetenzbereiche für Mehrheitsentscheidungen geöffnet worden. Ein Verfassungsdenken, das die Strukturprinzipen der EU sensibel aufnimmt, wird sich darum bemühen, hier Abirrungen einer Mehrheit, die sich über Anliegen einer Minderheit hinweg setzt, einzufangen – gerade weil es politisch kein „Veto-Recht“ mehr gibt. Der Europäische Rat hatte im Sommer 2015 mehrfach betont, die Probleme einer solidarischen Verteilung der Folgen der Flüchtlingskrise konsensual zu behandeln. Insofern reibt es sich mit Loyalitäts- und Vertrauensaspekten, wenn dieser Anspruch im September 2015 dann kurzfristig fallengelassen gelassen und majoritär entschieden wurde. Natürlich kann man sich formalistisch auf die Position stellen, dass das Mehrheitsprinzip dort, wo die Verträge es vorsehen, auch angewandt werden kann. Sensibilität für die Loyalitätspflichten, die gerade in hoch politischen und für die Identität eines Mitgliedstaats zentralen Fragen zu beachten sind, zeigt dies aber nicht. Hierauf mit dem „Solidaritätsprinzip“ zu reagieren, ist verfehlt. Erzwungene „Solidarität“ ist keine Solidarität, sondern Zwang. Der konstitutionellen DNA der EU hätte ein konsensuales Vorgehen, jedenfalls aber ein System entsprochen, das mit Anreizen arbeitet.
Die Regelungen des „Dublin“-Systems waren in ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden, in dem EU-Kommission, Europäisches Parlament, Rat zusammenwirken und sogar die nationalen Parlamente beteiligt werden. In den Bemühungen, der EU stärkere demokratische Legitimation zu verleihen, wurde die Einrichtung dieses Verfahrens als Meilenstein angesehen. In Sonntagsreden und offiziellen Erklärungen wird gerade hierin ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung der EU gesehen. Können die in diesem Verfahren nobilitierten Akte in einer Notsituation vom Rat nach Anhörung des Parlaments verändert werden? Der EuGH stellt sich dem nicht entgegen. Er lässt es zu, dass das wesentliche Prinzip der „Dublin“-Verordnung, wonach der Ankunftsstaat für die Durchführung des Schutzverfahrens zuständig ist, durch ein anderes Prinzip – jenes der „solidarischen“ und gleichen Verteilung – überlagert wird. Man mag dies moralisch oder politisch für angezeigt halten. Für die Bemühungen der EU darum, sich zu einem Verband zu entwickeln, der von der Herrschaft des parlamentarisch gebilligten Rechts getragen wird, ist es ein schwerer Rückschritt. Dass der EuGH derartige Überlagerungen des Parlamentsrechts nur dann zulässt, wenn sie nicht mit „dauerhafter“ Geltung erfolgen, ist ein schwacher Trost. Auch das Erfordernis, dass das Europäische Parlament immerhin zuzuhören war, wird mit juristischen Kunstgriffen marginalisiert. Der EuGH lässt es nicht nur ausreichen, dass das Parlament gerade einmal sechs Tage hatte, sich mit dem Vorschlag zu befassen. Der Umstand, dass Ungarn entgegen dem ursprünglichen Vorschlag nicht zu den begünstigten Staaten zählen würde, sondern ebenfalls zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet würde, erfuhr das Parlament gar erst mündlich einen Tag vor seiner Beratung. „Not kennt kein Gesetz“: In der konstitutionellen DNA der EU scheint die konstitutionelle Wertigkeit des Gesetzgebungsverfahrens und eine angemessene Beteiligung des Parlaments dann doch nicht so wichtig zu sein wie das Ziel effektiven Handelns.
In der Flüchtlingskrise zeigt sich erzeugt, dass die Rechtsbindung von EU-Hoheitsgewalt in Krisenzeiten eigenartige Züge annimmt. Bislang ist nicht zu erkennen, wie weit der EuGH in diesen Zeiten einen Bindungsanspruch des Rechts zurückzunehmen willens ist – nur um der Politik Freiräume zu eröffnen. Auch wer für „Solidarität“ kämpft und die Mitgliedstaaten gemeinsam in die Pflicht nehmen will, sollte den Preis der Entscheidung nicht verkennen.
