10 October 2016

Das gescheiterte Referendum zum Friedensvertrag in Kolumbien taugt nicht zur Delegitimierung von Volksabstimmungen

Volksabstimmungen sorgen momentan für traurige Schlagzeilen. In den Niederlanden sprach sich eine Mehrheit gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine aus. Die Briten drängten mit ihrem Votum vom 23. Juni gleich auf einen Austritt aus der Union. In Thailand billigte das Wahlvolk eine neue Verfassung, die die Demokratie einschränkt und dem Militär weitreichende Kompetenzen einräumt. Und in Ungarn ließ Viktor Orbán ein umstrittenes Referendum über die Aufnahme von Flüchtlingen abhalten. Zuletzt hat das Ergebnis der Volksabstimmung in Kolumbien international für Kopfschütteln gesorgt. Dort sollte vorletzten Sonntag der Schlussstrich unter die Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC gesetzt werden. Das Volk aber lehnte den Friedensvertrag ab.

Die Vorgeschichte: Nach über 50 Jahren Bürgerkrieg schaffte es Präsident Juan Manuel Santos im September 2012 die FARC in ernsthafte Friedensverhandlungen einzubinden. Dafür wurde in Kuba, auf neutralem Boden, ein ständiges Gremium eingerichtet, das sich aus Vertretern beide Seiten zusammensetzte, der Mesa de Conversaciones. Vier Jahre lang verhandelte man hier über die Bedingungen eines dauernden Friedens. Die ehrgeizige Agenda umfasste fünf zentrale Streitpunkte. Für jeden einzelnen wurde nach und nach eine Lösung gefunden, bis schließlich im August 2016 der endgültige Entwurf des Friedensvertrages vorgestellt wurde. Nun galt es lediglich den Vertrag juristisch wirksam werden zu lassen. Doch zuvor, das war Juan Manuel Santos wichtig, sollte es noch eine Volksabstimmung geben. Die FARC willigte ein.

Ob es sinnvoll war, in dieser Angelegenheit das Volk zu befragen, kann bezweifelt werden – immerhin wirken die Kriegsnarrative noch. Eine sehr emotionale Debatte war daher voraussehbar. Außerdem war die Abstimmung aus juristischer Perspektive nicht erforderlich. Das Abkommen hätte auch so in die kolumbianische Rechtsordnung inkorporiert werden können. Warum nur, fragt man sich, hat Präsident Juan Manuel Santos nicht darauf verzichtet? Jetzt muss er noch einmal von vorne anfangen, anstatt den Friedensvertrag unter Dach und Fach zu bringen. So einfach ist es aber nicht. Ich denke, es war richtig und wichtig, das kolumbianische Volk abstimmen zu lassen, auch wenn das Ergebnis natürlich bitter ist.

Zunächst einmal muss man aufpassen, nicht alle Referenden in einen Topf zu schmeißen. Sicher, nach Brexit, Thailand, Orbáns Flüchtlingsquoten-Referendum und nun dem „Nein“ in Kolumbien liegt es nahe, das Thema Volksabstimmung noch einmal grundsätzlich zu behandeln. Aber das darf nicht zu einer pauschalen, unpräzisen Kritik führen, denn die Umstände der einzelnen Abstimmungen waren sehr unterschiedlich. Trotzdem liest man nun Stellungsnahmen, die mit den gleichen Argumenten mehrere Fliegen auf einmal totschlagen wollen, zum Beispiel hier und hier: Die Debatten, die den Abstimmungen vorausgehen, so die gängigste Kritik, würden ausschließlich emotional geführt und die Bürgen könnten sich ohnehin nicht in so komplizierte Sachverhalte angemessen hineindenken. Letztlich orientiere sich deswegen die Entscheidung an der Beliebtheit der für die einzelnen Positionen werbenden Personen. Weiter heißt es, die Regierungen würden Abstimmungen nur deswegen initiieren, um sich in ihrem eigenen Kurs bestätigen zu lassen. Gleichzeitig sei es aber beinahe unmöglich das Ergebnis der Abstimmung vorauszusagen.

Die negativen Erfahrungen mit Volksabstimmungen haben die Autoren offenbar dazu verleitet, Volksabstimmungen grundsätzlichen abzulehnen. Interessanter erscheint es demgegenüber, etwas vielschichtiger zu denken und zu fragen, wann Volksabstimmungen sinnvoll sind und wann nicht. Den Versuch hat Alexander Thiele im Verfassungsblog unternommen. Er hat hierfür drei Kriterien entwickelt. Erstens müsse die Fragestellung einer Ja-/Nein-Antwort zugänglich sein, weil eine nachträgliche diskursive Kompromisslösung nicht ermittelt werden könne. Zweitens seinen nur solche Themen geeignet, die alle an der Abstimmung beteiligten Personen betreffen. Und drittens müsse es möglich sein, das Ergebnis der Abstimmung unmittelbar umzusetzen. Für den Brexit kam Thiele zu dem Ergebnis, dass die Frage, ob Großbritannien die EU verlassen soll, nicht für eine Volksabstimmung geeignet war. Was aber lässt sich mit diesen Kriterien zum Referendum in Kolumbien sagen?

