24 March 2015

Der Volksbefragung eine Chance geben

Berlin hatte sich so gut vorbereitet. Die olympischen Sportstätten standen schon bereit, die politischen Athleten waren bereits in den Ring gestiegen, um den politischen und medialen Kampf um die Olympia-Bewerbung auszutragen. Sogar eine Volksbefragung war schon per Gesetz vorgesehen worden. Sie wäre die Arena geworden für das politische Ringen – sofern der Berliner Verfassungsgerichtshof sie nicht gleich hätte wieder abreißen lassen. Es ist ein Jammer, dass uns dieses Spektakel entgeht.

Hamburg wird sich um die olympischen Spiele 2024 und 2028 bewerben, Berlin ist raus. Die bereits beschlossene Volksbefragung ist damit wieder vom Tisch.

Nicht vom Tisch ist jedoch ihre verfassungsrechtliche Bewertung. Denn eine solche Befragung kann natürlich auch bei jedem anderen Projekt des Berliner Senats beschlossen werden. Auch in Hamburg ist vor der offiziellen Bewerbung eine Volksbefragung angedacht. In Bayern ist diesen Monat ein Gesetz in Kraft getreten, das Volksbefragungen möglich machen soll – und sogleich vor dem Verfassungsgerichtshof gelandet. Die Verfassungsmäßigkeit solcher unverbindlicher Volksbefragungen ist heiß umstritten.

Warum? Als Bürgerin freue ich mich doch eigentlich, wenn mich meine Regierung nach meiner Meinung fragt. Dass ausgerechnet meine demokratische Verfassung mir da Steine in den Weg legen soll, liegt nicht direkt auf der Hand.

Volksbefragung und Verfassungsrecht

Zunächst einmal sind sogenannte Volksbefragungen in den Landesverfassungen bisher nicht geregelt. Bei der Volksbefragung wird die Bevölkerung offiziell nach ihrer Zustimmung zu einer bestimmten Sachfrage befragt. Ob dies nur für die Wahlberechtigten gelten soll oder auch für Jugendliche und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, ist umstritten. Die Besonderheit der Volksbefragung gegenüber Wahlen und Abstimmungen im herkömmlichen Sinn ist, dass ihr Ergebnis rechtlich nicht bindend ist – politisch dagegen sehr wohl, da ein Handeln gegen den erklärten Willen der Bevölkerung einem „politischen Selbstmord“ gleichkäme, wie Hans Meyer (HU Berlin) es formuliert.

Unverbindliche Abstimmungen, die am Ende doch verbindlich sein sollen – warum dann nicht gleich ein rechtlich bindendes Referendum? Bei vielschichtigen Sachfragen, zu denen regelmäßig neue Erkenntnisse auftauchen können oder in die sich einzuarbeiten die meisten Abstimmungsberechtigten keine Zeit haben würden, könnte ein formeller Volksentscheid zu einem nachteiligen Ergebnis führen. Aber eine Volksbefragung kann trotzdem nützlich sein. Wenn die Regierung die Präferenzen der Bevölkerung offiziell kennt, muss sie ihr Handeln um so sorgfältiger rechtfertigen.

Damit die Volksbefragung Nutzen stiften kann, muss es sie aber erst einmal geben. Sind die Instrumente direkter Demokratie in der Verfassung abschließend geregelt, so dass man nicht einfach beliebig neue erfinden kann? Auf diesen Standpunkt stellt sich zum Beispiel Hans Meyer in seiner Stellungnahme vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. In der Berliner Verfassung zum Beispiel sind zur direkten Mitbestimmung der Bevölkerung Einwohnerinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid sowie die Volksabstimmung vorgesehen. Allein die Tatsache, dass die Verfassung bestimmte direktdemokratische Mittel kennt, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass sie alle anderen Mittel ausschließt. Martin Burgi (LMU München) hat in seiner Stellungnahme an den bayerischen Landtag betont, dass dort die speziell geregelten direktdemokratischen Instrumente alle im Bereich der Gesetzgebung liegen. In diesem Bereich könnten sie eine abschließende Wirkung entfalten, nicht jedoch im Bereich der Exekutive. Volksbefragungen finden aber geplantermaßen genau dort statt, nämlich wenn es um große Infrastruktur- und Prestigeprojekte im Zuständigkeitsbereich der Regierung geht – zum Beispiel Olympia-Bewerbungen, denkbar auch Konzerthäuser, Bahnknotenpunkte oder Großflughäfen.

Volksbefragung als Machtinstrument

Volksbefragungen, auch wenn sie durch einfaches Gesetz eingeführt werden können, sind ein mächtiges politisches Instrument, dessen Wirkungen gut durchdacht sein wollen. Mit ihnen gibt die Regierung zwar einerseits die politische Entscheidungsgewalt aus den eigenen Händen in die der Bürgerinnen und Bürger, verzichtet also zugunsten der direkten Demokratie teilweise auf ihre eigene Macht. Was die Bürgerinnen und Bürger damit tun, kann sie allerdings dennoch steuern, indem sie Thema und Zeitpunkt der Befragung festlegt und die Frage auf eine bestimmte Art und Weise formuliert. Bei den in Bayern und Berlin diskutierten Volksbefragungen soll ausschließlich die Regierung bzw. die sie tragende Mehrheit im Parlament eine Volksbefragung einleiten und die entsprechende Frage formulieren dürfen.