Schönes Wortspiel im Titel: Ist das EU-Recht selbst schon in einer Krise? Wahrscheinlich liegt das ausserhalb des Erkenntnisvermögens der Rechtswissenschaft.
Das Problem ist, dass ein Gericht, dass Marktrechte über Bürgerrechte stellt, über Nationen entscheiden soll. Ein Unding, der EUGH sollte sich auf Marktangelegenheiten beschränken und die Träger der Bürgerrechte, die Nationen, ihre Aufgabe machen lassenen.
Lieber Herr Kollege Nettesheim
Ihr Beitrag provoziert meinen Widerspruch.
Vorwegstellen möchte ich, dass ich den vom Rat beschlossenen ad-hoc-Mechanismus zur Umverteilung von Asylbewerbern für politisch verfehlt halte. Er überfordert die begrenzte Leistungsfähigkeit selbst von loyal kooperierenden europäischen Verwaltungen und ignoriert die Interessen der beteiligten Asylbewerber. Dauerhafte Lösungen für das Problem fehlender zwischenstaatlicher Solidarität im Asylzuständigkeitssystem der EU sollten nach meinem Dafürhalten eher bei finanziellen Transfers und der Gewährung von Freizügigkeitsrechten für anerkannte Europäische Flüchtlinge gesucht werden.
An Ihrer Einordnung des Urteils als (weiteres) Beispiel für die Rücknahme des „Bindungsanspruchs des Rechts“ irritiert mich erstens, dass Sie die Gefährdung für die Herrschaft des Rechts auf der Seiten des EuGH verorten und nicht auf Seiten derjenigen Mitgliedstaaten, die sich in präzedenzloser Weise über ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen hinwegsetzen. In Ihrem Narrativ dagegen erscheint der fragliche Beschluss der EU als rechtlich fragwürdige Krisenbekämpfungsmaßnahme, für die verfassungsrechtliche Bindungen außer Kraft gesetzt bzw. sie ad hoc uminterpretiert wurden. Das erstaunt, handelt es doch bei Art. 78 Abs. 3 AEUV um eine nicht-legislative Rechtsgrundlage, wie sie auch in anderen Vertragskapiteln zu finden ist. Ein Totalvorbehalt des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mag ein verfassungspolitisches Desiderat sein, geltendes Unionsverfassungsrecht ist er nicht. Ungeachtet der Anknüpfung an das Vorliegen einer „Notlage“ in einem oder mehreren Mitgliedstaaten eröffnet Art. 78 Abs. 3 AEUV eine reguläre Handlungsoption, die genau für einen solchen Fall geschaffen wurde, wie er im Spätsommer 2015 eingetreten ist, nämlich einen „plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen“ in die EU. Ich vermag auch ihre Zweifel nicht zu teilen, dass sich die „Maßnahmen“, zu denen die EU nach Art. 78 Abs. 3 AEUV ermächtigt ist, nicht auch auf die Umverteilung von Menschen (Asylbewerbern) bezieht – über deren politische Zweckmäßigkeit kann man, wie gesagt, streiten. Alles andere als die Bestätigung der Rechtmäßigkeit des Beschlusses durch den EuGH wäre deshalb eine Überraschung gewesen, die sie selbst „schwere Legitimationsprobleme“ aufgeworfen hätte.