Folgende Frage hatten die Kolumbianer zu beantworten: „Unterstützen Sie das Abkommen zur Beendigung des Konflikts durch das ein stabiler und dauernder Frieden geschlossen werden soll?“ Das klingt erstmal gar nicht nach einer verbindlichen Frage, ist es aber durchaus. Denn in dem Gesetz, das als Rechtsgrundlage für das Referendum erlassen wurde, hieß es, dass die Entscheidung des Volkes für alle staatlichen Organe verbindlich sei. Das kolumbianische Verfassungsgericht hat noch vor der Abstimmung in einem Urteil diese weitreichende Formulierung relativiert. Nach der Verfassung, so das Gericht, könne nur der Präsident, nicht aber die anderen Verfassungsorgane eine Volksabstimmung durchführen lassen. Das bedeute, dass auch die rechtliche Verbindlichkeit einer Abstimmung nicht über die Kompetenzen des Präsidenten hinausgehen könne. Daher sei beispielsweise der Kongress nicht an das Ergebnis gebunden. Für den Präsidenten könne die Abstimmung indes durchaus eine verbindliche Wirkung entfalten. So wäre es diesem bei einem negativen Ausgang der Abstimmung verboten, das Abkommen umzusetzen. Letztlich haben die Kolumbianer also darüber entschieden, ob Juan Manuel Santos weiterhin Maßnahmen ergreifen darf, die die Umsetzung des ausgehandelten Abkommens voranbringen.

Die Fragestellung war damit einer eindeutigen Ja-/Nein-Antwort zugänglich. Es war klar, worauf sich die Verpflichtung des Präsidenten bezogen hätte, wäre die Abstimmung positiv ausgegangen. Anders als beim Brexit-Referendum, in dem nur über die Aufnahme von Austrittsverhandlungen entschieden wurde, lag in Kolumbien der Friedensvertrag vollständig ausgehandelt vor. Das weitere Vorgehen war darin detailliert beschrieben. Und auch die Konsequenzen eines negativen Votums waren vorher klar: Du, Präsident, darfst dieses Abkommen nicht umsetzten.

Aber waren alle Kolumbianer von der Entscheidung über das Friedensabkommen betroffen? Hier könnte man auf die niedrige Wahlbeteiligung verweisen und darauf, dass der Konflikt sich auf einige Regionen konzentriert. Allerdings hat der Krieg gewaltige Fluchtbewegungen innerhalb des ganzen Landes verursacht, und sehr viele Familien haben Opfer zu beklagen. Es gibt vielleicht kein besseres Beispiel für eine allgemeine nationale Betroffenheit als einen Bürgerkrieg. Hinzu kommt, dass das Abkommen die politische Zukunft Kolumbiens nachhaltig verändert hätte. Die FARC wäre als politische Partei bei der nächsten Wahl automatisch in das Parlament eingezogen. Auch hinter die zweite Voraussetzung kann also ein Haken gesetzt werden.

Schließlich war auch die Umsetzbarkeit der Entscheidung gewährleistet. Immerhin waren sich alle Parteien einig, was nach einem „Ja“ passieren würde. Und ein „Nein“ bedeute eben, dieses konkrete Abkommen nicht umzusetzen. Ein mögliches weiteres Vorgehen hatte das Verfassungsgericht bereits vorgezeichnet. So würde es ein negatives Votum nicht ausschließen, ein neues Abkommen auszuhandeln.

Alle Lichter auf grün also? Noch nicht ganz. Nach Thiele ist es Zweck von Volksabstimmungen, das Vertrauen in demokratische Verfahren zu stärken. Das ist ein wichtiges Anliegen, aber war es wirklich nötig, Frieden zu stiften und gleichzeitig auch noch die Demokratie zu stärken? Überspitzt formuliert: Die Demokratie kann man gerne stärken, aber besser schließt man erstmal Frieden und legt dem Volk später eine nicht ganz so wichtige Frage, beispielsweise über ein Sportevent, vor.