Und hier liegt das eigentliche verfassungspolitische Problem: Hermann Heußner (Osnabrück) spricht in seiner Stellungnahme  an den Bayerischen Landtag von einer „Alles oder nichts-Falle“ der Opposition, die sich pauschal für oder gegen den Regierungsvorschlag stellen müsse, aber selbst keine Kompromissvorschläge oder Alternativen zur Abstimmung stellen könne. Die bisherigen Vorstöße zur Einführung von Volksbefragungen in Bayern und Berlin verstoßen damit gegen den demokratischen Grundgedanken der politischen Chancengleichheit

Es gibt aber durchaus Wege, Alternativen und Kompromissvorschläge möglich zu machen, etwa indem man das Recht zur Frageformulierung auf verschiedene Akteure verteilt. Bei jeder Volksbefragung müssen neben der Regierung bzw. Parlamentsmehrheit auch die Oppositionsfraktionen sowie, wenn vorhanden, mit dem Thema befasste Bürgerinitiativen Fragen formulieren dürfen, die dann zusammen vorgelegt werden.

Das könnte für die Hamburger Olympia-Bewerbung zum Beispiel so aussehen:

Der Senat und die meisten Fraktionen der Bürgerschaft würden, wie in Berlin, fragen:

Soll sich Hamburg um die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 und gegebenenfalls 2028 bewerben?

Die politischen Gegner der Bewerbung, wie die Linksfraktion und die Nolympia-Bürgerinitiative, würden hingegen die Frage vielleicht folgendermaßen formulieren:

Soll sich Hamburg ohne eine gesicherte Kostenkontrolle um die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 und gegebenenfalls 2028 bewerben?

So könnten Regierung, Opposition und Bürgerinitiativen ihre eigenen Schwerpunkte setzen und damit zugleich ein differenziertes Stimmungsbild der Befragten abbilden. Damit die Befragten nicht durch zu viele verschiedene Fragen verwirrt werden, steigt der Anreiz für die verschiedenen Akteure, sich auch im eigenen Interesse auf gemeinsame Fragen zu einigen.

Neben der Formulierung der Frage ist auch der Zeitpunkt sowie die Auswahl der Vorhaben, über die die Bevölkerung befragt werden soll, entscheidend. Strategisch macht es für eine Regierung wenig Sinn, Volksbefragungen zu unbeliebten Vorhaben durchzuführen, die voraussichtlich abgelehnt werden würden. Um die politische Chancengleichheit zu wahren, müsste deshalb auch die Opposition – wie es bei den geplanten Volksbefragungen in Berlin und Bayern gefordert wurde – und im besten Fall auch Bürgerinitiativen das Recht haben, eine Volksbefragung zu initiieren.

Wenn man so sicherstellen kann, dass das Instrument nicht machtpolitisch missbraucht werden kann, sollte man der Volksbefragung als neues Instrument direkter Demokratie eine Chance geben.

Volksbefragung und Demokratie

Immer wieder wird aber auch argumentiert, die Volksbefragung sei eine Gefahr für das vermeintlich gut funktionierende repräsentative System. Die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament würde beeinträchtigt und der Wahlakt entwertet. Derlei Argumente richten sich nicht nur gegen Volksbefragungen, sondern konsequenterweise gegen alle Instrumente direkter Demokratie. Ihnen liegt die Vorstellung einer ideal funktionierenden repräsentativen Demokratie zugrunde. Aber trifft die zu?
Hermann Heußner spricht von „Verantwortungsdiffusion und Verantwortungsauflösung“. Wenn etwas schief ginge, wolle „es keiner gewesen sein“, Parlament und Regierung könnten auf das Volk zeigen und umgekehrt. Der Umgang zum Beispiel mit jüngeren gescheiterten Großprojekten in den Landesparlamenten zeigt aber, dass die parlamentarische Verantwortung auch derzeit nicht zufriedenstellend funktioniert. Neuwahlen nach den Fehlverhalten der Regierung Oettinger bei Stuttgart 21, von Beust bei der Elbphilharmonie oder Wowereit und Platzeck beim BER-Flughafen? Keine. Selbst wenn es sie gegeben hätte, so wären die Baustellen und die Kosten dadurch nicht verschwunden. Wären demgegenüber die Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig befragt worden, wäre es zu derartigen Fehlentscheidungen höchstwahrscheinlich gar nicht erst gekommen.

