Der Rechtsstaat und die deutsche Staatsgrenze
In einer globalisierten Welt geraten nicht nur Menschen in Bewegung. Auch alte Gewissheiten müssen neu durchdacht werden – in der Politik ebenso wie im Recht, das durch Europäisierung und Internationalisierung in einen Zustand zunehmender Unübersichtlichkeit überführt wurde, der den heutigen Studierenden leidlich bekannt ist. Eine Folge dieser beträchtlichen Komplexität ist manch Missverständnis und auch Fehleinschätzung, die über die üblichen Meinungsverschiedenheiten im innerjuristischen Diskurs hinausgehen. Dies gilt gerade auch für das Asylrecht, dessen rechtliche Bearbeitung heute gänzlich anderen Rahmenbedingungen folgt als in den frühen 1990er Jahren.
Dieser geänderte Rechtsrahmen erfasst auch einen Ort, den wir seit unseren Schulzeiten als gleichsam natürliche Ordnungsstruktur kennen: die Staatsgrenzen, die als feine schwarze Linie die farblich klar abgestuften Länder schon in den Schulbüchern trennten und dies auf den Landkarten der Fernsehnachrichten bis heute tun. Diese kulturelle Vorprägung ist ein Grund, warum die Grenzsicherung im politischen Diskurs eine so prominent Rolle spielt. Sie dient gleichsam als Symbol für die Ausrichtung der Flüchtlingspolitik. Insofern geht es bei der politischen Forderung nach mehr Grenzsicherung immer auch eine diskursive Stärkung der Nationalstaatsidee – und umgekehrt.
Diese symbolische Bedeutung der Staatsgrenze verträgt sich nur schwer mit dem Umstand, dass diese heute von einer ganzen Reihe an Detailvorschriften erfasst wird. Grenzkontrollen sind längst keine Arkansphäre einer souveränen Exekutivgewalt mehr. Der Schengener Grenzkodex und die Dublin-III-Verordnung sind so komplex, dass man auch bei der wiederholten Lektüre immer etwas Neues findet. Dies ist mühsam, auf der Suche nach juristischen Antworten aber unumgänglich. Dies gilt auch für die Frage, ob Asylbewerber an der Grenze abgewiesen werden können. Hier ergibt die Erkundung des Rechtsmaterials manche Überraschung, die in der bisherigen Debatte zu kurz kommt.
Die europarechtliche Hegung der Staatsgrenze
In einem Interview mit der “Welt” betonte jüngst auch der Bundesinnenminister die Komplexität der Rechtslage mit Blick auf eventuelle Grenzschließungen. Über deren Zulässigkeit könne man „rechtlich lange diskutieren“, weil das deutsche Recht „in vielerlei Hinsicht vom europäischen überlagert“ werde. „Politisch“, so der Innenminister, hätte man sich „bisher jedenfalls dagegen entschieden.“ Einmal abgesehen davon, wie man die implizite Relativierung der Rechtsbindung durch politische Entscheidungen wertet, bringt der Innenminister das zentrale Problem auf den Punkt: die diffizile Rechtslage.
Am einfachsten ist noch der Hinweis, dass das deutsche Asylgrundrecht und damit auch die deutsche Drittstaatenregelung für den Umgang mit Flüchtlingen im Regelfall nur noch eine Nebenrolle spielt. Der Grund ist einfach: Die allermeisten Asylbewerber erhalten derzeit einen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention, die ebenso wie der sogenannte subsidiäre Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge als Europarecht gilt. Wer Grenzen schließen oder Flüchtlinge abweisen will, muss sich diesen Vorgaben stellen.
Hieraus folgt für die Einreise von Asylbewerbern, dass eine europarechtskonforme Zurückweisung oder Überstellung an andere Mitgliedstaaten den Regelungen der bekannten Dublin-III-Verordnung folgen muss, wie dies Hans-Jürgen Papier im Grundsatz vollkommen richtig schreibt. Auch trifft es zu, dass nach dieser Verordnung vielfach andere Mitgliedstaaten für Asylanträge zuständig sind. Allerdings ist dies nach den Dublin-Regeln zumeist nicht unser Nachbar Österreich, sondern die Länder an den Außengrenzen, also Griechenland, Kroatien oder Ungarn – und diese kooperieren derzeit nicht. Deutschland könnte also überstellen, in der Praxis passiert dies jedoch kaum.