Vielleicht liegt die Pointe in der Diskussion um die Sinnhaftigkeit von Referenden am kolumbianischen Beispiel woanders. Hier zeigt sich nämlich, dass Abstimmungen gerade dann sinnvoll sind, wenn für die Umsetzung der Entscheidung jeder einzelne gefragt ist. Gesellschaftlicher Frieden wird letztlich nicht nur von zwei Verhandlungsdelegationen und einen Vertrag gestiftet. Alle Menschen müssen sich daran beteiligen, diesen zu errichten und zu erhalten. Eine Abstimmung kann hier einiges bewirken. Durch sie konfrontiert man die Menschen mit der Herausforderung, vor der das Land steht. Juan Manuel Santos hatte früh verkündet, dass über das abschließende Abkommen das Volk abstimmen würde. Damit hat er alle Kolumbianer dazu aufgefordert, sich mit den Verhandlungen auseinanderzusetzen. Auch gab es stets die Möglichkeit, Kritik via Petitionen zu formulieren. Anders als der britische Premierminister David Cameron, der mit dem Brexit-Referendum eine Debatte abwürgen wollte, hat Santos eine entfacht. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der FARC wurde so in die Gesellschaft hineingetragen. Viele Menschen haben überhaupt nur deswegen den starken Wunsch nach einem Friedensvertrag entwickelt und sind nun stärker als zuvor bereit, sich dafür einzusetzen. Eine Freundin aus Kolumbien, die über den Ausgang des Referendums bitter enttäuscht war, schreibt mir: „Mache sagen jetzt, die Regierung steht vor einer schweren Aufgabe. Aber das verfehlt den Punkt. Wir alle, die Bürger, müssen einsehen, dass wir nicht genug für den Frieden getan haben. Es liegt an uns, die Zweifler zu überzeugen und diejenigen zu motivieren, die denken, es geht sie nichts an.“ Auch das norwegische Nobelpreiskomitee, das Santos für seine Bemühungen für den Frieden gewürdigt hat, erklärt in einer Pressemitteilung, Santos habe eine wichtige Grundlage sowohl für die baldige Entwaffnung der FARC als auch für die nationale Versöhnung gelegt.

Allerdings hat der Ausgang des Referendums gezeigt, dass bei weitem noch nicht alle bereit sind, sich auf Kompromisse einzulassen um einen Krieg zu beenden. Santos hat es nicht geschafft, die Opposition in die Verhandlungen einzubeziehen. Das wird er nun nachholen müssen. In den letzten Tagen hat er sich auch direkt mit den prominentesten Vertretern der „No“-Kampagne getroffen. Man kann also hoffen, dass das Ergebnis der nächsten Abstimmung zur Abwechslung mal für positive Schlagzeilen sorgt.


7 Comments

  1. Max Mustermann Mon 10 Oct 2016 at 17:33 - Reply

    An Ihrer Betrachtung schliessen Sie wesentliche inhaltliche Punkte des Vertrages und auch der Vorgeschichte aus.

    Zuvorderst darf ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass es sich in Kolumbien nicht um einen “Bürgerkrieg” handelt. Dieser Begriff ist erst vor kurzem in die Berichterstattung eingeflossen, um zu suggerieren, es ginge um eine Frage von Krieg oder Frieden.

    Wir sprechen von einem bewaffneten Konflikt mit höchstens 7000 bewaffneten Kämpfern, einer kriminellen Drogenbande, welche 37+ Millionen Menschen das Leben lästig macht.

    Weiter sollten Sie wissen, dass der kolumbianische Präsident vor wenigen Wochen Öllinzenzen an eine norwegische Firma vergeben hat, deren Vorstandsvorsitzende Vorsitzende des Nobelpreiskomitees ist.

    Die jetzige Vereinbarung sieht tiefgreifende Fiskalische Massnahmen und Sozialausgaben vor und zwar unabhängig von der wirtschaftlichen Leistungskraft des Landes. Weiter sollen Staatsaufgaben und “autonome” Gebiete innerhalb Kolumbiens der FARC überragen werden. Der Drogenanbau ist schwammig geregelt, so dass zu befürchten bleibt, dass eine Partei im Parlament nun straflos Kokain exportieren kann.

    Weiter gibt es schon seit 10 Jahren ein Gesetz zur Entwaffnung irregulärer Kampfverbände.
    Uribe hat mit diesem Gesetz über 14´000 Kämpfer sowohl der FARC als auch der Paras zum Abgeben der Waffen gebracht und ihnen Rente und Schule und Ausbildung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglicht.

    Bei diesem Gesetz ist auch ausdrücklich eine Amnestie für den einfachen Kämpfer vorgesehen.

