04 November 2020

Der Trumpf wird zur Last

Polens Regierung und Verfassungsgericht nach dem Abtreibungsurteil

In Polen wird gerade sehr deutlich, dass es nicht im politischen Interesse liegt, Gerichte parteipolitisch auszurichten. Seit Jahren beobachtet die Öffentlichkeit entsetzt, wie die Parlamentsmehrheit unter PiS das Ansehen und die Legitimation des Verfassungsgerichts untergräbt. Zunächst, indem sie das Gericht verfassungswidrig besetzte und es, quasi gegen seine Natur, zum Verbündeten der Parlamentsmehrheit machte. Jetzt kommt noch das umstrittene Abtreibungsurteil vom 22. Oktober dazu. Das Kalkül der Regierungspartei scheint jedoch nicht aufgegangen zu sein und die Entscheidung wird für PiS zum politischen Problem. Ignoriert sie das Urteil, wird das „eigene“ Verfassungsgericht geschwächt, setzt sie es um, droht ihr der Machtverlust.

Ein Urteil und seine Folgen

Das Verfassungstribunal hat entschieden, dass eine Abtreibung auch dann verfassungswidrig ist, wenn „eine hohe Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Beeinträchtigung des Fötus oder einer unheilbaren lebensbedrohlichen Krankheit“ besteht“. Nur so werde das Leben des Ungeborenen ausreichend geschützt. Bis dahin war dies neben einer Abtreibung wegen Vergewaltigung oder einer Gefahr für das Leben der Mutter einer der drei Fälle, in denen die Fristenlösung in Polen legal war.

Das Urteil des Verfassungsgerichts rief unerwartet massive Proteste hervor, die nun schon seit fast zwei Wochen andauern. Gleichzeitig steigen die COVID-Infektionszahlen rasant an und ein zweiter Lockdown wird immer wahrscheinlicher. Direkt nach der Urteilsverkündung wandten sich die Demonstranten nur gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts. In der Folge weiteten sich die Proteste jedoch nicht nur auf das ganze Land aus, sondern begannen auch, sich gegen den Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik, Diskriminierung von Frauen und vor allem gegen die PiS-Regierung selbst zu richten.

In der letzten Protestwoche war die Zustimmung für die Regierung so gering wie noch nie, seit PiS an der Macht ist. Juristisch ist es hochspannend, wie das “gleichgeschaltete” Verfassungsgericht, das als „Erfüllungsgehilfe“ der Parlamentsmehrheit dienen sollte, der Regierungspartei gerade in den Rücken fällt. Die fehlende richterliche Unabhängigkeit schadet also nicht nur den einfachen Bürgern, sondern auch denen, die die sogenannte Justizreform in Polen initiiert haben.

Den politischen Prozess umgangen

In den vergangenen Jahren gab es in Polen immer wieder Gesetzesinitiativen zur Verschärfung des Abtreibungsrechts, wie Anna Rakowska-Trela ausgeführt hat. Keiner der Vorschläge wurde letztlich Gesetz. Was dem positiven Gesetzgeber politisch nicht gelungen ist, hat nun der negative Gesetzgeber durchgesetzt. Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle hatten einige Abgeordnete der Regierungspartei und der rechten “Konfederacja” am 19. November 2019 einen Überprüfungsantrag eingereicht. Das Gericht sollte die Verfassungswidrigkeit des Art. 4a Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über Familienplanung, Schutz des menschlichen Fötus und Bedingungen für die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs feststellen, das seit über drei Jahrzehnten gilt. Die Antragsteller dürften sich davon viel versprochen haben: Den rechten Wählern wollte die PiS damit gefallen, um gleichzeitig bei der progressiveren Wählerschaft ihre Hände in Unschuld waschen zu können. Wäre ein Gesetz zur Verschärfung des Abtreibungsrechts verabschiedet worden, hätte sich die PiS rechtfertigen müssen, stattdessen wandte man sich an das „unabhängige“ Verfassungsgericht. Dessen Urteil, so das Kalkül, muss man dann hinnehmen, egal wie es ausfällt. Doch ein Urteil des Verfassungsgerichts hat andere Konsequenzen als die Verabschiedung eines Gesetzes. Das Parlament kann das Urteil im Gegensatz zu einem Gesetz nicht ändern.

Das Urteil wurde also gesprochen. Plötzlich begannen aber massive Proteste dagegen. PiS hat bestimmt nicht damit gerechnet, dass die Demonstrationen der letzten zwei Wochen sie fast zehn Prozentpunkte in den Umfragen kosten würden. Selbst viele PiS-Anhänger sind gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts in der vom Verfassungsgericht servierten Form und bei der Regierungspartei läuten wegen der auf einmal steil fallenden Umfragewerte die Alarmglocken.

Das Urteil wird also zum Problem für die Regierungslager und man zerbricht sich jetzt den Kopf darüber, wie damit umzugehen ist. Auf einmal wird vorgeschlagen, den Richterspruch zu ignorieren. Ein anderer Ansatz bringt Staatspräsident Duda ins Spiel und schlägt ein Gesetz vor, das bestimmte schwere Defekte des Fötus im Abtreibungsgesetz nennen soll, die eine Abtreibung trotz des Urteils zulassen würden. Egal auf welche Lösung sich die PiS verständigt, die Autorität des Verfassungsgerichts wird untergraben.