Ein zentraler Unterschied zwischen der deutschen Drittstaatenregelung und dem Dublin-System besteht darin, dass letztere eine koordinierte Zurückweisung anstrebt. Ein Staat soll sich nicht einfach negativ für unzuständig erklären, weil dies die Gefahr birgt, dass andere dasselbe tun – mit der Folge, dass Flüchtlinge im Niemandsland zwischen den Staaten stranden. Eben dies wollte das Dublin-Übereinkommen nach den Erwägungsgründen verhindern. Deutschland kann andere Mitgliedstaaten positiv für zuständig erklären und überstellen. Wenn dies jedoch nicht geschieht, hat es, wie Roman Lehner ausführlicher darlegte, den Asylantrag grundsätzlich selbst zu prüfen. Das Konzept der Dublin-Verordnung in einfach: Deutschland muss überstellen oder selbst prüfen.
Aus diesem Grund macht man es sich zu einfach, wenn man § 18 des Asylgesetzes, wie Udo di Fabio im Gutachten für die bayerische Staatsregierung, kurzerhand unterstellt, dass dieser eine Zurückweisung von Ausländern generell rechtfertige. Nach dem in der Norm ausdrücklich genannten § 26a des Asylgesetzes soll diese Option ja gerade nicht bestehen, wenn Deutschland nach EU-Recht für einen Asylantrag zuständig ist. Eben dies ist jedoch grundsätzlich der Fall, wenn eine Dublin-Überstellung scheitert. Insofern erfordert die bisherige Asylpraxis keinen „Geheimerlass“, aufgrund dessen manche § 18 AsylG ausgehebelt wissen wollen – und selbst wenn man die Vorschrift anders auslegte, wäre, mit Jürgen Bast, der Vorrang des Unionsrechts zu beachten. Eben dies meinte wohl auch der Innenminister, wenn er darlegt, dass vieles durch Europarecht überlagert sei.
Mögliche Rechtfertigung von Ausnahmen
Nun bedeutet die zunehmende Unübersichtlichkeit einer europäisierten Rechtsordnung auch, dass nicht jeder Verweis auf das Europarecht zwangsläufig dazu führt, dass einzelstaatliche Maßnahmen europarechtswidrig wären. Dies übersehen auch Christoph Möllers und Jürgen Bast in ihrer Replik zum Gutachten von Di Fabio. Es gibt eine Reihe von Anknüpfungspunkten, mit denen man eine Zurückweisung zu rechtfertigen versuchen könnte, ohne dass man hierzu den supranationalen Anwendungsvorrang des Unionsrechts punktuell oder insgesamt aus den Angeln heben müsste. All dies gilt für die Grenze zu Österreich ebenso wie für Zurückweisungen, die eine „Koalition der Willigen“ schon bald an der slowenisch-kroatischen Grenze beginnen könnte.
Unproblematisch ist noch die Situation, wenn jemand an der Grenze keinen Asylantrag stellt, sondern erklärt, dies in Schweden tun zu wollen. Mangels Asylantrag gilt hier die Dublin-Verordnung nicht, sodass die Bundespolizei nach dem Grenzkodex zurückweisen kann – wie dies aktuell auch vermehrt passiert. Mit etwas juristischer Spitzfindigkeit könnte man zudem zu argumentierten versuchen, dass an den Binnengrenzen überhaupt keine Asylanträge gestellt werden können. Eine „Grenze“ im Sinn des Artikels 3 der Asyl-Verfahrens-Richtlinie wären hiernach nur die EU-Außengrenzen, weil nach der ersten Einreise ein Asylantrag immer auch im Aufenthaltsstaat möglich ist.
Vor allem jedoch heißt es in Artikel 72 des EU-Arbeitsweisevertrags, dass die gesamte Justiz- und Innenpolitik „nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ berührt. Gewiss kann man über die richtige Auslegung dieser Norm trefflich streiten, und ich selbst vertrete die Auffassung, dass diese für andere Situationen gemacht ist. Eindeutig ist dies jedoch nicht. Es gibt durchaus Argumente, dass Artikel 72 AEUV jedenfalls punktuelle Abweichungen vom EU-Sekundärrecht erlaubt, freilich nur für bestimmte Situationen und nach Maßgabe einer Verhältnismäßigkeitskontrolle.
