03 December 2020

Demokratisierung durch „Cancel Culture“

Zum Verhältnis von Kunstfreiheit und Emanzipation

Vor wenigen Tagen hat das Hamburger Kabarett-Theater Schmidts Tivoli die Zusammenarbeit mit dem Komiker Kay Ray beendet, offenbar weil rassistische Witze in der Show einen zentralen Platz einnehmen. Kurz nach der Cancel-Affäre zwischen Lisa Eckhart und dem Hamburger Nochtspeicher sieht sich nun auch Ray als Opfer von „Cancel Culture“, die die Kunstfreiheit immer weiter einschränke. Um die Kunst und Kunstfreiheit geht es dabei aber eigentlich gar nicht. Sie ist nur der Austragungsort gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen um Sexismus, Rassismus und Transphobie. Dabei sind Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit zentrale Argumente – oder besser: Waffen – des konservativen politischen Projekts geworden, mit dem emanzipative Änderungen abgewehrt werden (s. auch Schubert, in: Leviathan, 48 (1), S. 29–51). Dieser machtpolitische Missbrauch muss klar von der grundrechtlichen Dimension unterschieden werden. Dafür ist zwischen drei Ebenen Kunstfreiheit zu differenzieren: im nichtstaatlichen, parastaatlichen und staatlichen Bereich. Die Neuregelungen von Diskurs, Kultur und Kunst durch „Politische Korrektheit“, „Cancel Culture“ oder „Identitätspolitik“ bedeuten nicht den Zerfall der Demokratie, sondern sind ein Schritt in Richtung ihrer vollständigeren Realisierung.

Nicht-staatliche Ebene: der allgemeine Kulturbetrieb

In den meisten Fällen, in denen die Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit von konservativer Seite kritisiert wird, gibt es sie gar nicht. Die Kunst- und Meinungsfreiheit sind in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat. Der Staat tritt aber als Akteur bei den meisten aktuellen Auseinandersetzungen um Kunstfreiheit gar nicht auf. Das Übermalen sexistischer Hochschulfassadengedichte, Rassismuskritik am Altherrenkabarett, oder Boykott transfeindlicher Autor_innen – in all diesen Fällen gibt es keine staatliche Intervention und Kontrolle.

Was es allerdings gibt, ist Regulierung und Normierung, und damit: Macht. Die genannten Phänomene sind Teil von emanzipativen Neuregelungen der herrschenden Normen mit dem Ziel einer weniger sexistischen, rassistischen und heteronormativen Gesellschaft. Der Fehler des Arguments für Kunstfreiheit ist die implizite Forderung, dass Macht in der Kunst keine Rolle spielen sollte. Dabei wird ausgeblendet, dass die Kunst immer schon von Macht durchzogen ist, weil in ihr gesellschaftliche Normen reproduziert und verhandelt werden. Wenn nun emanzipative Bewegungen versuchen, die Normen der Kunst politisch zu ändern, dann verändert sich damit nicht die Regelungsintensität und Machtdurchzogenheit der Kunst. Es gibt nur, Erfolg vorausgesetzt, eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Schädliche Normen werden kritisiert und durch emanzipative ersetzt – und dabei gibt es heute schon erhebliche Fortschritte, trotz der anhaltenden gesellschaftlichen Hegemonien. Nur aus Sicht derjenigen, die von konservativen Normen profitierten, konnte es so erscheinen, als sei die Kunst frei in dem Sinne, dass sie nicht durch gesellschaftliche Macht geprägt ist – sie leiden an einem epistemischen Defizit: Machtblindheit wegen ihrer sozialen Position. Früher eckte man mit sexistischen Gedichten nicht an – das ist Freiheit, aber eben nur aus dieser Perspektive. Vom Kunstbetrieb und seiner Öffentlichkeit „gecancelt“ waren viele Menschen, die nicht von alten Privilegienstrukturen profitierten, von vornherein. Was Cancel Culture genannt wird ist deshalb tatsächlich Teil des gesellschaftlichen Fortschritts. Denn der Abbau von Privilegien ist ein zentrales Mittel in der Weiterentwicklung der demokratischen Normen.