Zweitens irritiert mich, dass Sie Mehrheitsentscheidungen im Rat so stark in den Bereich des Exzeptionellen rücken. Gewiss ist die legislative Kompromisskultur in der EU mit ihrer Suche nach konsensfähigen Lösungen ein hohes Gut, ihre „konstitutionelle DNA“, wie Sie schreiben. Den verfassungsrechtlichen Normalfall aber bildet die Einstimmigkeit auch in der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik seit geraumer Zeit nicht mehr. Ihre Kritik berücksichtigt meiner Meinung nach zu wenig, dass der Übergang von einem intergouvernementalen auf einen supranationalen Politikmodus im Bereich Asyl, der mit dem Amsterdamer Vertrag vollzogen und dem Lissabonner Vertrag komplettiert wurde, seinerseits auf einem politischen Konsens zwischen den 25 beteiligten Mitgliedstaaten beruhte (und jenseits politischer Rhetorik wohl auch weiterhin beruht). Er ist das verfahrensrechtliche Korrelat zur verfassungsrechtlich niedergelegten Grundentscheidung, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem zu schaffen, also die Asylgesetzgebung tendenziell umfassend den Gesetzgebungsorganen der EU zu überantworten (Art. 78 Abs. 1 AEUV). Seitdem trägt die EU durchaus die politische „Gesamtverantwortung“ für die Flüchtlingspolitik auf dem Gebiet der Union, für deren Wahrnehmung ihr inhaltlich weit gefasste und (super-)majoritär ausgestaltete Regelungsbefugnisse zur Verfügung stehen (Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV) – und stehen müssen, wenn der Gestaltungsauftrag der Vertragsautoren nicht leerlaufen soll.
Drittens überzeugt es mich nicht, dass mit der obligatorischen Aufnahme einer überschaubaren Zahl von Asylbewerbern und der Prüfung ihrer Asylbegehren eine Belastung einhergehen soll, die auch nur in die Nähe der Gefährdung der „Verfassungsidentität“ eines Mitgliedstaats kommt – jedenfalls eines Verständnisses von „Verfassungsidentität“, das am Maßstab der Werte der Union (Art. 2 EUV) Legitimität beanspruchen kann. Bei diesem Maßstab geht es nicht im „westlichen Liberalismus“, dem nach Belieben ein alternatives „partikuläres Selbstverständnis“ entgegengesetzt werden könnte, sondern um die Grundlage der freiwilligen Mitgliedschaft im „Club“ EU. Zur Unvereinbarkeit einer Flüchtlingspolitik, die ethnische Homogenität zum Kriterium der Nicht-Aufnahme von Flüchtlingen erhebt, mit der EU-Grundrechtecharta hat der EuGH in der bemerkenswerten Rn. 305 das Nötige gesagt. Allerdings sehe auch ich hier ein Problem für die Bindungswirkung des Rechts. Die illiberale Reformulierung des Konzepts der Verfassungsidentität in der Praxis einiger mitteleuropäischer Staaten ruft danach, Fragen nach seiner destabilisierenden Wirkung für die Herrschaft des Rechts in der Union mit neuer Dringlichkeit zu stellen. Hier muss sich auch das deutsche Verfassungsgericht fragen lassen, ob es für die unintendierte Umwertung, die das Konzept im Zuge seiner intendierten Proliferation erfährt, nicht eine Mitverantwortung trägt.
Sehr geehrter Herr Professor Doktor Bast,
vermutlich hat man von Gießen aus einen besonders guten Blick dafür, was zu den festen “Grundlagen der EU” gehört und welche Spielräume die Mitgliedstaaten noch haben. Ich würde zu bedenken geben, dass die ganze Konstruktion der EU gerade emigrationspolitisch auf einer zentralen Differenz beruht – zwischen den glücklichen Europäern, die Freizügigkeit genießen, und den “anderen”. Ein Jurist wird natürlich sagen, dass das mit Art. 21 GRCh vereinbar ist. Für einen politisch-moralisch denkenden Menschen ist es aber dann noch merkwürdig, dass im Großen Differenzen zulässig sind, im kleinen aber Ihrer Auffassung nach das Problem mit einem dürftigen Satz (Rn. 305) abgetan werden kann. Merkwürdig …
Nettesheim scheint sich mit dem Problem im übrigen vertieft befasst zu haben:
https://www.schoeningh.de/katalog/titel/978-3-506-78849-8.html
Vielleicht gibt es doch mehr als einen Satz dazu zu sagen.