Darüber hinaus erlaubt Artikel 3 Absatz 3 der Dublin-III-Verordnung ausdrücklich, einen Antragsteller „in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen.“ Zwar dürfte es hierbei um eine direkte Rückführung in Länder gehen, die nicht der EU angehören (also etwa von Ungarn nach Serbien). Zudem wären Verfahrensgarantien einzuhalten, die eine sofortige Rückweisung komplizieren. Die Bestimmung passt also nicht direkt, man könnte jedoch erwägen, ob Deutschland sich wegen der derzeit rechtmäßigen Binnengrenzkontrollen sowie des systemischen Versagens des Dublin-Systems in anderen Ländern in einer Außengrenzsituation befindet. Zudem hat Deutschland immer die Möglichkeit, das Asylverfahren nach der Dublin-Verordnung an sich zu ziehen und die Antragsteller sodann nach einer gegebenenfalls kurzen Prüfung zurückzuschicken.
Noch einen Schritt weiter gehen Überlegungen, die eine Lösung jenseits des supranationalen EU-Rechtsrahmens verorten. So argumentiert Kay Hailbronner unter Verweis auf die völkerrechtliche Reziprozität, dass das Dublin-Regime jedenfalls vorübergehend unbeachtlich sei. Dies gefällt nicht jedem (auch mir nicht, ebenso wie Bast und Möllers), ist bei einer rein völkerrechtlichen Betrachtung freilich in sich konsistent. Gleiches gilt selbstredend für diejenigen, die eine Unbeachtlichkeit von Dublin nicht völkerrechtlich, sondern verfassungsrechtlich mit Blick auf die Staatssouveränität zu begründen suchen. In beiden Fällen wird Dublin von außen für unanwendbar erklärt.
Es ist offenbar, dass alle aufgeführten Varianten mit erheblichen rechtsdogmatischen Unsicherheiten verbunden sind und teils spitzfindig argumentieren. Eben diesem Unterfangen sollten sich jedoch gerade diejenigen stellen, die sich dagegen wehren, dass man § 18 des deutschen Asylgesetzes ohne weitere Umschweife entnimmt, dass dieser eine Zurückweisung rechtfertige. In einem Punkt hatte der Innenminister zweifellos recht: Über die europarechtliche Überlagerung lässt sich trefflich streiten.
Migrationspolitik und rechtliche Bindung
Die aufgeführten Argumente für eine rechtmäßige Grenzschließung sind dogmatisch alles andere als wasserdicht, würden der Bundesregierung aber genügend juristische Munition geben, um zumindest den Vorwurf des offensichtlichen Rechtsbruchs abzuwehren. Für politische Zwecke reichte dies wohl aus, weil eine Grenzschließung kurzfristig wohl vor allem erfolgte, um politischen Druck auf die EU-Partner auszuüben und gegenüber der eigenen Bevölkerung als handlungsfähig zu erscheinen.
Angesichts der teils offenen Missachtung des europäischen Asylrechts in vielen Ländern, ist es nachvollziehbar, dass rechtliche Argumente es derzeit schwer haben. Dies gilt umso mehr, als auch die Nichtregierungsorganisationen das Dublin-System über Jahre hinweg diskursiv zu entlegitimieren versuchten, teils unter Berufung auf die Menschenrechte, teils als offene Forderung nach einer politisch motivierten Aussetzung. Dies erklärt, warum derzeit nicht jeder überzeugt ist, wenn man auf Wortlaut und Geist der Dublin-Verordnung verweist. Wer die Rechtsbindung an der Grenze durchsetzen will, muss immer auch darauf hinwirken, dass das Asylsystem insgesamt funktionsfähig bleibt.
Dass wir über Sinn und Zweck der Rechtsbindung an der Staatsgrenze diskutieren, ist für sich genommen ein Krisensymptom. Es geht dabei nicht nur um die Flüchtlingspolitik, sondern um die Zukunft einer entterritorialisierten Rechtsordnung insgesamt. Hierbei ginge es nicht nur um die technischen Finessen des Dublin-System. Vor allem wenn Flüchtlinge im Hinterland aufgegriffen und zurückgeschoben würden, würden schnell auch die Grundrechte eingefordert, die das Bundesverfassungsgericht und der EGMR zuletzt mehrfach gegen Dublin-Überstellungen aktivierten. Spätestens dann wäre die Grundsatzfrage gestellt, ob die Grenzen mitten in Europa wieder ein rechtsfreier Raum sind, an dem eine ungebändigte Staatssouveränität wie im Ausnahmezustand agiert.
