06 September 2017

Demokratie als verfassungs­feindlicher Topos

Demokratie wird im Diskurs der Gegenwart von populistisch-autoritären Nationalisten gegen die Errungenschaften des offenen freiheitlich demokratischen Verfassungsstaats in Stellung gebracht. Wenn populistisch-autoritäre Nationalisten die Verletzung von Menschenrechten kritischer Journalisten, von Minderheiten oder Flüchtlingen rechtfertigen, wenn sie im Kampf gegen eine unabhängige Justiz die Gewaltenteilung aufheben wollen oder wenn sie international vernetzte Bürgerbewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen als volksfremd und vom Ausland gesteuert darstellen und die Europäische Union oder andere internationale Institutionen grundlegend diskreditieren wollen, dann berufen Sie sich auf Demokratie. Ob Erdoğan, Kaczyński, Orbán oder Trump, alle populistisch autoritäre Nationalisten nehmen für sich in Anspruch, gute Demokraten zu sein, und diskreditieren ihre Gegner als undemokratisch. In gegenwärtigen Debatten ist Demokratie zu einem reaktionären Topos geworden, der helfen soll, den Weg vom liberal-demokratischen Verfassungsstaat zu einer neuen Ordnung zu ebnen. Diese neue Ordnung, die von ihren Befürwortern als  „illiberal“, „angeleitete“ oder „souveräne“ Demokratie bezeichnet werden, wird als Gegenmodell zum offenen freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaats begriffen.

Es wäre zu kurz gegriffen darauf hinzuweisen, dass diese politisch Gruppierungen den Demokratiebegriff für ihre Zwecke missbrauchten. Behauptungen, das Demokratie und die Institutionen des modernen Verfassungsstaates sich nicht bedingen, sondern in einem Spannungsverhältnis stehen und auf verschiedenen Grundannahmen beruhen, ist eine demokratietheoretische Behauptung, die von Carl Schmitt’s Rousseau-inspirierter Demokratieinterpretation bis in die Gegenwart immer wieder erhoben werden. Im Zentrum steht dabei die pluralismusfeindliche Idee eines einheitlichen Volkswillens, der alleinige Grundlage politischer Legitimität sein soll. Die Idee eines einheitlichen Volkswillens als Grundlage politischer Legitimität erklärt vier problematische anti-konstitutionelle Merkmale national-autoritärer Ideologien.

Erstens haben Populisten Probleme mit der Idee einer legitimen Opposition. Sie sind, wie Jan Werner Müller es ausführlich beschrieben hat, anti-pluralistisch. Populisten erheben den Anspruch die Gesamtheit des authentischen Volkes zu repräsentieren. Wer gegen sie ist, muss entweder korrupt, inkompetent oder Verräter  – im Dienst kosmopolitischer Interessen oder anderer fremder Mächte – sein, oder er gehört nicht zum authentischen Volk. Dagegen gehört die Idee der legitimen Opposition zum Kernarsenal demokratisch konstitutionellen Denkens. Keine Demokratie ohne legitime Opposition. Freie und Gleiche, die individuelle und kollektive Selbstbestimmung betreiben wollen, sollten sich auf einige grundlegende Verfassungsprinzipien einigen können. Darüber hinaus wird es der im demokratischen Prozess unterliegenden Minderheit nicht zugemutet, ihre eigenen Überzeugungen aufzugeben und die Mehrheitsentscheidung als richtig anzuerkennen. Parteien- und Meinungspluralismus ist demokratische Normalität und kein Krisen- oder Zersetzungssymptom. Die Minderheit ist verpflichtet, die verfassungsgemäßen Mehrheitsentscheidungen als rechtsverbindlich anzuerkennen, hat aber das Recht, den Kampf um eine andere Politik, auch und gerade die Absetzung der Regierung, im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ordnung fortzusetzen, ohne Diskriminierung oder Sanktionen befürchten zu müssen.