Stefan Huber
Ich kann Herrn Prof. Nettesheim nur beipflichten, möchte aber einen Aspekt ergänzen, der in der Diskussion mE übersehen wird und daher (Schein-)Kontroversen über den “Bindungsanspruch des Rechts” wie auch hier im Blog befördert:
Es handelt sich schon beim Umsiedlungsbeschluss und folglich auch beim ihn (und nicht seine “Verbindlichkeit”) bestätigenden Urteil gar nicht um eine verbindliche, d.h. eine rechtlich erzwingbare Quote, sondern letztlich nur um eine politische Absichtserklärung. Nur diese bestätigt der EuGH. Denn das Verfahren sieht als Grundvoraussetzung jeder Umverteilung, wie auch das von mir vorgeschlagene Asylvisum (https://www.xing.com/communities/posts/europa-braucht-ein-elektronisches-asylvisum-1013623670), die Meldung entsprechender Aufnahmekapazitäten durch den jeweiligen Mitgliedsstaat und sein Einverständnis (!) mit der konkreten Umverteilung vor (Art. 5 Abs. 2 und 4 des Beschlusses). Aus diesem Grund ist die Verbindlichkeit des Beschlusses von vornherein beschränkt, worauf auch der EuGH explizit hinweist (Rn. 244).
Politisch und rechtlich ist es daher skandalös, wenn im Verhältnis zu Ungarn jetzt sogar Zwangsmaßnahmen wie das Einfrieren seines Auslandsvermögens diskutiert werden (Lorenzmeier in der Zeit-Online v. 14.9.), während die anderen Mitgliedstaaten, die zwar für den Beschluss gestimmt, ihn aber selbst nicht annähernd erfüllt haben (u.a. Deutschland, Österreich z.B. hat bislang auch keinen einzigen Flüchtling aus der Quote umgesiedelt), völlig unbehelligt bleiben, ja sogar noch auf Ungarn “einschlagen”. Das kann man schon als schizophren oder zumindest unaufrichtig bezeichnen. Es zeigt, wie wenig alle Mitgliedstaaten hinter der Zwangsquote stehen und wie schwer sie sich damit tun, dies offen zuzugeben. Diese Unaufrichtigkeit verhindert jedoch die überfällige Reform des europäischen Asylrechts. Denn die Zwangsquote wird sich auch unter Dublin IV – zu Recht – nicht durchsetzen. Darum geht es doch in der Sache. Beim EuGH-Urteil und der äußerst ungeschickten Position Ungarns hierzu wird hingegen viel Lärm um wenig gemacht, und das ist dringend zu korrigieren: https://www.xing.com/communities/posts/viel-laerm-um-wenig-eugh-urteilt-zur-angeblichen-zwangsquote-fuer-die-fluechtlingsumverteilung-1013761275
Der systematische Zusammenhang von Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV stimmt nicht. Warum? Nettesheim weist zu recht darauf hin, dass die Abweichung vom “Parlamentsrecht” der Dublin-Verordnung durch den Beschluss des Rates ein Problem ist.
Die Rechtfertigung für die qualifizierte Mehrheit ist das Zusammenwirken von Rat und Parlament im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Wenn beide EU-Organe mit Mehrheit eine Verordnung beschließen, dann wäre es denkbar, dem Rat ein Abweichungsrecht – etwa für Notlagen, wie geltend gemacht – zuzugestehen. Doch sieht Art. 78 Abs. 3 AEUV für dieses zeitlich begrenzte Abweichungsrecht nun seinerseits die qualifizierte Mehrheit vor! Die Bedeutung des Vertragsartikels erschließt sich dem Beobachter nicht ohne weiteres, weil sich die Mehrheitsregel aus Art. 16 Abs. 3 und 5 EUV ergibt.
Systematisch wäre es angemessen, die Abweichung vom Verfahren in Art. 78 Abs. 2 AEUV der Einstimmigkeit zu unterwerfen; ein Parallelfall ist die ad hoc Übertragung von Kompetenzen über Art. 352 AEUV: Die Durchbrechung des Regelfalles bedarf der Einstimmigkeit (und bei Art. 352 AEUV sogar zusätzlich noch der Zustimmung des Parlaments). Der Europäische Rat entscheidet ebenfalls grundsätzlich im Konsens (Art. 15 Abs. 4 EUV).