Insoweit ist es eine gute Neuigkeit, dass das aktuelle Dublin-System schon bald der Vergangenheit angehören könnte. Auf den faktischen Zusammenbruch wird die Kommission in Kürze mit einem grundlegenden Reformvorschlag reagieren, der einen jeden Flüchtling möglichst schnell einem bestimmten Mitgliedstaat positiv zuweisen möchte. Dies könnte, abhängig von der Ausgestaltung im Detail, auch die unbefriedigende Situation beenden, dass die faktische Reisefreiheit im Schengen-Raum die Asylzuständigkeitsregeln aushebelt. Dieses Ziel sollte jedoch verfolgen, wer erreichen will, dass die deutsche Staatsgrenze auch künftig nur auf der Landkarte eine feste schwarze Linie ist.
Update 9. Februar 2016
P.S.: Mit Blick auf einen aktuellen Beitrag unter FAZ.net, der auf diesen Blogpost verweist, der kurze Hinweis auf diejenige Bestimmung, die eine „prozedurale“ Ersatzzuständigkeit der Bundesrepublik begründet, wenn die Überstellung in den nach den „materiellen“ Zuständigkeitskriterien an sich verantwortlichen Mitgliedstaat scheitert. Diese prozedurale Ersatzzuständigkeit folgt nicht aus der materiellen Auffangklausel nach Artikel 3 Absatz 1 oder 2 Dublin III-Verordnung (wie im genannten Artikel unterstellt), sondern ergibt sich aus Artikel 29 Absatz 2 Dublin III-Verordnung. Mittelbar in diesem Sinn übrigens auch ein Urteil des EuGH zur Verantwortung des Aufenthaltsstaats für die Unterbringung und Verpflegung vor einer Überstellung an den an sich zuständigen Staat.
Was wird das denn? Zweifelhafte juristische Argumente – teilweise gegen die eigene Ansicht – anzureissen, um der “Bundesregierung […] genügend juristische Munition [zu] geben, um zumindest den Vorwurf des offensichtlichen Rechtsbruchs abzuwehren”? Soll das das neue Projekt der Rechtswissenschaft werden?
Zumal im Moment die Scholze, Papiere und di Fabios dieser Welt herumlaufen und sogar das Gegenteil behaupten: den mehr oder weniger offenen Rechtsbruch durch das Unterlassen der Grenzschließung.
“Es gibt eine Reihe von Anknüpfungspunkten, mit denen man eine Zurückweisung zu rechtfertigen versuchen könnte, ohne dass man hierzu den supranationalen Anwendungsvorrang des Unionsrechts punktuell oder insgesamt aus den Angeln heben müsste. All dies gilt für die Grenze zu Österreich ebenso wie für Zurückweisungen, die eine „Koalition der Willigen“ schon bald an der slowenisch-kroatischen Grenze beginnen könnte.” – Mit Verlaub, das sehe ich komplett anders. Wieso erwähnt der Autor nicht, dass dann ein Schließungs- und Zurückweisungswettbewerb an den Grenzen zurück bis nach Griechenland droht und eben genau das passieren würde, was das Asylsystem gerade verhindern will: “refugees in orbit”? Unnötig zu erwähnen, dass dies dem Geiste von Dublin – sofern es man ihn denn noch heranziehen will – und menschenrechtlichen Verpflichtungen nahezu evident widerspricht.
Daniel Thym schreibt folgenden Satz (s.u.), meine Frage: Sind für ihn Menschenrechte keine rechtlichen Argumente?
“Angesichts der teils offenen Missachtung des europäischen Asylrechts in vielen Ländern, ist es nachvollziehbar, dass rechtliche Argumente es derzeit schwer haben. Dies gilt umso mehr, als auch die Nichtregierungsorganisationen das Dublin-System über Jahre hinweg diskursiv zu entlegitimieren versuchten, teils unter Berufung auf die Menschenrechte, teils als offene Forderung nach einer politisch motivierten Aussetzung. Dies erklärt, warum derzeit nicht jeder überzeugt ist, wenn man auf Wortlaut und Geist der Dublin-Verordnung verweist. Wer die Rechtsbindung an der Grenze durchsetzen will, muss immer auch darauf hinwirken, dass das Asylsystem insgesamt funktionsfähig bleibt.”
