Das wohlfeile Totschlagargument
Die Grundrentendebatte nicht vermeintlich verfassungsrechtlich ersticken, sondern politisch führen
Der jüngste Vorschlag von Bundessozialminister Hubertus Heil zur „neuen Grundrente“ wurde gemeinhin als parteipolitisch motivierter Vorschlag kurz vor den Europaparlamentswahlen wahrgenommen. Tatsächlich ist die Diskussion aber viel älter und auch parteipolitisch gar nicht eindeutig zuzuordnen. Jetzt, da die Reformvorschläge konkreter werden, droht die notwendige politische Debatte über die Ausgestaltung einer Grundrente mit fragwürdigen verfassungsrechtlichen Argumenten im Keim erstickt zu werden.
Bereits Ursula von der Leyen, Bundessozialministerin in der CDU-FDP-Koalition, wollte die „Lebensleistungsrente“ einführen. In die anschließenden Koalitionsverhandlungen 2013 startete die SPD mit der Forderung nach einer „Solidarrente“ und im Koalitionsvertrag 2013 zwischen CDU, CSU und SPD wurde eine „solidarische Lebensleistungsrente“ vereinbart. Andrea Nahles als Bundessozialministerin setzte sie aber nicht um. Also findet sich im aktuellen Koalitionsvertrag 2018 die Vereinbarung einer „Grundrente“ und Heil meint es nun offenbar ernster. Er kündigte Anfang 2019 eine „Respektrente“ an, präsentierte Eckpunkte und legte der Bundesregierung Mitte Mai einen Entwurf vor, der aber vom Kanzleramt nicht in die Ressortabstimmung gegeben wurde.
Stattdessen wird seit Ende Mai von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ein Thesenpapier von Heinz-Dietrich Steinmeyer verbreitet, nach dem die geplante Grundrente verfassungswidrig sei. Eine inhaltliche Auseinandersetzung lohnt sich damit nicht. Dem Autor sollte man auch so viel Zeit zugestehen, dass er die offenbar rasch hingeworfenen Thesen überdenken und das, was er aufrechterhalten will, mit einer fundierten Argumentation unterlegen kann. Umso mehr scheint die Publikation des Thesenpapiers als ein Versuch, die Debatte im Keim zu ersticken.
Differenzierter finden sich Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen einer Grundrente bei Hans-Jürgen Papier. Papier reflektiert die Gesetzgebungskompetenz und Gleichheitsaspekte, die bei einer rentenrechtlichen Änderung zu berücksichtigen seien. Sein Referenzpunkt hierfür ist die Entscheidung des BVerfG zum Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung (BVerfGE 113, 167). Reformen, die „die Lohn- und Beitragsäquivalenz nicht völlig ignorieren, sondern nur zugunsten des Solidarausgleichs relativieren, letzteren etwa erweitern“, sind für ihn verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich. Konkret seien die Höherbewertung von Anwartschaften und Mindestentgeltpunkte „verfassungsrechtlich, insbesondere im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz, unbedenklich“. Etwas anderes soll laut Papier hingegen gelten, wenn niedrige Renten auf einen Mindestbetrag aufgestockt werden, weil es dann „um eine einseitige Durchsetzung des Prinzips staatlicher Fürsorge und [das] partielle […] Außerkraftsetzen […] des Äquivalenz- und Versicherungsprinzips“ gehe.
Unabhängig davon, ob der Unterschied zwischen aufgestockten Rentenentgeltpunkten – die übrigens der Grundrentenentwurf vorsieht – und aufgestockten Rentenbeträgen letztlich trägt, ist die Verschiebung der Maßstäbe, die Papier anlegt, bemerkenswert – und kritikwürdig.