Zudem ist seltsam, dass die geltende Massenzustrom-Richtlinie (2001/55/EG), die der Rat im Jahr 2001 erlassen hat, vom Gerichtshof mit dem Argument einer political question doctrine beiseite geschoben wird (Ziff. 257). Die Existenz der Richtlinie spielt aus meiner Sicht in der Entscheidung insgesamt eine untergeordnete Rolle.
Das thematisch Feld von Abs. 3 und die qualifizerte Mehrheit wirken in Kombination wie ein Verstärker der politischen Krise. Wenn ich es richtig sehe, wird die Debatte um die Akzeptanz des Urteils sich juristisch ohnehin Ende September erledigen. Denn mit Auslaufen des befisteten Beschlusses am 26.9.2017 (Ziff. 94) entfällt m.E. der Rechtsgrund für die (weitere) Umverteilung der Migranten.
Sehr geehrter Herr Schorkopf,
ich stimme Ihnen voll zu, auch was den Wegfall des Beschlusses am 26.09. betrifft, allerdings ist der Wortlaut des Beschlusses (auch) insoweit nicht wirklich klar. Darüber hinaus wird bei der ganzen Diskussion, wie in meinem Kommentar oben ausgeführt, die dem Umverteilungsverfahren immanente Unverbindlichkeit der Quote übersehen bzw. von der vorgeblich rechtstreuen Mehrheit der Mitgliedstaaten in skandalös unaufrichtiger Weise unter den Teppich gekehrt: https://www.xing.com/communities/posts/viel-laerm-um-wenig-eugh-urteilt-zur-angeblichen-zwangsquote-fuer-die-fluechtlingsumverteilung-1013761275
@Frank Schorkopf: Es mag ja sein, dass es aus Ihrer Sicht “angemessen” gewesen wäre, “die Abweichung vom Verfahren in Art. 78 Abs. 2 AEUV der Einstimmigkeit zu unterwerfen”. Nur hat sich eben der Vertragsgeber, d.h. alle EU-Mitgliedstaaten (auch Ungarn), anders entschieden.
So lautet Art. 16 Abs. 3 EUV: “Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist, beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit.”
Dass sich das Ihrer Ansicht nach “dem Beobachter nicht ohne weiteres erschließt” (tatsächlich gehört die Bestimmung zum europarechtlichen Allgemeinwissen), ändert nichts daran, dass es geltendes Recht ist.
Ein seltsamer Beitrag, der einen kopfschüttelnd und verärgert zurücklässt und die Frage aufwirft, inwieweit hier politische Präferenzen und persönliche Motive an die Stelle einer rechtlichen Analyse treten. Einige Anmerkungen:
1) Es ist bemerkenswert, dass ein Beitrag eines Rechtswissenschaftlers, der einem EuGH-Urteil unterstellt, den “Bindungsanspruch des Rechts zurückzunehmen”, nicht eine einzige Rechtsnorm zitiert. Bei einem solch gravierenden Vorwurf hätte ich doch gerne gewusst, welchen konkreten Artikel des AEUV der EuGH falsch angewendet haben soll – und warum.
2) Statt einer solchen Analyse bietet der Beitrag nur allgemeines Geschwurbel über Begriffe wie “Verfassungsidentität”, “Solidarität” und “Souveränität”. Selbst eine nähere Befassung mit diesen Begriffen unterbleibt, obwohl die Rechtsprechung dazu (und deren zum Beitrag überwiegend konträre Aussagen) Ihnen, Herr Nettesheim, bekannt sein muss. Ziel ist es offenbar, dass jedermann in die Begriffe hineinlesen kann, was ihm gerade passt.
3) Der Beitrag vertritt letztlich die These, dass in “hochpolitischen” Fragen die im Vertrag festgelegten Abstimmungsregeln außer Kraft zu setzen seien. Das geltende Verfassungsrecht wird als Formalismus abgetan. Zitat:
“Natürlich kann man sich formalistisch auf die Position stellen, dass das Mehrheitsprinzip dort, wo die Verträge es vorsehen, auch angewandt werden kann. Sensibilität für die Loyalitätspflichten, die gerade in hoch politischen und für die Identität eines Mitgliedstaats zentralen Fragen zu beachten sind, zeigt dies aber nicht.”