@Pichl: Doch, sind sie. “Berufung auf die Menschenrechte” ist etwas anderes als “Verstoß gegen Menschenrechte”. Ein Regelsystem, das nicht gegen Menschenrechte verstößt, kann deswegen gleichwohl diskursiv endlegitimiert werden.
Papier hat doch dargelegt, dass die “Flüchtlinge” gar keine Flüchtlinge im europarechtlichen und auch nicht im im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sowie auch keine politisch Verfolgten im Sinne des Art. 16a GG sind; bei Einreisenden über die Landgrenzen besteht in den meisten Fällen also gar keine Einschlägigkeit im Sinne dieser Regelungen.
Danke! sehr ausgewogen und auch die nicht eigene Meinung wird dargestellt. Der “gelernte” Politikwissenschaftler fühlt sich, en passant, in seiner Existenz berechtigt. Der “policy-process” wird entscheiden, was da rauskommt. “Zwangseinweisungen” nach z.B. Slowenien sind aber wohl eher praxisfern.
@ Pierre Schmitz: Gerne formuliere ich in zugespitzter Form. Nach meiner festen Überzeugung überträgt Herr Papier die deutsche Drittstaatenregelung (negative Zuständigkeitsabgrenzung) zu Unrecht auf die Dublin-III-Verordnung (positive Zuständigkeitskoordinierung aufgrund einer Überstellung, nach Artikel 7 ff. im absoluten Regelfall aber nicht nach Österreich).
Eine europarechtskonforme Zurückweisung nach Österreich geht nur über Artikel 72 AEUV und/oder Artikel 3 Absatz 3 Dublin-III-Verordnung, der im Übrigen im Lichte des Artikels 72 AEUV primärrechtskonform ausgelegt werden muss (das dogmatische Hauptargument, warum Artikel 72 nicht direkt greift, ist die Existenz von speziellen Bestimmungen, die im Zweifel im Lichte des Vertrags ausgelegt werden müssen).
Hallo Herr Prof. Thym,
ich vestehe nicht, weshalb Art. 20 Abs. 4 der VO 406/2013 (Dublin-III) an der deutsch-österreichischen Grenze keine Rolle spielen sollte:
“Stellt ein Antragsteller bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz, während er sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, obliegt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dem
Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller aufhält. Dieser Mitgliedstaat wird unverzüglich von dem mit dem
Antrag befassten Mitgliedstaat unterrichtet und gilt dann für die Zwecke dieser Verordnung als der Mitgliedstaat, bei dem der
Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde.”
Ich verstehe diese Regelung in Bezug auf die aktuelle Grenzsituation im Ergebnis so: Selbst wenn also ein Flüchtling an der Grenze zu Deutschland einen Asylantrag für Deutschland stellt (während er sich noch in Österreich aufhält, der Grenzübertritt also noch nicht erfolgt ist), gilt Österreich im Ergebnis als der Mitgliedstaat, bei dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Dem Betreffenden kann also von den deutschen Grenzschutzbeamten trotz Asylantragstellung die Einreise nach Deutschland verwehrt werden. Und ich sehe nicht, dass irgend eine Auslegungs- und Interpertationsakrobatik nötig wäre, um zu diesem Ergebnis zu gelangen.
@KurtBehemoth: Sie haben eine etwas zu buchstäbliche Vorstellung von der Grenze. Die Grenzkontrolle findet auf deutschem Territorium statt.
Im Übrigen sind die Grenzbehörden nicht “zuständige Behörden” i.S.v. Art. 20 Abs. 4, vgl. § 14 AsylG. Die Grenzbehörden (wenn eine Kontrolle stattfindet) leiten nur weiter, vgl. § 18 Abs. 1 AsylG.
@ Schorsch: Die Technische Ausgestaltung und Verwaltungspraxis von Grenzsicherungen besagt nichts über den Geltungsgehalt der Norm des Art. 20 Abs. 4. In Calais finden bspw. vorgelagerte britische Grenzkontrollen statt, die keine Zuständigkeit von UK auslösen. Ihr Argument unterliegt einem naturalistischen Fehlschluss.
Hä? SIE argumentieren doch, der Antragsteller befände sich im Zeitpunkt der Antragstellung auf österreichischem Territorium. Nein tut er nicht. Grund: Ausgestaltung der Grenzsicherung.
Außerdem, wie gesagt: An der Grenze wird der Antrag ja nach geltendem Recht gar nicht gestellt.