Ein gordischer Knoten

Die Regierung möchte jetzt einfach so tun, als sei nichts passiert und das Urteil gar nicht oder verspätet veröffentlichen. Das hatte sie schließlich schon 2015 mit dem Urteil über die verfassungswidrige Neubesetzung des Verfassungsgerichts so gemacht. Das Urteil steht nicht im Gesetzesblatt und hat deswegen keine allgemeinbindende Kraft, führte die Regierung damals aus. Aber kann man auch mit dem „eigenem“ Gericht so umgehen? Die Regierung kann das Urteil nicht einfach als „eine Meinung von ein paar Richtern“ abtun, wie sie das nach dem Urteil über die verfassungswidrige Ernennung von fünf statt zwei Richtern getan hat.

Mit einem sogenannten Bereichsurteil (poln. wyrok zakresowy) wäre die Regierung besser gefahren. Dabei stellt das Gericht die Verfassungswidrigkeit nur im Falle einer bestimmten Auslegung der Vorschrift fest. Unglücklicherweise hat das Verfassungsgericht aber keinen Spielraum für eine „verfassungskonforme Auslegung“ gelassen. Am Tag der Urteilsveröffentlichung im Gesetzblatt wird die Vorschrift aus dem Gesetz gestrichen, das heißt, der Fall eines Defekts des Fötus wird einfach nicht mehr existieren. Diese Lücke wieder zu schließen, um dem Willen der Mehrheit der Gesellschaft zu entsprechen, wäre ein juristischer Drahtseilakt und eine Zumutung für das „eigene“ Gericht.

Auf einmal wird der gleichgeschaltete Verfassungsgerichtshof also zur Last für die Regierung und Parlamentsmehrheit. Die Frage, wie sie mit dem Urteil umgehen soll, ist ein gordischer Knoten für die Rechtspopulisten. Sollten sie das Urteil mit einem Gesetz umgehen, würden sie der Unselbstständigkeit des Gerichts quasi Gesetzeskraft verleihen. Das ist zwar bereits mehrmals passiert, es wäre nun aber das erste Mal in einer Rechtssache auf eigenen Antrag. Das wäre gefährlich. Die mühsam errichtete Legende vom Ansehen und der Legitimation des eigenen Verfassungsgerichts würde in sich zusammenbrechen. Die Regierung kann nicht einfach das tun, was ein Breslauer Gericht bereits mit einem anderen Richterspruch des Tribunals getan hat: es für nichtexistierend erklären. Das wäre eine Ohrfeige für das Verfassungsgericht und würde seine Autorität untergraben. Und es ist gerade Autorität, die das PiS-freundliche Verfassungsgericht unbedingt braucht, denn es hat für die Parlamentsmehrheit noch wichtige Aufgaben zu erfüllen. Um nur ein Paar Beispiel zu nennen: Das Gericht soll bald über die Absetzung des Bürgerrechtsbeauftragten Adam Bodnar entscheiden, und es wartet noch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Staatshaftungsvorschriften aus dem Zivilgesetzbuch im Kontext der COVID-Gesetzgebung.

In die eigene Falle getappt

Die wichtigste Aufgabe des gleichgeschalteten Tribunals liegt jedoch darin, sich als Gegengewicht zum EuGH zu inszenieren. Nach dem EuGH-Urteil vom 19. November 2019 (C-585/18, C-624/18 und C-625/18) versucht die PiS um jeden Preis, sich gegen das letzte Wort von Luxemburg zu stellen. Dem Verfassungsgericht hat man hierbei eine wichtige Rolle zugedacht. Nicht ohne Grund haben die polnische Regierung und die Verfassungsgerichts-Präsidentin Przyłębska das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 gefeiert. Im Beschluss vom 21. April 2020 hatte das Gericht – ganz entsprechend seiner Aufgabe – bereits unterstrichen, dass der EuGH nicht das letzte Wort hat, wenn es um die richterliche Unabhängigkeit in Polen geht. Diese neue Position des Verfassungsgerichts weiter auf- und auszubauen, wird schwieriger, wenn die Regierung das Tribunal selbst nicht ernst nimmt und mit dem Abtreibungsurteil herumspielt, um die eigene Beliebtheit zu retten.

PiS ist also in die eigene Falle getappt. Sie kann das Urteil nicht ignorieren, denn damit würde sie zugeben, dass ihr eigenes Gericht nichts bedeutet, sie kann das Urteil nicht einfach so umsetzen, denn der Unmut der Bürger ist zu groß geworden. Die Proteste nach dem Urteil kombiniert mit der allgemein schwierigen Corona-Lage und wachsenden Wut auf die weiteren Einschränkungen, sind das letzte, was die PiS jetzt braucht, denn sie sind mit zu hohen Kosten verbunden, vor allem in den Umfragen. Wie sich die Turbulenzen um das Urteil auf den Streit um die „Justizreform“ auswirken werden, bleibt abzuwarten. Im Kampf mit Luxemburg um die „Justizreform“ jedenfalls schwächelt jetzt auf der Seite der Rechtspopulisten in Polen ein wichtiger Akteur, und es wird ihm schwerer fallen, seine Pläne umzusetzen.


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