    Eine solche Vereinbarung wie jetzt braucht es schlicht nicht, ausser man erklärt sich damit einverstanden, dass Gewalt ein zulässiges Mittel in einer demokratischen Parlament sein darf.
    Die ELN wird sich freuen das zu hören.
    Dieser Vertrag wird zu noch mehr Gewalt führen.
    In Deutschland ist es Staatsdoktrin nicht mit Terroristen zu paktieren. Sonst hätte die RAF ja Sitze im Bundestag bekommen, anstatt in Stammheim einzusitzen.

    Letztlich ist die neueste Meldung, dass das Verfassungsgericht eine Wahlwiederholung an der Küste ansetzt. Da leben die ärmsten Menschen und der Stimmenkauf ist dort am leichtesten. Das Ja wird sich also noch durchsetzen.

    Dies aber nur weil ein Richter des Verfassungsgericht vor 3 Wochen “rausgeworfen” und ersetzt wurde.

    Diese Farce einer Kapitulation des Rechtsstaates und Abschaffung der Demokratie war auf lange Hand geplant.

    Bitte bewerten Sie nicht Ergebnisse einer Abstimmung, die Sie nicht verstehen.

  2. Max Mustermann Mon 10 Oct 2016 at 17:41 - Reply

    Und noch was:

    Es hätte auch die ausdrücklich die Möglichkeit gegeben, die einzelnen Kapitel des Vertrages einzeln zur Abstimmung vorzulegen.
    Also 14 Ja/Nein Fragen.
    Dies hat Santos aber abgelehnt, es sollte das Gesamtpaket zur Abstimmung gestellt werden, damit man die Frage auf eine irreführende Zuspitzung zu Friede Ja/Nein reduzieren kann.

    TTIP lässt grüßen.

  3. Max Mustermann Mon 10 Oct 2016 at 17:54 - Reply

    Die verfassungsrechtlich interessante Frage ist nach den heutigen Ereignissen, ob eine Teilwiederholung des Plebiszits in nur einzelnen Departements zulässig ist.

    Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage.

    Und widerspricht eigentlich allen Wahlmodalitäten weltweit.

  4. Ottermann Tue 11 Oct 2016 at 08:32 - Reply

    Ein wissenschaftlicher Artikel auf der Sprachebene eines Deutschunterrichts-Aufsatz, bravo!

  5. Max Mustermann Tue 11 Oct 2016 at 23:06 - Reply

    Ich muss mich korrigieren.

    Das Verfassungsgericht hat jetzt doch entschieden, dass eine Wahlwiederholung der Wahllokale, welche aufgrund des Sturmes Matthew später öffnen mussten, doch nicht zulässig ist.

    Böse Zungen behaupten, dass man beim Nachrechnen gemerkt hat, dass bei einer solchen Auswahl keine 60´000 Stimmen rechnerisch überhaupt erreichbar sind.

  6. Thorsten Haupts Sat 15 Oct 2016 at 00:41 - Reply

    Voraussetzung des ganzen – an sich interessanten – Beitrages war eine Faktenfeststellung: In Kolumbien herrscht Bürgerkrieg.

    Tatsächlich? Knapp und hoch gerechnet 10.000 bewaffnete Menschen, die sich in der schwammigen Grauzone zwischen Drogenhandel, Terrorismus und Partisanenkrieg bewegen, sind ein “Bürgerkrieg”? Wenn sich also morgen 5.000 Rechtsextremisten bewaffnen und Sprengstoffansachläge und Morde in Baden Württemberg verüben, haben wir in Deutschland “Bürgerkrieg”? Nee, ne?

    Die Motive der Ablehnung scheinen mir logisch und nachvollziehbar – eine Mehheit der Kolumbianer lehnt es ab, eine kriminelle Bande für ihre Gewalttaten nicht nur zu amnestieren, sondern auch noch zu belohnen (garantierte Sitze im Parlament). Eher wäre bei den Zustimmenden zu fragen, ob sie einen Präzedenzfall konstruieren wollen – den, dass sich massive Gewalt einer kleinen Minderheit GEGEN eine Rechtsordnung lohnt.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

  7. Andreas Moser Wed 19 Oct 2016 at 15:03 - Reply

    Kolumbien: Nach 50 Jahren Gewalt, Terror und Vertreibung wird ein Friedensvertrag abgelehnt.
    => Man verhandelt halt weiter. Kein Grund zur Panik.

    Vereinigtes Königreich: In einer Frage, die überhaupt nicht drängte, über deren Konsequenzen man aber jahrelang nachdenken und diskutieren hätte können, entscheidet eine Mehrheit für den Brexit weil sie was gegen Polen und Rumänen haben.
    => Panik, Wirtschaftskrise, Abgleiten eines Landes ins verfassungsrechtliche Chaos und in die politische Bedeutungslosigkeit.

    So schlecht steht Südamerika gar nicht da.

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