28 June 2012

Informelle Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten: ein Gebot des Grundgesetzes

Wenn künftig die EU-Kommission über die haushaltspolitische Vernunft der Mitgliedsstaaten wachen soll, dann kann sie nicht das gleiche alte Berlaymonster bleiben, das wir bisher kennen. Ein solcher Eingriff in die Budgethoheit der nationalen Parlamente bedarf einer robusten demokratischen Legitimation.

Das steckt hinter der zurzeit viel diskutierten Idee, dass künftig der Kommissionspräsident direkt gewählt werden soll. Mattias Kumm hat hier im Blog kürzlich einen Vorschlag gemacht, wie das ohne große Vertragsänderung gehen könnte: Bei der nächsten Wahl zum Europäischen Parlament schicken die Parteien EU-weit Spitzenkandidaten ins Rennen, und wer gewinnt, den schlägt der Europäische Rat als Kommissionspräsident vor.

Christian Joerges und Florian Rödl haben diesen Vorschlag heftig kritisiert.

Gestern hat Mattias Kumm in einem Vortrag am Walter-Hallstein-Institut den Vorschlag weiter ausgeführt und ihm noch eine neue, ziemlich originelle Wendung gegeben: Seiner Meinung nach ist diese unkomplizierte Art, zu einer direkten demokratischen Legitimation des Kommissionspräsidenten zu kommen, für die deutsche Regierung nicht nur ein Gebot der Klugheit. Sondern eins des Grundgesetzes.

Anknüpfungspunkt ist Art. 23 I GG: Dort wird die Bundesrepublik darauf verpflichtet, bei der Entwicklung der Europäischen Union darauf zu achten, dass diese “demokratischen Grundsätzen verpflichtet” ist.

Wenn nun, wonach es ja aussieht, bei der nächsten Wahl zum Europaparlament alle Parteien mit einem gesamteuropäischen Spitzenkandidaten ins Rennen gehen – folgt dann aus dieser Verpflichtung nicht, dass die Bundesrepublik im Rat darauf hinwirken müsste, dass nach der Wahl der Sieger als Kommissionspräsident vorgeschlagen und vom Parlament gewählt wird?

Für Kumm würde dies nicht nur den Charakter der Europawahl, sondern auch die Verfassung der EU generell ganz fundamental verändern. Plötzlich ginge es um was bei dieser Wahl! Die Spitzenkandidaten würden durch Europa ziehen und Wahlkampf machen. Die Wähler könnten tatsächlich entscheiden, ob sie den Austerity-Kandidaten oder den Wachstums-Kandidaten wollen.

Das Verhältnis von Parlament und Rat würde sich umdrehen: Bisher hat das Parlament zu wählen, wen der Rat, also die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, vorschlägt. Heraus kommt eine Gestalt wie Barroso. Künftig müsste der Rat vorschlagen, wer im Parlament eine Mehrheit hat.

Der Kommissionspräsident wäre nicht mehr eine Kreatur der nationalen Regierungschefs, sondern ein echter Präsident Europas. Und weil auch die anderen Kommissare nicht ohne Einverständnis des Kommissionspräsidenten bestimmt werden können, hätte er da ein deutliches Wort mitzureden: Er könnte im Wahlkampf eine Mannschaft von Vertretern aller EU-Länder um sich scharen und nachher darauf bestehen, dass die zu Kommissaren ernannt werden.

Diese Chance, die EU demokratischer zu machen, darf die Bundesregierung nicht ausschlagen, wenn sie ernst nimmt, was Art. 23 I ihr befiehlt.

Kumm ging sogar so weit, zu sagen, dass eigentlich das Bundesverfassungsgericht im anstehenden ESM/Fiskalpakt-Verfahren der Regierung aufgeben müsste, im Rat darauf hinzuwirken, dass der nächste Kommissionspräsident auf diesem Wege besetzt wird. Wenn es sich schon zum Wächter der Demokratie in Europa aufschwingt, dann wäre dies ein besserer Dienst an dieser edlen Sache als das Bestehen auf Integrationsgrenzen und Ewigkeitsklauseln. Dass Karlsruhe das tatsächlich tun wird, hält allerdings auch Kumm für mehr als unwahrscheinlich.

In der Diskussion stand im Mittelpunkt, ob es tatsächlich eine realistische Vorstellung ist, dass die Spitzenkandidaten auf dem “Marktplatz in Tübingen” (wieso der gerade? Keine Ahnung, der kam immer wieder vor) die Wahlbürger in Wallung zu bringen vermöchten. Ob nicht Europa doch zu fern ist? Ob tatsächlich genügend Wähler mit der Position des Kommissionspräsidenten genügend verbinden, damit die bisherige Dynamik von Europawahlen – Programm und Kandidaten sind wurscht, es geht darum, der Bundesregierung die Meinung zu geigen – gebrochen werden kann? Braucht es nicht, bevor man so etwas probiert, eine europäische Öffentlichkeit? Wird das ganze nicht schon am Fehlen einer gemeinsamen Sprache scheitern?

Kumm (in Vorträgen hat er, der seit Jahren in New York lehrt, regelrecht einen amerikanischen Akzent) sieht das völlig locker. Das Bestehen darauf, eine gemeinsame Öffentlichkeit, Sprache, Nation sei Grundvoraussetzung jeder Verfassungsgebung, sei ein typisch deutsches Narrativ und schon durch die beiden Klassiker Frankreich 1791 und USA 1787 widerlegt. Wenn tatsächlich die Wahl entscheidend sei, wer Kommissionspräsident wird, dann werde das schon für die nötige Öffentlichkeit sorgen. In der Tat fehlt es ja nicht an polarisierenden Wahlkampfthemen im Augenblick. Dann reiche es nicht mehr, für oder gegen Europa zu sein. Dann werde den Unionsbürgern eine Positionierung abverlangt, welches Europa sie wollen.

Foto: Radio Nederland Wereldomroep, Flickr Creative Commons


2 Comments

  1. […] dafür aber mit höherer Umsetzungswahrscheinlichkeit behafteten Lösungen zufrieden. Mattias Kumm und Guy Carcassonne haben auf diesem Blog dazu Vorschläge gemacht, die darauf hinauslaufen, die […]

  2. […] dafür aber mit höherer Umsetzungswahrscheinlichkeit behafteten Lösungen zufrieden. Mattias Kumm und Guy Carcassonne haben auf diesem Blog dazu Vorschläge gemacht, die darauf hinauslaufen, die […]

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