Politische Korrektheit“ und “Cancel Culture” sind also Ausdruck des konservativen Beklagens eines gesellschaftlichen Machtverlustes. Nun kann es so aussehen, als laufe diese Interpretation auf die Affirmation reiner Machtpolitik ohne universalistische Geltungsgründe hinaus. Um diesen Einwand zu entkräften, ist es nötig, genauer zu erläutern, was es heißt, dass die emanzipativen Normänderungen auf die Erweiterung des demokratischen Projekts abzielen. Hierbei helfen radikaldemokratische Theorien, die zeigen, dass demokratische Deliberation nicht gleichberechtigt abläuft, sondern von Hegemonien durchzogen, die viele Menschen ausschließen. Das demokratische Projekt ist unvollendet und für seine stückweise Weiterentwicklung und Verbesserung auf die Neuverhandlung und Kritik seiner aktuellen Ausschlüsse angewiesen. Dafür ist Kritik nötig, beispielsweise an Sexismus, Rassismus und Transphobie. „Politische Korrektheit“, „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“, also die konservativen Ausdrücke für diese radikale Kritik, sind deshalb nicht die Einschränkung der demokratischen Pluralität und Inklusivität, sondern ihre weitere Verwirklichung. Nur über die partikular formulierten Kritiken am Universalismus kann dieser stückweise realisiert werden.

Parastaatliche Ebene: öffentlich-rechtlicher Rundfunk & staatliche Kulturförderung

Die Kunstfreiheit wird auch in Bezug auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die staatliche Kulturförderung diskutiert und hier liegt die Sache komplizierter. Der zentrale Unterschied zum nichtstaatlichen Bereich ist, dass es in den öffentlich-rechtlichen Medien und der staatlichen Kulturförderung ein Neutralitäts- und Pluralismusgebot gibt. Dieses Gebot ist einerseits demokratietheoretisch sinnvoll, weil so der freie Diskurs und die freie Entfaltung der Kunst gesichert werden kann. Wenn hier systematisch nur bestimmte Positionen Gehör und Unterstützung finden würden, könnte wegen der enormen Wichtigkeit des parastaatlichen Bereichs für Öffentlichkeit und Kultur dann auch materiell von einer Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit gesprochen werden.

Nun hat andererseits die emanzipative Gesellschaftskritik das Ziel, neue allgemeine Normen im Bereich des öffentlichen Rundfunks und der Kunstförderung durchzusetzen. Die zielen zwar darauf ab, das Verständnis der Neutralität und Pluralität so umzugestalten, dass es inklusiver und pluraler wird. Dennoch sieht es auf den ersten Blick so aus, als müsste eine solche Politisierung des parastaatlichen Bereichs mit Verweis auf das Neutralitätsgebot und die Kunstfreiheit abgelehnt werden. Staatlich orchestrierte „Political Correctness“ ist wohl nicht nur für Konservative eine schreckliche Vorstellung, die an Stalinismus erinnert.

Doch für eine solche Politisierung der parastaatlichen Institutionen kann auch demokratietheoretisch argumentiert werden. Weil die aktuelle Realisierung der Demokratie unvollendet und ausschließend ist, gibt es viele Überlegungen dazu, wie die politischen und rechtlichen Institutionen so reformiert werden können, dass sie systematisch Privilegienstrukturen aufbrechen. Der demokratische Fortschritt würde so auch intern, durch die Institutionen, und nicht nur durch äußeren gesellschaftlichen Druck forciert. Solche institutionellen Reformen zielen nicht auf die Festlegung einer politischen Wahrheit, sondern auf die Öffnung des gesellschaftlichen Diskurses. Es geht also nicht um inhaltliche Setzungen, beispielsweise dass alle geförderte Kunst den Rassismus gegenüber Muslimen in der postmigrantischen Gesellschaft thematisieren soll. Sondern es geht um prozeduralistische Vorkehrungen, die inhaltlich offen sind und lokal unterschiedlich umgesetzt werden können. Beispielsweise durch die Einführung eines abstrakten Kriteriums, dass die Kunstförderung zum Abbau von arbiträrer Macht und Privilegien eingesetzt werden soll, oder dass Repräsentant_innen von marginalisierten Gruppen eine Stimme bei Mittelallokation und Programmgestaltungen haben. Während die Kunstfreiheit also ein zentrales Gut der freien Demokratie ist, folgt daraus nicht, dass Neutralität und Pluralität des Staates gegenüber der Kunst formalistisch interpretiert werden sollten, sondern als Auftrag ihrer tatsächlichen, materiellen, Realisierung durch geeignete Verfahren.

Staatliche Ebene: rechtliche und politische Beschränkungen der Kunst- und Meinungsfreiheit

Normverschiebungen auf der nicht-staatlichen Ebene und die Demokratisierung von Neutralitätsvorstellung auf der parastaatlichen Ebene sind also keine Einschränkungen der Kunst- und Meinungsfreiheit, sondern Änderungen des Feldes des Sagbaren, die längerfristig mit darüber entscheiden, welche Positionen und Künste Gehör finden, und welche nicht. Davon sind tatsächliche und unmittelbare Einschränkungen der Kunst- und Meinungsfreiheit durch Recht und Politik zu unterscheiden.