Zweitens haben Populisten Probleme mit der Idee der Legitimation durch rechtliche Verfahren. Gewaltenteilung, Formalitäten und Prozeduren des rechtsförmigen Verfassungsstaats sind ihnen nicht Voraussetzung demokratisch-deliberativer Willensbildung und Willenskonstruktion, sondern Einfallstor für die Sabotage des authentischen demokratischen Willens durch gut organisierte partikulare Interessen und Eliten. In der politischen Imagination der Populisten steht nichts zwischen dem Volk und seinem Repräsentanten, zum Teil wird sogar eine Identität von Volk und Führung behauptet. Anlässlich seiner Inauguration behauptete z.B. Donald Trump, dass mit seiner Wahl nunmehr in Washington nicht nur eine andere Partei regiere, sondern das Volk. Die Förmlichkeiten demokratischer Verfahren, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Presse oder von Gerichten werden als potentielles Hindernis zur Durchsetzung des authentischen Volkswillens betrachtet, wenn sich diese Institutionen nicht gleichschalten lassen. Das Verhältnis von Populisten zu Institutionen generell ist ein rein opportunistisches: Was immer hilft, die Durchsetzung des richtigen Volkswillens zu gewährleisten, ist legitim, was immer ihm im Wege steht ist illegitim. Dabei können allerdings Referenden, wenn sie unter Bedingungen einer die Öffentlichkeit und den Sicherheitsapparat weitgehend dominierenden Partei erfolgen, besonders zuverlässig sein. Das Gleiche gilt für Wahlen. Aber auch informelle Akklamation wäre ein Legitimationsbeweis. Es verwundert nicht, dass Trump (fälschlicherweise) darauf insistiert, dass bei seiner Inauguration mehr Leute waren als je zuvor bei einer Inauguration. Grundsätzlich aber erfolgt Legitimation nicht durch Verfahren, sondern die Legitimität des Verfahrens bemisst sich danach, ob es hilft, den authentischen Volkswillen, so wie er von dem legitimen Repräsentanten des Volkes behauptet wird, anzuerkennen und durchzusetzen.

Drittens ist für Populisten jede Form der Beteiligung und des Einflusses von Bürgern anderer Länder oder internationaler Institutionen ein Problem. Wenn die Grundlage politischer Legitimität der Volkswille ist, dann ist der Schritt naheliegend, den Einfluss supranationaler oder internationalen Institutionen, die Normen internationalen Rechts oder die Stimmen einer in der nationalen Öffentlichkeit auch präsenten internationalen Zivilgesellschaft als ungerechtfertigte Einmischung äußerer Einflüsse zu diskreditieren. Dagegen ist genau das Gegenteil der Fall: Eine adäquat strukturierte prozedurale und materielle Berücksichtigung externer Interessen und Rechte ist Voraussetzung für die Legitimität nationaler Entscheidungsprozesse, deren Ergebnisse häufig diese externen Interessen und Rechte berühren. Der offene Verfassungsstaat – eingebettet in eine internationale Rechtsgemeinschaft mit einer politischen Öffentlichkeit, die externe Stimmen mit aufnimmt und reflektieren kann – steht nicht in einem Spannungsverhältnis zur genuinen Demokratie, sondern etabliert die Strukturen, deren der nationale demokratische Prozess bedarf, um als legitim gelten zu können.

Es bleibt ein letzter Punkt: Wenn der nationale Volkswille in letzter Konsequenz einheitlich zu sein hat, und bleibender Dissens letztlich problematisch ist, dann richtet sich das Augenmerk auf die relative Homogenität des Volkes als notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit der Herstellung eines solchen Willens. Das Volk ist dann nicht, wie Kant es formuliert, eine Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. Nicht die Tatsache, dauerhaft unter der territorialen Jurisdiktion einer bestimmten öffentlichen Gewalt als Freie und Gleiche zu leben, ist dann die Leitidee, die der Staatsbürgerschaft zugrunde liegt, sondern das Vorhandensein wie auch immer zu konkretisierender homogenitätsstiftender Merkmale. Die vielen Minderheiten, ob bestimmt nach religiösen, ethnischen, rassischen oder sonstigen kulturellen Normen, werden dann schnell als nicht zum authentischen Volk gehörend ausgegrenzt. Dabei ist die einzige Voraussetzung für die Stabilität einer freiheitlich-demokratischen Verfassung eine kritische Masse an Bürgern, die ihre Mitbürger als Freie und Gleiche anerkennen und gewillt sind, den freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat als rechtlichen Rahmen für Praktiken kollektiver Selbstbestimmung zu verteidigen. Mehr als die Integration von Minderheiten, denen dieses Verständnis in der Tat zum Teil fremd sein mag, wird dadurch die Integration der national-autoritären Populisten, denen ein solches Verständnis ebenfalls fremd ist, zu einem Verfassungsproblem. Wegen ihrer kulturellen Verankerung in einer Mehrheitskultur sind national-autoritäre Populisten für den freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat die größere Gefahr. Das sollte nicht durch die Tatsache verschleiert werden, dass sie sich auf Demokratie berufen.