@ Schorsch: Nope. Die Frage war und ist, kann Deutschland die Einreise von Flüchtlingen aus Österreich an der Grenze verweigern (§ 18 AsylVerfG). Diese Frage wurde verneint mit dem Argument, dass ein Flüchtling an der Grenze einen Asylantrag stellen und dadurch das “Zuständigkeitsfeststellungsverfahren” auslösen kann, für das dann Deutschland zuständig sei. Mit anderen Worten: ein Flüchtling könne durch die Stellung eines Asylantrags an der Grenze (sic! – nicht etwa dahinter) seine Einreise rechtlich erzwingen (das ist also wohl eher Ihre Prämisse, denn meine).
Aus Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO ergibt sich indessen das gerade Gegenteil. Der Schlagbaum unmittelbar an der Grenze darf unten bleiben. Die technische Umsetzung ist keine rechtliche Frage.
Ihr Argument ist dagegen zirkelschlüssig: Weil die Grenzischerung (angeblich) erst auf deutschem Gebiet stattfindet, kann er auch seine Einreise nach Deutschland beanspruchen.
Sie schrieben: “Außerdem, wie gesagt: An der Grenze wird der Antrag ja nach geltendem Recht gar nicht gestellt.”
Dann kann der – fehlende – Antrag auch kein Recht zur Einreise begründen.
Im Übrigen erschließt sich mir nicht, wie ein durchzuführendes “Zuständigkeitsfeststellungsverfahren” ein Recht zu Einreise und Aufenthalt in Deutschland vermitteln soll (noch bevor also die Zuständigkeit für das Asylverfahren überhaupt geklärt, geschwiege denn dieses eröffnet ist).
Ich glaube, langsam erahne ich, worauf Sie hinaus wollen. Es kommt Ihnen gar nicht darauf an, ob die Situation unter Art. 20 Abs. 4 subsumierbar ist (Antrag bei zuständiger Behörde, Aufenthalt in anderem Mitgliedstaat etc.). Sie meinen bloß, die Vorschrift beweise, dass in manchen Fällen allein der Antrag bei einer deutschen Behörde keine Einreiseberechtigung bedeute. Freilich bedeutet sie im Fall von Art. 20 IV bereits, dass die Bundesrepublik schon den zuständigen Mitgliedstaat nicht selbst bestimmen muss.
Denn Art. 20 IV will ja gerade sicherstellen, dass der Aufenthaltsstaat mit dem Staat übereinstimmt, der das Verfahren durchführt. Er ist eine Ausnahmeregelung, die verhindern soll, dass schon ein Brief aus Wien ans BAMF zu einer deutschen Zuständigkeit für das Zuständigkeitsfeststellungsverfahren (und damit zu einer Einreiseerlaubnis nach Deutschland) führen würde.
Art. 20 IV stützt dabei nicht Ihre Vermutung, dass aus der Durchführung des Zuständigkeitsfeststellungsverfahren keine Einreise folgt. Er führt vielmehr schon dazu, dass Österreich dieses (Vor-)Verfahren durchführen müsste.
Sie stellen sich dazu offenbar Behörden vor, die genau auf der Grenzlinie abschließen und durch ein Fenster grenzüberschreitende Anträge (auf Zuruf? Papierflieger?) aus Österreich entgegennehmen, die sie dann aber sofort wieder an Österreich weiterleiten, damit dortige Beamten den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen. Aber, Monsieur! Wieso haben Ihre Behörden Fenster? Wieso verlangen Sie nicht gleich Mauern bis an den Himmel. KEINE Fenster. Und dann ohne Antrag, kein Eintritt. Unter uns (*verschwörerisch nach links und rechts guck*): Den 20 IV, den brauchen Sie doch überhaupt nicht…
@KurtBehemoth et al.
Art. 20 IV der Dublin-Verordnung betrifft die Situation, in dem sich der Schutzsuchende in einem Mitgliedstaat aufhält, möglicherweise aber ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Für diese Klärung dieser Situation gilt der naheliegende Grundsatz, dass für die Prüfung der Dublin-Zuständigkeit derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, in dem sich der Antragsteller tatsächlich aufhält. Demgegenüber enthält Art. 3 I eine spezielle Regelung für die Situation von Asylanträgen „an der Grenze“, wobei dies nicht nur die EU-Außengrenzen meint, sondern auch die Binnengrenzen zweier Mitgliedstaaten, an denen noch oder temporär wieder Grenzkontrollen durchgeführt werden (siehe Grenzkodex-Verordnung). Auf die Frage, auf welchem Hoheitsgebiet die Grenzkontrolle stattfindet, also ob die schutzsuchende Person völkerrechtlich bereits eingereist ist oder nicht, kommt es deshalb m.E. nicht an. Paradoxerweise führt die Einführung von Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen dazu, dass für Asylanträge „an der Grenze“ Art. 3 I einschlägig ist und damit Deutschland für die Durchführung des Dublin-Verfahrens zuständig — was zu einem Einreiseanspruch führt.