Bei der staatlichen Regulierung von Hassrede sind die Ambivalenzen der politischen Bewertung und die Gefahr, dass emanzipative Regulierungen in eine schädliche Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit umschlagen, besonders groß, weil Regelungen gesellschaftsweit mit staatlicher Macht durchgesetzt werden. Beim Versuch der Politik, gegen Hassrede vorzugehen, kann es so zu einer mittelbaren Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit kommen. So hat der Bundestag beschlossen und die Bundesregierung dazu aufgefordert, die BDS-Bewegung und ihren Unterstützer_innen zu verurteilen und von Kooperationen auszuschließen, weil er sie für antisemitisch hält.((Dass der Bundestag für dieses Vorgehen gegen BDS das Instrument des Beschlusses wählt und kein Gesetz verabschiedet, ist konsequent, denn ein Gesetz in diesem Geiste wäre als Sonderrecht gegen eine bestimmte Meinung verfassungswidrig.)) Unabhängig von einer konkreten Bewertung der BDS-Bewegung lässt sich festhalten, dass diese Frage höchst umstritten ist. Das zeigt die Kontroverse um Felix Klein und Achille Mbembe im Frühjahr 2020. Der Bundestagsbeschluss kann weitreichende Folgen haben, weil BDS in der internationalen Kunst, Wissenschaft und Politik breite Unterstützung findet und einer großen Anzahl von Kooperationspartner_innen und Künstler_innen so ein deutscher Gesinnungstest auferlegt wird. Im Unterschied zur vorgeschlagenen prozeduralen Demokratisierung auf der parastaatlichen Ebene handelt es sich bei diesem Beschluss um eine konkrete inhaltliche Entscheidung, die mit staatlicher Macht in eine laufende politische Debatte eingreift. Das ist zwar auch keine Einschränkung der Meinungs- und Kunstfreiheit im formalistischen juristischen Sinn,((Im formalistischen Sinn hat der EGMR die Meinungsfreiheit von BDS-Aktivist_innen kürzlich gegenüber dem französischen Staat verteidigt, der die Aktivist_innen wegen einer Aktion strafrechtlich verfolgt hatte, vgl. Ambos.)) aber doch im materiellen, weil der Staat so erhebliche Ressourcen zur Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten einseitig verteilt bzw. entzieht.

Machtpolitik und Grundrechte

Emanzipative Gesellschaftskritik stellt keine Gefahr für die Kunst- und Meinungsfreiheit dar. „Politische Korrektheit“, „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“ tragen tatsächlich zur inklusiveren Verwirklichung der Demokratie bei. Doch in der aktuellen Debatte stehen sich die Forderung nach Meinungs- und Kunstfreiheit einerseits und Projekte der emanzipativen Gesellschaftskritik andererseits gegenüber. Weil die Forderung von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit dabei zur zentralen Strategie des konservativen Projekts geworden ist, ist es wichtig, ihren machtpolitischen Ge- bzw. Missbrauch klar von ihrer grundrechtlichen Dimension zu trennen.

Dieser Blogbeitrag basiert auf dem Aufsatz “Umkämpfte Kunstfreiheit – ein Differenzierungsvorschlag”, der in der Zeitschrift für Menschenrechte 2/2020, S. 95–104 erscheint.


2 Comments

  1. Gütter Thu 3 Dec 2020 at 17:48 - Reply

    Ist es zutreffend, dass der Verfasser die Alice-Salomon-Hochschule, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, als Privatrechtssubjekt einordnet? Die Aussage und das gewählte Beispiel lassen es vermuten.

  2. Johannes Sat 12 Dec 2020 at 05:57 - Reply

    Ich sehe in diesem Beitrag keinen Rationalitaetsgewinn. Die hier vorgeschlagene Differenzierung ist absolut unstreitig und findet sich in jedem Lehrwerk zu den Grundrechten. Zudem ist Sie in der Sache teilweise falsch (siehe Alice Salomon Hochschule als vermeintliches Privatrechtssubjekt). Zudem verkennt der Beitrag – vermutlich wegen der fachfremden Perspektive – die eigentliche Bedeutung der Meinungs- und Kumstfreiheit als mittelbare Rechtfertigung in Privatrechtsverhaeltnissen. Etwa in zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Prozessen, bei denen die grundrechtlichen Freiheiten als Legitimation von Pflichtverletzungen oder strafrechtlichen Verstoessen fungieren. Es trifft hier zu, was auch Christoph Möllers des Öfteren betont hat: das Recht, von dem der Autor als Nichtjurist spricht, hat nicht viel mit dem Recht zu tun, welches es in der Praxis vor den Gerichten zu bewahren gilt.

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