6 Comments

  1. Uwe Thu 7 Sep 2017 at 04:06 - Reply

    Interessanter Beitrag, nur bei Punkt 4 halte ich es eher mit der Äquidistanz zu unseren Verfassungsfeinden – ungeachtet deren Herkunft.

  2. Heinrich Niklaus Fri 8 Sep 2017 at 19:58 - Reply

    Aus der Sackgasse linken Denkens( Sozialismus/Kommunismus) mutiert der Antifaschismus zur „Weltanschauung des unbedingten Moralismus“.

    Zitat:“Nicht die Tatsache, dauerhaft unter der territorialen Jurisdiktion einer bestimmten öffentlichen Gewalt als Freie und Gleiche zu leben, ist dann die Leitidee, die der Staatsbürgerschaft zugrunde liegt, sondern das Vorhandensein wie auch immer zu konkretisierender homogenitätsstiftender Merkmale.”

    Da werden dann „national-autoritäre Populisten“, selbst wenn sie sich zu Demokratie bekennen, zu Demokratie-Gefährdern. Das ist nachvolziehbar.

  3. Joseph Kuhn Sat 9 Sep 2017 at 00:30 - Reply

    Ist das nicht im Grunde die Diagnose “Softfaschismus”? Und was ging in der Gesellschaft (besser: den Gesellschaften so vieler Länder) verloren, wenn solche Methoden heute derart viel Zustimmung in der Bevölkerung finden?

  4. Alexander Somek Sat 9 Sep 2017 at 18:25 - Reply

    Mattias at his best! Very well done!

  5. VJS Sun 10 Sep 2017 at 17:31 - Reply

    Sehr schöner, verständlich verfasster Beitrag.

  6. Som Jo Tien Fri 15 Sep 2017 at 11:11 - Reply

    Beim Punkt Minderheit/Mehrheit hat mir der Bezug zur “effektiven Opposition” gefehlt. Ohne diesen Ansatz des Bundesverfassungsgerichts von 2016 bleibt diese Formulierung zu einseitig: “Die Minderheit ist verpflichtet, die verfassungsgemäßen Mehrheitsentscheidungen als rechtsverbindlich anzuerkennen, hat aber das Recht, den Kampf um eine andere Politik, auch und gerade die Absetzung der Regierung, im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ordnung fortzusetzen, ohne Diskriminierung oder Sanktionen befürchten zu müssen.”

    Dieser Kontrapunkt ist zu wenig mitgedacht: Die Mehrheit hat die Pflicht die Minderheit als Opposition anzuerkennen, und die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, dass sie auch tatsächlich oppositionell arbeiten kann.

    Auf der Ebene wo kommunale Entscheidungen die Bürger vor Ort hautnah treffen, bedeutet dies eine adäquate Ausstattung von Minderheitenrechten in den Rathäusern. Diese fehlt leider oft. Die Folge: Fehlende demokratische Strukturen in den Kommunen (Art. 28 GG) – die Mehrheit akzeptiert und schafft nicht die nötigen Rahmenbedingungen effektiver Opposition im Rathaus?!

    Praktische Politik in den Rats- und Kreishäusern sieht doch anders aus, als dies die Retuschen aus den Universitäten nachzeichnen.

    Fazit: Demokratie sollte ihre Strukturen auch in den Ländern, in den Gemeinden und Kreisen vorfinden.

    Bezug: https://staging.verfassungsblog.de/der-grundsatz-ineffektiver-opposition-zum-urteil-des-bundesverfassungsgerichts-in-sachen-oppositionsfraktionsrechte/

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