@Daniel Thym
Dass Art. 3 III Dublin-Verordnung (mit oder ohne Art. 72 AEUV) etwas für die Abweisung von Schutzsuchenden an der deutsch-österreichischen Grenze hergibt, leuchtet mir überhaupt nicht ein. In der europarechtlichen Terminologie ist österreich niemals ein Drittstaat.
@ Schorsch
@ Bast
Vielen Dank für Ihre Antworten!
@ Schorsch: “Den 20 IV, den brauchen Sie doch überhaupt nicht…” Ja, Sie haben schon recht! Ich sehe die Schwäche meines Arguments. Aber wer braucht Art. 20 IV? Wer stellt schon per Post einen Antrag von Wien aus beim BaMF? “Bitte um Rückantwort an Tiefgarage Salzburg HBF, UG 2, Stellplatz 233 bis 20.4.2016. Hochachtungsvoll!” Auch Art. 20 IV muss doch einen sinnvollen Anwendungsbereich haben! M.E. regelt Art. 20 IV einen Fall von Amtshilfe, wenn sich ein Flüchtling an die unzuständige Behörde eines unzuständigen Staates wendet. Das kann auch ganz nah vor der Grenze vorkommen, im persönlichen Kontakt.
Ich entnehme Art. 20 IV jedenfalls den Rechtsgedanken, dass ein Flüchtling nicht den zuständigen Staat für das Zuständigkeitsfeststellungsverfahren einseitig selbst bestimmen können soll, solange er sich eindeutig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhält. Insoweit besteht auch nicht das beschworene Problem von Flüchtlingen in limbo.
@ Bast: Ich sehe nicht, dass Art. 3 I 1 lex spezialis zu Art. 20 IV ist, weil vielmehr das Zuständigkeitsfeststellungsverfahren speziell ist, was m.E. aus der Sachlogik folgt (die in Art. 3 I S. 1 genannte Prüfung setzt die Zuständigkeitsbestimmung voraus) sowie aus Art. 3 I Satz 2, der Satz 1 spezifiziert, indem er dessen Rechtsfolge an das Ergebnis der Zuständigkeitfeststellung anknüpft, die in Art. 20 speziell geregelt ist.
Ich vermute, dass es sich bei Art. 20 IV um eine “lex UK” handelt, denn UK führt traditionell vorgezogene Grenzkontrollen in Frankreich, Belgien und den NL durch. Aus nachvollziehbaren Gründen (politischer Klugkeit). Und es sollen wohl auch Anträge erfasst werden, die in Botschaften und Konsulaten gestellt werden. Für diese Vermutung sprechen m.E. auch Art. 3 II und 4 V der RL 2013/32/EU. Das aber zeigt, dass ein Mitgliedstaat durch geeignete Vorkehrungen ein “Zuständigwerden” verhindern darf.
Übrigens soll es zwischen Deutschland und Österreich ein Abkommen über vorgezogene Grenzkontrollen geben. Von 1955. Österreich argumentier aber, es sei mit dem Schengenbeitritt 1997 hinfällig geworden. Nach dem Zusammenbruch von Schengen könnte es indes wiederaufgelebt sein.
Dass Deutschland bei Asylantragstellung an der Grenze zu einem anderen EU-Staat das Zuständigkeitsfeststellungsverfahren einleiten müsse, kann aus folgendem Grund nicht richtig sein: Die Dublin-III-VO folgt dem Leitgedanken der “Einzigkeit” der Zuständigkeit, d.h. eine Verfielfachung von Zuständigkeiten für Asylverfahren in der EU soll verhindert werden (Art. 3 I 2). Nur so lassen sich widersprechende Entscheidungen desselben Sachvehaltes oder die Zuerkennung internationalen Schutzes zugleich in mehreren Staaten vermeiden. Das ist gerade für die Zuständigkeit für das Zuständigkeitsfeststellungsverfahren von Relevanz. Wenn ein Asylbewerber in mehreren Mitgliedstaaten Anträge stellt, was sich bei grundsätzlich offenen Binnengrenzen gar nicht vermeiden lässt, könnte er solche Mehrfachzuständigkeiten begründen, wenn jeder Staat gleichermaßen für die Zuständigkeitsfeststellung zuständig wäre.