Umverteilung und sozialer Ausgleich als typische Strukturmerkmale
Der von Papier gewählte Ausgangspunkt, die BVerfG-Entscheidung zum Risikostrukturausgleich, ist gut gewählt, aber nicht ganz zutreffend wiedergegeben. In dem Verfahren von 2001 bis 2005 hatten die Landesregierungen Baden-Württembergs, Bayerns und Hessens das Ausgleichssystem zwischen den Gesetzlichen Krankenkassen gerügt und dabei (u.a.) darauf abgestellt, dass den Beitragszahlern der GKV die Last eines sozialen Ausgleichs abverlangt werde, der richtigerweise auf die Gesamtheit der Steuerzahler verteilt werden müsse. Darin liege eine ungleiche und unberechtigte Belastung. Das BVerfG hat – wie Papier es auch wiedergibt – sehr deutlich gemacht, dass die Beitragsbelastung „keiner besonderen Rechtfertigung bedarf […], wenn ein zulässig Versicherter über seine Steuerpflicht hinaus lediglich zu solchen Sozialversicherungsbeiträgen herangezogen wird, die der Finanzierung des gerade auch diesem Versicherten zugute kommenden Versicherungsschutzes dienen. Ein in diesem Sinne eigennütziger Sozialversicherungsbeitrag wird nicht dadurch fremdnützig, dass der Beitrag zugleich dem sozialen Ausgleich und der Umverteilung zugunsten anderer zulässig Versicherter dient. Denn eine solche Verwendung des Krankenversicherungsbeitrags entspricht dem klassischen, vom Verfassungsgeber grundsätzlich gebilligten Konzept einer Sozialversicherung.“
Papier schließt diesem Zitat aber die Folgerung an, dass dem „also [ein] Konzept [entspricht], das auf einer angemessenen Verknüpfung des Versicherungs- und des Solidarprinzips und einem verhältnismäßigen Ausgleich zwischen diesen beiden Prinzipien basiert“. Genau dies sagt aber weder das BVerfG noch folgt es sonst aus dem Grundgesetz. Tatsächlich beschreibt das BVerfG unmittelbar vor der zitierten Passage die traditionell vom Gesetzgeber vorgefundene Sozialversicherung damit, dass „die auf Umverteilung und sozialen Ausgleich angelegte einkommensbezogene Beitragsfinanzierung ein typisches Strukturmerkmal“ sei. Für sie dürfe der Gesetzgeber deshalb den versicherungspflichtigen Personenkreis abgrenzen. Die dadurch stattfindende Ungleichbehandlung von Versicherten und Nicht-Versicherten in Bezug auf die Umverteilung und den sozialen Ausgleich in der Sozialversicherung ist mit der verfassungskonformen Entscheidung über den versicherungspflichtigen Personenkreis gefallen und „bedarf keiner besonderen Rechtfertigung“. Für das BVerfG ist gleichheitsrelevant also nur, wie der versicherte Personenkreis abgegrenzt wird. Ob, wie und wie sehr innerhalb der Sozialversicherung umverteilt wird, ist verfassungsrechtlich nicht weiter rechtfertigungsbedürftig.
Mit anderen Worten handelt es sich bei der These, dass Sozialversicherung auf einer angemessenen Verknüpfung des Versicherungs- und des Solidarprinzips und einem verhältnismäßigen Ausgleich zwischen beiden basiert, um eine Aussage darüber, wie man Sozialversicherung gestalten will, aber nicht um eine verfassungsrechtliche Vorgabe. Die zugespitzte Wendung, der wohl Steinmeyer anzuhängen scheint, und die von einigen Autoren vertreten wird, lautet: Sozialversicherung beruhe auf „dem Versicherungsprinzip“; ihr Wesensmerkmal oder zumindest das der Rentenversicherung sei die – monetär gedachte – Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen; Umverteilung durch „das Solidarprinzip“ sei hierzu eine Ausnahme und bedürfe besonderer Rechtfertigung. Nach meiner Überzeugung (ausgeführt in der Gedächtnisschrift für Arndt Schmehl, 2019, S. 303 ff.) lassen sich die komplexen Strukturen der Sozialversicherung wesentlich besser erfassen und erklären, wenn man umgekehrt zunächst vom Prinzip sozialer Gleichheit ausgeht, das durch Sozialversicherung hergestellt werden soll, und erst anschließend auf einer zweiten Argumentationsstufe Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung als Rechtfertigung für Ungleichheit zwischen den Sozialversicherungspflichtigen heranzieht. Aber für die verfassungsrechtlichen Leitplanken für Sozialversicherungsreformen kommt es weniger auf das beste Erklärungsmodell an als darauf, dass Umverteilung und sozialer Ausgleich durch einkommensbezogene Beiträge typische Strukturmerkmale der Sozialversicherung darstellen, die der Gesetzgeber vorgefunden hat und die daher verfassungsrechtlich nicht weiter rechtfertigungsbedürftig sind.