Ich frage Sie, Herr Nettesheim: Hätte der EuGH den angefochtenen Beschluss, der offenbar auch nach Ihrer Ansicht vertragsgemäß zustande gekommen ist, aus Gründen der “Sensibilität” aufheben sollen? Ist nicht in Wahrheit Ihnen, Herr Nettesheim, der Vorwurf zu machen, dass Sie den “Bindungsanspruch des Rechts” nicht ernst nehmen?
3) Sie geben das EuGH-Urteil verzerrt wieder: Entgegen Ihrer Behauptung (“Wenn dem EuGH hierzu nichts einfällt…”) ist dem EuGH sehr wohl etwas auf den “Homogenitäts”-Einwand eingefallen: Dass nämlich ein Abhängigmachen der Flüchtlingsaufnahme von der Ethnie gegen die Grundrechtecharta verstieße (Rn. 305).
4) Wer die Entwicklung des Unionsrechts und Ihre Publikationen dazu in den vergangenen Jahrzehnten verfolgt hat, kann sich nur ungläubig die Augen reiben: Propagieren Sie hier wirklich eine Art Luxemburger Kompromiss? Halten Sie wirklich die EU für einen “Club souveräner Staaten” (es kann Ihnen nicht entgangen sein, dass die Terminologie an das Völkerrecht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erinnert)? Revidieren Sie hier, mit einem Blogbeitrag, Ihre in unzähligen Publikationen niedergelegten Ansichten? Oder führt nur das konkrete Thema – wie bei manchem Ihrer Kollegen – zu einem plötzlichen Aussetzen der üblichen Denkstrukturen?
@Pearson Könnten Sie – damit auch der anscheinend nicht hinreichend belesene Leser sich ein Bild machen kann – klarstellen, zu welcher wissenschaftlichen Äußerung von Herrn Nettesheim der Artikel konkret im Widerspruch steht?
Spontan:
1) Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 2017, Art. 2 AEUV Rn. 13 und 14:
“Den Hintergrund der Regelung der Art. 2–6 AEUV bildet die föderale Struktur des Verbunds von Europäischer Union und Mitgliedstaaten. Einer Kompetenzabgrenzung, wie sie Art. 2–6 AEUV vornehmen, bedarf es nur in einem Mehrebenenverbund. In der Art, wie die Abgrenzung vom Vertragsgeber des AEUV – insofern mit dem Verfassungsvertrag gleichsinnig – vorgenommen wird, drückt sich das hohe Maß föderaler Verflechtung und die kompetenzielle Gleichgewichtigkeit beider Ebenen aus: Es ist heute eben nicht mehr so, dass die eigentlich in sich ruhenden Mitgliedstaaten der EU zum Zwecke der gemeinsamen Zusammenarbeit punktuelle Befugnisse übertragen. Vielmehr stehen der EU ausschließliche Befugnisse von weitreichender Bedeutung zu; die Sphäre der geteilten Befugnisse erstreckt sich heute über beinahe alle Bereiche staatlichen Handelns.
Der Grad der Verflechtung ist inzwischen so groß, dass in der die Vertragsverhandlungen begleitenden Diskussion gefordert wurde, die Residualbereiche mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten durch die Kategorie „ausschließlicher Zuständigkeiten“ der Mitgliedstaaten zu definieren. Staatstheoretisch wäre dies geradezu unerhört. Der Lissabon-Vertrag hat letztlich darauf dann grundsätzlich verzichtet; mehr als der allgemeine Hinweis in Art. 4 Abs. 1 EUV findet sich nicht. Eine Ausnahme gibt es insofern, als Art. 4 Abs. 2 S. 3 EUV mit dem Bereich „nationale Sicherheit“ erstmals einen Zuständigkeitsbereich definiert, der in die „alleinige Verantwortung“ der Mitgliedstaaten fallen soll. Die hierin zum Ausdruck kommende Zurückhaltung der vertragsgebenden Mitgliedstaaten wird nicht ganz einheitlich bewertet…”.
2) Nettesheim, in: v. Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 397 und 398:
“Es ist an anderer Stelle ausführlich begründet worden, dass die EU und die Mitgliedstaaten inzwischen eine Form von Selbststand und wechselseitiger Verbundenheit gefunden haben, die sich als Föderalismus bezeichnen lässt.”