Josef Franz Lindner (Augsburg), der ebenfalls vor dem Bayerischen Landtag Stellung genommen hat, warnt sogar davor, dass der Wahlakt als solcher entwertet würde. Leider legt die bundesweit seit Jahren sinkende Wahlbeteiligung nahe, dass der Wahlakt auch ohne Volksbefragungen aus Sicht vieler Menschen an Wert verliert – man denke an die letzte Brandenburger Landtagswahl mit ihrer Beteiligung von 47 %. Ein Grund dafür scheint das Gefühl zu sein, durch die Wahl keinen wirklichen Einfluss auf die Entscheidungen nehmen zu können. Eben dieser Einfluss ließe sich wegen der Konkretheit der Frage und wegen der politischen Bindungswirkung bei einer Volksbefragung deutlich leichter erkennen. Indem Volksbefragungen die Abstimmungsberechtigten direkt ansprechen und in die politische Entscheidungsfindung mit einbeziehen, können sie ein verstärktes Interesse an einzelnen politischen Entscheidungen, aber auch insgesamt an Politik wecken. Sie können die Glaubwürdigkeit der Gewählten erhöhen und den Wahlakt dadurch sogar aufwerten.

Volksbefragungen würden laut Lindner zu „kleinen Landtagswahlen zwischendurch“, durch welche die Wahlprogramme „demokratisch überholt“ würden, auf deren Grundlage doch eigentlich gehandelt werden sollte. Hiergegen lässt sich dreierlei einwenden: Zum einen sollte man die Bevölkerung nicht unterschätzen. Sie wird besonnen genug sein, die ihre Entscheidungen bezüglich der einzelnen Fragen der Sache nach und nicht aufgrund des allgemeinen politischen Befindens zu treffen. Zum anderen beinhalten Wahlprogramme viele verschiedene Aspekte, denen die Wähler und Wählerinnen nicht unbedingt allen gleichermaßen zustimmen. Die Wählerinnen und Wähler der die Regierung tragenden Mehrheit im Parlament haben diese vielleicht aus einem ganz anderen Grund gewählt, als demjenigen, über den zusätzlich abgestimmt werden soll. Es handelt sich bei der Volksbefragung daher nicht um eine erneute Entscheidung über das bereits demokratisch legitimierte Wahlprogramm, sondern einfach um eine differenzierte Betrachtung desselben. Und schließlich, drittens, betreffen Volksbefragungen auch Themen, die im Wahlprogramm gar nicht enthalten waren, weil sie erst nach der Wahl auf die Agenda gesetzt wurden – zum Beispiel in Berlin die Olympia-Bewerbung. Sie würden nicht „demokratisch überholt“, sondern überhaupt erst demokratisch legitimiert..

In Zeiten einer 80%-Koalition im Bundestag, einer Satirepartei im Europaparlament, in Zeiten von AfD und Pegida und von brennenden Straßen in Frankfurt ist es notwendig, über mehr Bürgerbeteiligung zu sprechen. Es geht um nicht weniger als die Frage, wie wir eine Demokratie erhalten und gestalten wollen. Die Volksbefragung in einer chancengleichen Ausgestaltung ist eine neue Möglichkeit der Mitbestimmung und sollte als solche ernst genommen werden. Sie kann Bürgerbeteiligung auch in den Bereichen ermöglichen, in denen keine Volksentscheide oder Referenden stattfinden würden, weil die Sachverhalte zu vielschichtig sind oder ihre Tatsachengrundlagen sich schnell ändern könnten. Die Volksbefragung erzeugt einen großen politischen Druck, ihrem Ergebnis entsprechend zu handeln. Dennoch ist es wegen der rechtlichen Unverbindlichkeit theoretisch möglich, dass die Regierung sich trotz dieses Drucks dagegen entscheidet. Deshalb ist ein echter Volksentscheid, wenn er zu dem jeweiligen Thema möglich ist, vorzugswürdig. Die Volksbefragung als das schwächere Instrument sollte lediglich dort zum Einsatz kommen, wo es der Volksentscheid nicht kann.

Wäre zur Olympia-Bewerbung also statt einer Volksbefragung auch eine verbindliche Abstimmung möglich? Sicher sind an eine erfolgreiche Kandidatur vielfältige Folgen geknüpft, zum Beispiel in Bezug auf Infrastruktur und Sicherheitsvorkehrungen. Ein komplexes Thema also. Allerdings weiß darüber zum Zeitpunkt der Bewerbung auch die Regierung nicht viel mehr als die Bevölkerung. Auf Basis der bis dahin vorliegenden Planungen und Kostenhochrechnungen sowie der Erfahrungen der bisherigen Austragungsorte ist der Bevölkerung eine sinnvolle Entscheidung durchaus zuzutrauen – auch eine verbindliche. Eine nicht rechtlich, aber doch politisch bindende Volksbefragung wäre aber auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung.


One Comment

  1. Christian Schmidt Thu 26 Mar 2015 at 18:28 - Reply

    “Bei vielschichtigen Sachfragen, zu denen regelmäßig neue Erkenntnisse auftauchen können oder in die sich einzuarbeiten die meisten Abstimmungsberechtigten keine Zeit haben würden, könnte ein formeller Volksentscheid zu einem nachteiligen Ergebnis führen.”

    Genau deshalb ist die Schweiz ja auch so ein katastrophales Land und wird die andauernden Volksabstimmungen sicherlich bald aufgeben. (Was fuer ein Bloedsinnn!)

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