Für die aktuelle Grundrentendiskussion folgt daraus: Allein die Tatsache, dass mit einer Leistung der Rentenversicherung Umverteilung stattfindet, bildet noch keinen verfassungsrechtlichen Einwand. Es mag viele Gründe gegen den aktuellen Grundrentenvorschlag Heils geben. Auch eine andere Umverteilung als gegenwärtig – denn selbstverständlich findet in der Rentenversicherung auch heute Umverteilung, etwa zu Erwerbsgeminderten oder Kindererziehenden, statt – mag man ablehnen. Aber die Argumente dafür sind keine verfassungsrechtlichen.
Das Versprechen der Solidargemeinschaft
Wie dünn die Argumentation wird, zeigt sich exemplarisch an Papiers Unterscheidung zwischen aufgestockten Entgeltpunkten und aufgestockten Renten. Obwohl am Ende die gleichen Finanzströme stehen, sollen „Aufstockungsregelungen […] eine einseitige Durchsetzung des Prinzips staatlicher Fürsorge und [das] partielle […] Außerkraftsetzen […] des Äquivalenz- und Versicherungsprinzips“ sein. Eine solche „Armutsverhinderung […] in den Formen des Sozialversicherungsrechts“ soll „eine Aufgabe [sein], die nicht der Solidargemeinschaft der Sozialversicherten, sondern dem Staat und damit der Allgemeinheit der Steuerpflichtigen obliegt.“ Dabei ist doch Grund und Ausgangspunkt für die Sozialversicherungspflicht die Schutzbedürftigkeit von abhängig Beschäftigten. Was anderes als Armut beim Eintreten von Lebensrisiken soll denn Sozialversicherung verhindern? Wäre es nicht gerade umgekehrt eher erklärungsbedürftig, warum „die Allgemeinheit der Steuerpflichtigen“ dafür aufkommen soll, wenn das Rentensystem Armut im Alter nicht effektiv verhindert? Papier sieht ein Gleichheitsproblem darin, dass zwei Personen mit gleicher Rentenhöhe unterschiedlich hohe Beiträge eingezahlt hätten. Aber dies ist bei den heute bestehenden Umverteilungen – und bei denen, die in der Vergangenheit bestanden – nicht anders. Solidargemeinschaft bedeutet gerade, dass nicht nur der Geldbetrag und seine Zinserträge zählen. Wie gesagt, diese Umverteilung lässt sich mit guten Gründen kritisieren, aber sie ist kein verfassungsrechtliches Gleichheitsproblem. Womöglich sucht Papier deshalb zum Abschluss seines Beitrags Zuflucht beim Eigentumsschutz der Rentenansprüche. Er deutet allerdings die BVerfG-Rechtsprechung einseitig, wenn er behauptet, der Grund für die Zuerkennung des Schutzes von Art. 14 GG liege darin, dass die Rentenversicherung „versicherungsorientierte Leistungen [gewährt], die grundsätzlich ein Äquivalent für eigene Leistungen des Versicherten sind“. Das BVerfG stellt zwar auf die eigene Leistung des Berechtigten ab und sieht den personalen Bezug umso stärker, je größer diese (Arbeits-!)Leistung ist. Aber weder steht dabei eine Versicherungsorientierung noch Äquivalenz im Fokus. Vielmehr „müssen Berechtigung und Eigenleistung einander nicht entsprechen“ (BVerfGE 53, 257, 291 f.). Die These, dass bei zunehmender Aushöhlung des Versicherungs- und Äquivalenzprinzips die Eigentumsqualität der Rentenansprüche