Um dies zu vermeiden, darf kein Mitgliedstaat die Zuständigkeitsprüfung an sich ziehen, wenn er davon ausgehen muss, dass der Asylsuchende bereits einen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat und jedenfalls dort die Zuständigkeitsprüfung bereits eingeleitet bzw. die Zuständigkeit anderweitig schon festgestellt ist. Bei einer Antragstellung an einer EU-Binnengrenze ist das aber der Fall, da stets von rechtmäßigem Verhalten des Schutzsuchenden sowie Kontrollen der EU Außengrenzen und somit ordnungsgemäßer Antragstellung im Ersteinreisestaat ausgegangen werden kann und es offensichtlich ist, dass ein anderer Mitgliedstaat bereits für die Zuständigkeitsprüfung zuständig sein muss.
Man könnte folglich bei einer Antragstellung an der Binnengrenze auch an Rechtsmissbrauch denken. Die Gefahr, dass nun ein Flüchtling im Niemandsland zwischen Binnengrenzen “stecken bleibt”, besteht nicht, weil im Zweifel der unmittelbare Ausreisestaat, für den nicht offensichtlich ist, dass die Reiseroute des Flüchtlings über einen anderen EU-Staat in sein Hoheitsgebiet führte, für die Zuständigkeitsprüfung zuständig ist.
“Darüber hinaus erlaubt Artikel 3 Absatz 3 der Dublin-III-Verordnung. ausdrücklich, einen Antragsteller „in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen.“ Zwar dürfte es hierbei um eine direkte Rückführung in Länder gehen, die nicht der EU angehören (also etwa von Ungarn …) …“
Heißt das, dass die in § 26 a Abs. 2 Asylgesetz enthaltene Regelung, wonach die Mitgliedsstaaten der EU sichere Drittstaaten sind, gegenstandslos ist?
@Franz: So einfach kann man es auch ausdrücken – oder in den Worten des BVerfG in der Entscheidung zur Drittstaatenregelung im Jahr 1996:
“Diese Regelung [Art. 16a Abs. 2 GG] tritt gegebenenfalls hinter völkerrechtlichen Vereinbarungen im Sinne von Art. 16a Abs. 5 GG zurück. Solche Vereinbarungen sind in Art. 28 bis 38 des [Schengener Übereinkommens] enthalten. Auf der Ebene der Europäischen Union enthält das Dubliner Übereinkommen … vergleichbare Regelungen… Aus dem Asyl-Erfahrungsbericht 1994 des Bundesministeriums des Innern vom 20. Juni 1995 geht hervor, daß die Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 GG seit Inkrafttreten des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) in bezug auf Asylsuchende, die aus Belgien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal oder Spanien kommen, “keine Anwendung mehr” findet. Vielmehr prüft das Bundesamt anhand der Kriterien des Art. 30 SDÜ … im Einzelfall, ob die Zuständigkeit eines anderen Schengen-Staates zur Durchführung des Asylverfahrens gegeben ist. Eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG ergeht erst dann, wenn dieser Staat einer Übernahme des Asylsuchenden zugestimmt hat. Damit wird auch nach Auffassung der dazu in der mündlichen Verhandlung gehörten Vertreterin des UNHCR jeweils sichergestellt, daß der Asylsuchende Zugang zu einem Asylverfahren im Drittstaat erhält” (Rn. 164f.).
Wenn Deutschland anders verfahren wollte, müsste es also eine Ausnahme im Europarecht suchen. Eben hierum dreht sich mein Beitrag.
Tja, nun ist es soweit. Während sich die Herren noch streiten wird schon halb Afrika zu uns eingeladen. Was sagen nur die Bürger dazu! Werden sie gefragt ? So werden die deutschen bald eine Minderheit im eigenen Land sein. Ein Zusammenstoß der Volksgruppen , Religionen, politischen und anderen Konflikten anderer Länder. Die schlagen sich die Köpfe ein!! Eins ist sicher, so kann es nicht weitergehen. Hier wird das deutsche volk vernichtet und damit unsere ganze Kultur.
Gruß