“Es ist denn auch heute davon auszugehen, dass sich die klassischen Regeln völkerrechtlicher Verantwortlichkeit internationaler Organisationen – insbesondere der Grundsatz der Möglichkeit des Durchgriffs auf die Mitgliedstaaten – auf die EU nicht mehr anwenden lassen.”
“In jeder wahren Föderation sind die Kompetenzen der einander zugeordneten Verbände begrenzt […]. Dies gilt auch für den Verbund von EU und Mitgliedstaaten.”
Und wenn Sie d
Es ist ziemlich offensichtlich, dass die rechtlichen Argumente eher gegen die Bestätigung des Umverteilungsbeschlusses sprachen, so auch dieses, wie ich meine, gut begründete Gutachten: http://jean-monnet-saar.eu/wp-content/uploads/2013/12/Schuberth_final-1.pdf
Aber auch der EuGH hat es sich nicht leicht gemacht und die Entscheidung ist auf jeden Fall vertretbar und anzuerkennen. Jedoch wird das ganze, aus den oben von mir (und auch vom EuGH in Rz. 244) genannten Gründen mE überschätzt. Die Probleme liegen im weiterhin dysfunktionalen Asylrecht.
@Pearson: Vielen Dank, Ihr letzter Satz ist leider unvollständig. Wenn ich Sie richtig verstehe, liegt der Ihrerseits angeführte konkrete Widerspruch in der Strukturbeschreibung der Beziehung von Union und Mitgliedstaaten: einerseits Club souveräner Staaten (Nettestem 2.0), andererseits Föderation bzw. Föderalismus als Bezeichnung der Struktur (Nettesheim 1.0). Revidieren würde Herr Nettesheim sich nach meiner Einschätzung aber nur dann, wenn er die Begriffe als wechselseitig exklusiv und gegensätzlich gebrauchen würde. Das lässt sich jedenfalls nicht aus den Zitaten ableiten, mag es auch dem Soundgefühl der LeserIn entsprechen.
@5 Cent: Den unvollständigen Satzteil hat das Diktierprogramm versehentlich mitgeschnitten. Es wäre traumhaft, wenn der Verfassungsblog eine Editierfunktion einführen würde.
Mit Ihrem Einwand habe ich gerechnet. Man kann aber einen Text, der bewusst vage bleibt und im Wesentlichen “Soundgefühl” erzeugen will, auch nur danach beurteilen. Wenn Sie regelmäßig im Völker- und Europarecht unterwegs sind, dann wissen Sie im Übrigen, dass hinter “Club souveräner Staaten” und “Föderalismus” (egal in welchem Begriffsverständnis im Detail) letztlich zwei gänzlich unvereinbare Weltanschauungen stehen.
Sollte sich freilich Herr Nettesheim hier falsch verstanden sehen, dann bin ich gerne bereit, mich eines Besseren belehren zu lassen.
@Pearson: “Zwischen der in Art. 1 AEUV angelegten Betonung der Stellung der Mitgliedstaaten als weiterhin souveräne Träger der Integration und der im Vertrag selbst angelegten Verselbständigung des politischen Prozesses besteht insofern ein Spannungsverhältnis. Seine
Existenz macht deutlich, dass sich die europäische Integration in einem Übergangsprozess befindet, der sich mit den überkommenen und eingespielten Kategorien der staatstheoretischen Organisationslehre nicht wirklich präzise beschreiben lässt.
(GHN/Nettesheim AEUV Art. 1 Rn. 55-59, beck-online)” ohne Herrn Nettesheim etwas unterzujubeln, würde ich an diesem Zitat gemessen meinen, dass man Herrn Nettesheim dann – wenn im Diskurs der Sound die Botschaft ist – wohl eher schon immer vorhalten konnte, dass er plurale Weltanschauungen hat (und nicht erst seit einem FAZ oder Blogartikel).
vielleicht aber ist die Sache mit der Binärcodierung nach Weltansschauungen nicht der Sachverhalt, zu dem Nettesheim in die eine oder andere Richtung Position bezieht