zunehmend verloren gehe, ist daher nicht aus der BVerfG-Rechtsprechung ableitbar. Schlicht unzutreffend ist zudem die Behauptung, sie stünden dann ohne verfassungsrechtlichen Schutz da. Auch für die Hinterbliebenenrente, die das BVerfG – nach meiner Überzeugung verfehlt – nicht dem Schutz des Art. 14 GG unterstellt hat (BVerfGE 97, 271), gilt, dass Änderungen den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz achten müssen, und es ist mindestens unklar, ob dadurch der Gestaltungsspielraum des Sozialversicherungsgesetzgebers effektiv weniger beschränkt wird als durch Art. 14 GG. Warum sollte auch das Vertrauen eines Versicherten, dass er aufgrund seiner durch Arbeit erworbenen Rentenansprüche im Alter eine ausreichende Existenzgrundlage hat, weniger schutzwürdig sein, wenn zur Erfüllung dieses Versprechens mehr Umverteilung erforderlich ist?
Aus diesem Grund – weil ein solches Versprechen eine hohe Bindungswirkung entfaltet – wird verständlich, warum die Ausgestaltung einer Grundrente gut überlegt sein will. Er mag auch erklären, warum die schon lange erklärte Absicht erst jetzt zu einem ersten Umsetzungsvorschlag geführt hat. Die Diskussion sollte geführt werden – mit politischen Argumenten und Ideen, aber nicht gleich mit dem wohlfeilen Totschlagargument der Verfassungswidrigkeit.
Bei der aktuellen Grundrentendiskussion geht es um eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Leider geht der Beitrag nicht darauf ein, warum ein Teil der Rentenversicherten mit einem anderen Teil der Rentenversicherten solidarisch sein soll, der bereits anderweitig abgesichert ist. Aus Respekt?
Leider geht der Beitrag auch nicht darauf ein, warum für eine solche Respektsbezeugung nur die übrigen Versicherten in der GRV finanzierungsverantwortlich sein sollen und nicht Beamte oder Mitglieder berufsständischer Versorgungswerke. „Was anderes als Armut beim Eintreten von Lebensrisiken soll denn Sozialversicherung verhindern? Wäre es nicht gerade umgekehrt eher erklärungsbedürftig, warum „die Allgemeinheit der Steuerpflichtigen“ dafür aufkommen soll, wenn das Rentensystem Armut im Alter nicht effektiv verhindert?“ Diese Frage mag sich insbesondere für Professoren der Besoldungsgruppe W L3 in Hessen stellen, die bei einem Grundgehalt von € 7.869,10 im Endausbau eine Pension von € 5.646,08 (71,75% von 7.689,10) zu erwarten haben. Mit einer solchen Argumentation könnte man auch die Finanzierung von ALG II, die bislang aus Steuermitteln erfolgt, in der GRV verorten.
Der Gesetzgeber bestimmt die versicherungsfremden Leistungen in der GRV nicht und übernimmt den finanziellen Aufwand dafür nur teilweise. Das Bundesverfassungsgericht lasst ihn damit unter Hinweis auf den Solidargedanken damit durchkommen. Nach meiner Ansicht wurden die Kassen der Sozialversicherungsträger jahrzehntelang vom Gesetzgeber geplündert, so dass sich ein Teil der Gesellschaft einen schlanken Fuss bei der Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben mach konnte und kann.
Aus dem Jahresgutachten 2005/06 des Sachverständigenrates zur Begutachtungder gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Seite 376 (https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/gutachten/ga05_ges.pdf):
Das Volumen der versicherungsfremden Elemente in allen Zweigen der Sozialversicherung beläuft sich auf ̧über 130 Mrd Euro, wobei der größte Teil auf die Gesetzliche Rentenversicherung und die Gesetzliche Krankenversicherung entfällt. In der Gesetzlichen Krankenversicherung sind vor allem die versicherungsfremden Umverteilungsströme quantitativ von besonderer Bedeutung. Die Einteilung der Versichertengemeinschaft in Pflichtmitglieder, freiwillige Mitglieder, Mitglieds-Rentner und mitversicherte Familienangehörige und die daraus ableitbaren versicherungsfremden Umverteilungsströme von über 40 Mrd Euro liefern eine gute Annäherung an das Gesamtvolumen der versicherungsfremden Umverteilung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, das sich als Summe der positiven oder negativen versicherungsfremden Deckungsbeiträge je Versicherten ergibt. Ähnliches gilt für die versicherungsfremde Umverteilung in der Pflegeversicherung, die insgesamt rund 5 Mrd Euro ausmacht. Den versicherungsfremden Elementen stehen Zahlungen des Bundes in das Sozialversicherungssystem in Höhe von gut 60 Mrd Euro gegen über. Damit ergibt sich in den betrachteten vier Sozialversicherungszweigen ein Fehlfinanzierungsvolumen von mindestens 65 Mrd Euro (Tabelle 39).
S. meinen Kommentar zu Jens (unten).
Während der Debatte von der damaligen Lebensleistungsrente zur jetzigen Grundrente hat sich der Fokus von den Frauen, die wegen der subsidiären Erziehungs- und Pflegeverantwortung nicht ausreichend erwerbstätig sein konnten, zu einer Besserstellung von Geringverdienenden gewandelt. Dass die Solidarleistung der Rentenversicherung die gesellschaftlich notwendige Arbeit der Frauen ausgleicht, wurde bereits breit akzeptiert. Dass die gesetzliche Rente im Nachhinein als Reparaturbetrieb für einen Arbeitsmarkt mit geringen Existenzsicherungsmöglichkeiten dient, darüber gibt es bisher keinen Konsens. Im Gegenteil wurden die grundsätzlichen Besserstellungen z.B. für schulische Ausbildungen abgeschafft.
Insbesondere die Vermischung beider Grundgedanken, Ausgleich für gesellschaftlich notwendige Arbeit und Ausgleich für Fehlallokationen des Arbeitsmarktes, ist zu beklagen, denn damit dienen die Lebenslagen der Frauen zur nachträglichen Rechtfertigung einer in der Vergangenheit verfehlten Arbeitsmarktpolitik für alle Erwerbstätigen. Wenn zudem noch die Bedürftigkeitsprüfung aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt werden sollte, werden die ursprünglich in den Blick genommenen Frauen mit Familienverantwortung zu einem sehr erheblichen Teil gar nicht von der Grundrente profitieren, denn die Familienarbeit ohne volle Erwerbstätigkeit ist ohne finanzielle Abhängigkeit vom Ehepartner meist nicht zu bewältigen. Er würde auch weiterhin zu ihrem Unterhalt herangezogen bzw. wird ebenfalls zum fiktiv Hilfebedürftigen.
Sie treffen den Punkt: unter Grund-, Lebensleistungs- oder Respektrente werden viele unterschiedliche Ziele verhandelt. Eine transparente Debatte wäre gut. Ich bin bei ihnen, wenn Sie schreiben, dass “die Solidarleistung der Rentenversicherung die gesellschaftlich notwendige Arbeit der Frauen ausgleicht”. Aber ich zweifle, dass die breit akzeptiert wird. Die anderen Kommentare in diesem Blog gehen wohl davon aus, dass die Rentenversicherung auf einer Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen beruht. Es zeigt sich, wie viele unterschiedliche Sichtweisen hier nebeneinander und teils auch gegeneinander stehen. Die von Ihnen – im Grundsatz durchaus verständlich – kritisierte Vermischung verschiedener Grundgedanken, ist wohl kaum zu vermeiden. Aber schon die Diskussion darüber scheint mir hilfreich.
Ein kleiner Hinweis am Rande:
Bei der Berechnung von Renten der gesetzlichen Rentenversicherung spielt die Höhe der gezahlten Beiträge keine Rolle. Es gibt keine Beitragsäquivalenz! Maßgeblich ist die Höhe der je Kalenderjahr verbeitragten Einkommen. Nur diesbezüglich besteht grundsätzlich Äquivalenz.
Ich finde es völlig verständlich, wenn diese Unterscheidung von der Presse nicht gemacht wird. Das aber Papier oder hier so unsauber argumentiert wird, was die Regelungen des Rentenversicherungsrechts angeht, finde ich schon bemerkenswert.
“””Nach meiner Überzeugung lassen sich die komplexen Strukturen der Sozialversicherung wesentlich besser erfassen und erklären, wenn man umgekehrt zunächst vom Prinzip sozialer Gleichheit ausgeht, das durch Sozialversicherung hergestellt werden soll.”””
Es ist schon mehr als bemerkenswert, wenn von so einem Ausgangspunkt für eine Ausweitung der Ausgabenseite der GRV argumentiert wird, ohne über die Einnahmenseite und insbesondere über den Kreis der Beitragszahler nachzudenken.
Das Äquivalenzprinzip ist letztendlich auch ein Schutz der Beitragszahler vor einer Abwälzung von “Solidaransprüchen”, die eigentlich genauso andere treffen könnten, die ähnlich oder mehr leistungsfähig sind und die sich außerhalb der Ansprüche und Leistungen der GRV bewegen können.
Auch Beamte, Freiberufler, Selbstständige und Unternehmer profitieren vom Beitrag unterbezahlter Arbeitnehmer zum Bruttosozialprodukt, teilweise noch nicht mal so wenig. Und auch Arbeitnehmer zahlen Steuern (es ist tatsächlich so!), sogar in identischen Tarifen.
Sobald Gleichheit auf der Einnahmen- und Beitragsseite hergestellt ist, macht es plötzlich auch Sinn darüber nachzudenken eine gewisse Degression hinsichtlich der Entgeltpunkte bzw. Progression bzgl. der Beitragssätze einzuführen. Und dann macht es auch plötzlich Sinn über Bemessungsgrenzen nachzudenken. Das könnte man dann u.U. Solidarität nennen.
Der Umstand, dass unsolidarische Verschlimmbesserungen an der GRV Tradition haben, ist ein “interessantes” Argument, ex inuria ..
Falls Ihre Überlegungen als Kritik an meinem Ausgangspunkt gemeint war – so habe ich es gelesen, weil Sie zunächst mich zitieren – bin ich etwas überrascht:
– Ich weiß nicht recht, welche Reformüberlegung Sie vor Augen haben, wenn Sie von “Solidaransprüchen” sprechen, “die eigentlich genauso andere treffen könnten”. Ich bin von den aktuellen Vorschlägen zur Grundrente ausgegangen, die ich im Detail nicht kenne, zu denen aber wohl 35 Beitragsjahre in der GRV zählen. Man muss dies nicht für eine gute Abgrenzung halten, andere meinen, Grundrente solle es auch mit weniger Beitragsjahren geben, ggf. anteilig. Aber wenn man diese Anspruchsvoraussetzung unterstellt, dann scheint mir doch die Idee nicht abwegig, dass es sich um eine Solidargemeinschaft der Rentenversicherten handelt. Dies wird etwa bei den Erwerbsminderungsrenten, Hinterbliebenenrenten und weiteren Umverteilungselementen ja genauso gesehen. Wieviel und welche Umverteilung man will, ist eine politische Entscheidung – genau dies wollte ich deutlich machen: sie folgt eben nicht aus der Verfassung oder der Natur der Rentenversicherung.
– Über die Einnahmenseite und den Kreis der Beitragszahler sollte man in der Tat nachdenken. Für die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung oder nur aller Erwerbstätigen sehe ich übrigens schlagkräftigere Argumente als den Beitrag zum BSP. Was die Beitragsbemessung angeht, liegt die Ironie genau darin, dass Äquivalenz von Beitrag und Leistung die gegenwärtigen Regelungen begründet. Progression und Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze muss man daher nicht mit, sondern gegen das Äquivalenzkonzept begründen – nach meinem Verständnis eben mit der Herstellung sozialer Gleichheit. All das macht größere Fässer auf und es freut mich, wenn meine Kritik an Papier (nur das, nicht mehr war der Gegenstand dieses Beitrags) zu diesen Fragen anregt.
Es gibt aber eben verschiedene Alterssicherungen: GRV, berufsständische Versorgungswerke, Beamtenversorgung oder die private Altersvorsorge durch Vermögensaufbau. Nur eine dieser Alterssicherungen soll als Vehikel für eine Solidargemeinschaft und soziale Gerechtigkeit genutzt werden. Ist die „soziale Gerechtigkeit“ nur ein Problem der in der GRV Versicherten oder auch ein gesamtgesellschaftliches Problem? Wenn gesamtgesellschaftliche Probleme über die GRV abgewickelt werden, kann das gerne geschehen, aber dann muss ein entsprechender Bundeszuschuss diese Problembewältigung ausgleichen. Und für diesen Bundeszuschuss kommt die Allgemeinheit im Rahmen der Steuerzahlungen auf (auch durch die Steuerzahlungen, der in der GRV Versicherten). Ansonsten gäbe es zwei Systeme, die der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet wären: der allgemeine Staatshaushalt (außerhalb der Alterssicherung) und die GRV. Ein Teil der Bevölkerung wäre nur einmal der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet, der andere Teil der Bevölkerung zweimal. Und im Übrigen sollte nicht vergessen werden, dass die GRV ihren Ursprung der Bekämpfung der Sozialdemokratie verdankt. Solchen Gäulen sollte man ganz genau ins Maul schauen.
Nun ist der aktuelle Vorschlag der, dass bei 35 Beitragsjahren diese Grund-/Respektrente gezahlt werden soll. Wenn man das zugrunde legt, geht es eben um diejenigen, die in diesem System (und nicht in einem anderen) ihre Altersvorsorge betrieben haben. Abgrenzungsfragen bleiben, aber genau diese Zuordnung zur GRV soll ja mit den 35 Beitragsjahren geschaffen werden (und man kann überlegen, ob es besser geht als “nur” mit 35 Beitragsjahren). Daraus ergeben sich meine Folgerungen. Ein allgemeines, für die ganze Bevölkerung verfügbares Instrument gegen (Alters-)Armut ist dieser Vorschlag gerade nicht. Mit der Grundsicherung im Alter haben wir ja so ein Instrument – und könnten daran etwas ändern, wenn das politisch gewollt ist. Die Grundrentenidee ist aber eben als Instrument der GRV gedacht – jedenfalls habe ich sie so verstanden und Papier, mit dem ich mich auseinandersetze ja auch.
Viele Dank für die Klarstellungen. Ich denke die meisten politischen Implikationen, die Sie in ihren Kommentaren anmerken, kann ich auch unterschreiben. Außerdem schließe ich mich weitestgehend dem User “Weichtier” an.
Besonders wertvoll ist in der Nachbetrachtung vorallem der Hinweis auf das Urteil BVerfGE 113, 167 zum Risikostrukturausgleich in der GKV und dessen Lektüre. In der Liste der BVerfG-Urteile, die zeigen “welcher politische Unsinn in Deutschland verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist” dürfte dieses Urteil einen der vorderen Spitzenplätze einnehmen.